Als sie los gingen, schlugen die Turmuhren der Stadt Mittag.
Zielsicher, ohne viele Worte zu machen, steuerten sie die Uffizien an. Lysander als Mensch, in Jeans, Polo und Kapuzenjacke, neben der hochbeinigen Walküre, die über ihrer Bluse eine ockerfarbene Steppjacke trug und ihre Jeans in dunkelblaue, flache Halbstiefel gesteckt hatte.
So sahen sie wie durch und durch gewöhnliche Leute aus, als sie über die geschäftige Via dei Calzaiuoli die Piazza della Signoria erreichten, sie kreuzten, sich an der Loggia della Lanzi vorbei schoben und ruckzuck am Eingang der Uffizien standen.
Nun im Winter waren weder die Straßen voll, noch drängelten sich die im Frühling und Sommer üblichen Menschenmengen am Eingang.
Damiano schwirrte unsichtbar als Schutzengel um sie herum.
Lysander gab es zu denken, dass der offenbar nicht viel Arbeit hatte. Er bemerkte keinen der sonst üblichen Anschläge auf Luisas Leben. Diese Überlegungen wollte er mit Luisa teilen, während sie am Kartenverkaufsschalter standen, aber er sah sie nur verbissen in der Bibel blättern, einzelne Randbemerkungen lesend, immer noch auf der Suche nach etwas, das sich wie der Eingangsspruch für die Höllenpforte anhörte. Dabei hielt sie die Stirn gerunzelt und den Mund verkniffen.
Und dennoch fand er sie elysisch.
„Lysander?“ Das war Damiano, zischelnd, der um sie unsichtbar herumschwirrte und ihn aus romantischen Betrachtungen riss.
„Was?“
„Ich kann mich doch wohl jetzt wieder materialisieren. Wir sind doch da.“
Natürlich sind wir da, dachte er, aber hier im Museum kann ihr immer noch ein schwer gerahmter Botticelli auf den Kopf fallen.
„Es ist ja nicht passiert“, drängelte Damiano weiter, „lasse mich wieder ein Mensch sein.“
Von der kleinen Reisegruppe Niederländer wurden sie näher an den Tresen geschoben. Ly überlegte und kam zu einem Entschluss.
„Von mir aus. Aber erst wenn wir bezahlt haben.“
„Wegen des Kartenpreises“, empörte sich Damiano, „Also...“
„Nein, verdammt. Weil hier verteufelt viele Leute sind. Wenn wir erst einmal drin sind, findet sich schon noch eine Nische, in der du unauffällig auftauchen kannst.“
Darauf erhielt er keine Antwort. Damiano schwirrte weiter still und beleidigt, während sie bezahlten und am Ende die Treppen hinauf latschten auf die erste Etage, ohne unterwegs auch nur ein einziges Gemälde betrachtet zu haben.
„Wo ist Damiano“, Luisa blieb plötzlich stehen, weil sie seine fehlende Präsenz fühlte.
„Keine Ahnung. Moment, da kommt er.“
Tatsächlich menschlich, jung und frisch und mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen. „Ich hatte den Aufzug ganz für mich allein.“
„Es war trotzdem eine eigenmächtige Entscheidung“, brummte Lysander und schob die Zwei in die Richtung des Vasarikorridors.
Der Korridor, der in den Uffizien seinen Anfang nahm, von dort aus nach zwei rechtwinkligen Abzweigungen über die Ponte Vecchio auf die andere Seite des Arno und und schließlich entweder im Palazzo Pitti oder in den dazugehörigen Boboli-Gärten endet, war für Besucher versperrt.
Aber auch nicht bewacht, sodass sie sich unauffällig umsehend durch die Tür pfuschen konnten.
Sofort legte sich eine Decke der Stille über sie.
„Und nun?“; Damiano kratze sich am Kopf.
„Ich weiß es nicht“, Lysander klang ungeduldig, „Hier muss irgendwo die Tür sein, die in die Hölle führt.“
„Ich sehe nur Gemälde.“
Richtig. Links und rechts des breiten Ganges, der ursprünglich dazu gedient hatte, die Herrscherfamilie Medici sicher vom Regierungsgebäude in den Palazzi Pitt zu bringen, schienen die Bilder aufgehängt worden zu sein, für die man in den Uffizien keinen Platz mehr gefunden hatte.
Riesige Ölgemälde in gigantischen Goldrahmen, Schnörkel überall.
Ihre Schritte hallten auf dem dunklen Parkettfußboden und auf ihrem Weg suchten sie jede Wand nach einer Tür ab.
Mittlerweile befanden sie sich schon nicht mehr in den Uffzien, aber auch noch nicht auf der anderen Seite des Arnos.
„Vielleicht“, meldete sich Luisa, noch immer in dem Buch suchend, zu Wort, „sollten wir nach einem Gemälde gucken, auf dem eine Tür abgebildet ist.
„Gute Idee.“ Sofort fokussierten sie sich auf die Bilder.
„Das ist zum Mäusemelken“ meckerte Damiano nach einer Weile, „hier gibt es keine Bilder mit Türen.
„Während du das sagst, stehst du vor einer gewöhnlichen Tür.“
Damiano blinzelte Lysander an. „Was?“
Mit einer sachten Geste wies Ly auf eine Tür, die in der selben hellen Farbe der Wand gestrichen war. Luisa schwang herum und griff nach der Klinke. Leicht öffnete sie die Türe. Zu dritt stierten sie auf eine Bohnermaschiene, diverse Eimer und Putzlappen.
„Das wäre auch zu einfach gewesen.“ Lysander wollte wieder weiter, doch Luisa hielt ihn zurück. „Warte, da hinten scheint noch eine Tür zu sein.“
Lysander spähte hinein, aber Luisa war schon drin, stiefelte an der Maschiene vorbei, stieß einen Eimer um und verlor die Geduld. Fahrig wedelte sie die umstürzenden Schrubber und Besen zur Seite, die wie Mikadostäbchen in Lys und Damianos Weg liegenblieben. Sie umständlich übersteigend kamen die beiden endlich bei der Tür an.
„Wir werden sie kaum öffnen können“, Luisa hielt die Bibel hoch, „den Spruch habe ich noch nicht gefunden.“
„Wenn sie es denn ist.“ Skeptischen Gesichts drückte Lysander die Klinke nieder.
Ein grünes Licht strahlte hinaus. Verblüfft sahen sie sich an. „Das gibts doch nicht“, Luisa zog die Tür weiter auf, „das gibt es doch gar nicht.“
Ehrfurchtsvoll stierten sie in das Innere, denn es tat sich ein lichter Raum auf. Eine gigantische Kulisse, gleich einer Berghöhle am Meer, denn darin war nur Wasser. Wie Meereswasser, das rauschte und in kleinen Wellen über ihre Füße strich.
Damiano beguckte seine Vans. „Scheiße, sie sind nass.“
„Wir werden gleich ganz andere Sorgen haben. Siehst du das Boot“, er zuckte mit dem Kinn zu der kleinen Barke, die rechts herumdümpelte.
„Du willst doch nicht ernsthaft...“Damiano wurde blass, aber Luisa war schon dabei durch das knöchelhohe Wasser auf die Barke zuzustampfem. Sie zog das Boot an einem dicken Tau zu den beiden hin.
„Es muss noch eine Tür geben“, konstatierte sie mit ernster Miene, derweil die beiden anderen in das Bötchen kletterten, „das hier ist erst der Anfang.“
Ohne ein Wort griff Lysander nach dem Ruder und ohne sichtbare Anstrengung jagte die Barke dahin.
Das Wasser schoß zischend am Rumpf entlang, aber auf seiner Stirn bildete sich nicht eine Schweißperle. Seine Augen, die kurz zu Luisa huschten, fanden einen Hauch Anerkennung in ihrem sonst so angespannten Antlitz, der ihn mit einem leisen Stolz erfüllte.
Nur Damiano krallte sich ängstlich an die Seitenwände des Bootes, so als begriffe er endlich, dass das hier kein Spaß war.
Es wurde heller. Ein gigantischer Himmelsbogen tat sich über ihnen auf und der Blonde schickte einen sehnsüchtigen Blick zurück, wo längst nicht mehr die Tür war, durch die sie getreten waren.
„Da!“ Luisa streckte die Hand aus. Lysander, der kurz mit dem Rudern innehielt, folgte ihr.
Eine smaragdene Küste tat sich auf. Geseufz und Weinen hier, und dumpfes Heulen ertönten leise durch den sternenlosen Luftkreis.
Er räusperte sich, atmete tief ein und legte noch einmal einen Zahn zu. Sie glitten durch eine unirdisch flimmernde Transparenz je näher sie der Küste kamen. Das Boot durchrann die silbrig überschäumte Bläue, bis sie rumpelnd über den Sand der turmalingrünen Küste schleiften.
Sonderbar fand es Lysander, dass das Land hier die Farbe von Luisas Augen hatte. Aber er sagte nichts. Sah zu, wie sie sich greizt durch ihr wildes Haar fuhr, und über die Bordwand schwang, um das Boot hoch auf den trockenen Sand zu ziehen.
„Geht s noch bequemer? Würden die Herren bitte ihre vornehmen Ärsche aus dem Boot schaffen?“
„Natürlich, Verzeihung.“ Lysander stupste Damiano auffordernd an. Eingeschüchtert, von seiner Aufsässigkeit war keine Spur mehr, kam er der Aufforderung nach.
Gemeinsam zogen sie am Tau, bis das Boot ganz auf dem Trockenen lag. Dann wischte sich Luisa die Hände an den Hosen ab und stampfte durch das Ufergrün, den Blick starr geradeaus. Aber in dem grünen Nebel gab es absolut nichts zu erkennen. Und auch die Echos tausendfachen Leides waren verklungen.
Anfangs schwang nichts durch die Stille als langer stummer Atemgesang. Vorsichtig bewegten sie sich in dem Nebel vorwärts. Damiano griff furchtsam nach Lysanders Hand. Der widerstand dem Drang, sie abzuschütteln, behielt aber die Augen auf der Walküre, die vor ihnen dahin schritt, als früchtete sie weder Hölle noch Verdammnis.
Der Nebel wurde stetig durchscheinender und als Luisa so plötzlich stehen blieb, dass er bald auf sie aufgelaufen wäre, standen sie vor einer Treppe. Sie blickten sich an.
Zögerten.
Bis Lysander als erster hinaufschritt. Sie betraten über die Treppe einen türlosen Raum, von einem gleißenden Licht überpurpurt. In der Mitte stehend glotzten sie auf eine neue Tür und lasen ehrfürchtig die Aufschrift, die geschrieben war in dunkler Farbe auf dem Gipfel des Tors.
Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer
Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze
„Na, das sind ja blendende Aussichten.“ Lysander streckte die Hand aus, um den Intarsien nachzufühlen. Schnitzereien von sich vor Qual windenden Figuren, deren Körper Verrenkungen ausführten, die physiologisch ganz unmöglich waren.
„Ich will da nicht rein“, winselte Damiano.
Lysander schnaubte. „So ist das Heiße und das Kühne in Dir abgestorben“, er nahm den Jungen am Kragen, "Hier", zischte er, "musst du jedes Zweifels dich entschlagen. Und jede Feigheit hier ertötet werden."
„Die Tür hat keine Klinke“, stellte Luisa, in einer Hand das Buch, fest.
„Dafür wirst du den Spruch brauchen.“
Ein Rascheln neben ihnen, und sie schwangen herum. Auf dem Boden, zunächst nur ein Häuflein Stoffe, lag ein Bündel Mensch, das sich langsam in eine sitzende Position aufrappelte. Im grellen Lichtschein war es schwerlich auszumachen, ob das ein Mann war. „Kein Spruch“, krächzte er mit uralter Stimme, „eine Uhrzeit.“
„Uhrzeit?“ Ly warf einen Blick auf seine Armbanduhr, nur um festzustellen, dass sie nicht mehr funktionierte. Aus dem Kleiderberg erhob sich die Gestalt nun endgültig. Bleich, das schöne Haar über herrlichen, doch ausgebluteten Zügen, als wäre das belebende Licht zurückgewiesen von den uralten Augen. Der Mann strich sich seinen roten Mantel glatt und rückte die Gugel auf seinem Haupt zurecht. „Eine Uhrzeit“, beharrte er, „und ich sehe, die Signora hat das Büchlein dabei, in dem die Uhrzeit vermerkt ist.“
„Eine Uhrzeit“, schnappte sie, „Das wird leicht zu finden sein.“ Sofort blätterte sie in den alten brüchigen Seiten.
„Und Ihr seid?“, fragte Lysander mit fester Stimme, bemüht das zitternde Wesen Damiano an seiner Seite zu ignorieren.
„Vergil“, er deutete eine Verneigung an, „Ich hatte bereits das Vergnügen den großen Dichter Dante Alighieri durch die Gefilden der Qualen zu führen“, er zog die Nase hoch und rieb sich die müden Augen, „aber seither ist niemand mehr gekommen.“
„Tut mir leid“, meinte Ly gleichgültig, „es ist ja auch nicht üblich.“
„Nein, in Reiseprospekten steht die Tour nicht“, Vergil reichte Ly seine uralte runzlige Hand, „aber ich werde euer Begleiter sein.“
„Unser Reiseführer“, Ly lächelte.
„Ich habs‘ “, schrie Luisa und strahlte sie triumphierend an, „hier steht es. Um 15:30 Uhr.“
Der alte römische Dichter warf einen raschen Blick auf die Sanduhr neben seinem Lager. „In einer Stunde also“, er wies mit freundlicher Geste auf den Berg Decken auf einem Strohsack, der sein Lager war, „So nehmt Platz, so wir uns die Zeit gemächlich vertreiben können.“
Umständlich und als letzter sank auch Damiano nieder. „Was, äh, was ist das hinter der Tür? Ist das schon die Hölle?“ Seine Stimme bebte, ein zurückgedrängtes Weinen schwang darin mit.
Lysander griff nach Luisas Hand. Sie ließ ihn gewähren und schenkte ihm einen liebevollen Aufschlag aus lang bewimperten Augen.
„„Nun, schon“, krähte der alte Kerl, während er eine Weinamphore entkorkte und sie herumgehen ließ, „aber zunächst einmal nur die Vorhölle. Ein Ort für die lauen Seelen, die weder gut noch böse waren. Sie laufen da von Ungeziefer geplagt in Scharen herum“, mit der Hand beschrieb er einen wirbelförmigen Bogen in der Luft, „Also fürchte dich nicht, mein Junge. Von ihnen droht keine Gefahr.“
Luisa, vornüber geneigt, nahm den alten Knacker scharf ins Visier. „Sie wissen,warum wir hier sind?“
„Aber ja. Ihr wollt zwei Männer befreien.“
„Und Ihr führt uns dennoch?
Der Mann zuckte die Achseln, dabei knackten die Knochen. „Ich bin eine solch laue Seele und auserwählt euch zu leiten. Welch Unbill mein Herr über euch bringen wird, interessiert mich nicht. Ich werde nicht weichen, und doch nicht helfen. Es ist mir verboten.“
„Unbill“, winselte Damiano.
„Nimm noch einen Schluck Wein“, befahl Lysander ihm, ehe er Vergil ansprach, „Wisst ihr, wo wir die Männer finden?“
„Wer ist es denn?“
Ly sah Luisa an, die weder Furcht noch Schrecken zeigte. Von ihr ging eine unruhige Energie aus, als würde sie am liebsten sofort drauf los laufen. Aber die klinkenlose Pforte blieb versperrt. „Robert Hauteville“, sagte sie in einemTonfall, der in Ly eine vage Eifersucht aufsteigen ließ, „und Guillaume le Batard.“
Vergil riss die Brauen hoch. „Na, das wird aber interessant werden.“
„Geht das weniger kryptisch“, Lysander rieb sich die Nase, „Habt Ihr eine Ahnung, wo wir sie finden?“
„Aber ja, lasse mich überlegen. Auf den Terrassen des Läuterungsberges gewiss, wenn aber nicht dieser Robert in Pech badet.“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ach, wir werden sie schon finden. Doch macht euch bereit. Denn ein Spaß wird es nicht werden.“
Er schickte einen Blick auf den grünlich angelaufenen Damiano: „Und mit einem Nachen werden wir nochmals fahren müssen.“
Eine Weile verging im Schweigen. Dann, als das letzte Sandkorn hinabgefallen war, kam Vergil unter knackenden Schmerzen auf die Beine. „Dann lasset uns eintreten.“