Als sie auf der Erde ankamen, wusste Lysander sofort, dass etwas schief gegangen war. Statt vor seiner Wohnung, standen sie auf einer ausgefahrenen Landstraße und stierten auf die roten Dächer von Florenz, zwischen denen sich die gewaltige rote Kuppel des Domes erhob.
Es war stockfinster. Die Lichter der Stadt blinkten wie kleine Leuchtkäfer in der Ferne. Mit zusammengezogenen Brauen drehte er sich zu Luisa um.
Die zuckte ratlos die Achseln.
„Also normal ist das nicht“, sie drehte sich zu Isa um, die ihr Schwalbenkörpchen wärmte, indem sie die dünnen Arme um sich schlang.
„Was seht ihr mich an?“,trillerte sie aufgebracht, „Ich habe nichts damit zu tun. Ich weiß ja nicht einmal, wie euer komisches Bifröst funktioniert.“
Luisa schnaubte. „Egal“, entschied sie und marschierte am Bankett entlang, „es ist nur eine kleine Verzögerung. Wir brauchen was, um in den Himmel zu kommen?“
Ly setzte zum Gehen an und holte schnell auf. „Seraphim. Normalerweise kann ich sie herbeirufen. Doch sie reagieren nicht. Dass der Weltenlenker so versucht, unsere Reise zu verhindern oder aufzuhalten ist sonnenklar, aber dass uns die Regenbogenbrücke an falscher Stelle aus spuckt...“
„Hat mit Loki zu tun“, keifte Luisa und stiefelte ungebremst weiter.
Dabei schickte sie einen zornigen Blick auf Isa, die sie mit Loki verbündet wähnte, und die den vorwurfsvollen Augenaufschlag deutlich sah.
Der Mond schien so hell, als wäre es Tag. Beleidigt rannte Isa mit Trippelschritten voraus, überholte Ly und Luisa und stellte sich vor der Walküre in Position.
„Ich habe nichts damit zu“, zwitscherte sie schrill, „Hört auf, mich zu behandeln, als wäre ich eine Aussätzige.“
„Du hast dich mit ihm eingelassen“, schnappte Luisa und stemmte die Fäuste in die Hüften.
„Du hast selbst gesagt, dass er nicht ausschließlich böse ist.“
„Aber das zu durchschauen, mein mageres Engelchen, bedarf einer gewissen Kenntnis. Wer Loki nicht kennt, fällt auf ihn herein. Besonders ein so naives...“
Fauchend stürzte Isa auf sie zu. Luisa schrie überrascht auf, als sich die gespreizten Finger Isas in ihr dichtes Haar krallten. Sie drehten sich im Kreis. Kreischend und fauchend wüteten die beiden aufeinander ein. Ly fand keine Stelle zum Eingreifen. „Hört auf!“, er erwischte Isas Schulter, „Isa!“ Und zog sie weg.
Schwer atmend standen sich die Kontrahentinnen gegenüber.
„Lasst es“, ächzte Ly, „es bringt überhaupt nichts, wenn wir uns gegenseitig misstrauen.“
„Wenn du meinst.“ Isa richtete ihr Haar und Luisa lächelte nur noch kühl wie ein Wintermorgen, aber plötzlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck.
„Was?“ Ly lauschte konzentriert und hörte einen Wagen, der sich langsam die gewundene Straße zwischen Schirmpinien und Säulenzypressen hinunter schraubte. Als er näher kam, hielten sie alle verwundert den Atem an.
Ein Taxi?
Tatsächlich und gleich eine Limousine. Es zuckelte gemächlich die Straße entlang, und als hätten sie es bestellt, blieb es auf ihrer Höhe stehen.
Die Seitenscheibe war unten, der Ellenbogen des Fahrers hing lässig hinaus. Er grinste schräg. „Nach Florenz nehme ich an?“
„So schnell wie möglich“, Ly riss schon die hintere Tür auf und gebot Isa mit sachtem Heben der schmalen Brauen auf der anderen Seite einzusteigen.
„Moment!“ Luisas gebieterische Stimme ließ sie innehalten.
„Wieso?“ Ly ging wachsam einen Schritt vom Auto weg.
„Das ist Loki.“ Sie zerrte die Fahrertür auf.
Der Fahrer schien ungerührt und pustete sich eine schwarze Haarlocke aus der Stirn. „Aber ja, meine Liebe. Ich bin es. Aber es ist nicht alles ein Trick, was von mir kommt. Steigt ein. Im Heck wartet jemand, der dringend mit euch reden muss.“
Sie zögerte. Und das Zögern sprang kurz auf die anderen über. Dann löste sie sich abrupt vom Boden, nahm Ly das Türblatt aus der Hand und schwang hinein. Ly kletterte hinter Isa auf die breite Bank und hob verwundert die Brauen, als er erkannte, wer ihm gegenüber saß. „Luce. Warum überrascht mich das nicht?“
Verlegen lächelnd, mit übereinander geschlagenen, in einer Anzugshose steckenden Beinen, hielt der ihnen einen gigantischen Pappbecher mit Popcorn entgegen. „Willst du auch?“
„Nein“, er schlug ihm den Becher aus den Händen und ein Regen Popcorn ergoss sich über sie alle, „Ich will nicht! Sag mit auf der Stelle, was hier los ist. Was ist das hier?“, erregt fuchtelte er mit schmaler Hand zur Scheibe, die sie vom Fahrer trennte, „Gehst du eine Allianz mit Loki ein? Wozu? Wo du doch angeblich in Verhandlungen mit dem Weltenlenker stehst, damit wir diesen Wilhelm nicht aus dem Himmel gen Walhalla führen.“
„Bitte errege dich nicht“, Luce sprach ausgesucht höflich, zupfte sich das Popcorn vom feinen Zwirn, „Es ist nicht so, wie es aussieht.“
„Nicht?“
„Nein, ich...“, Luce schnitt eine Grimasse, „wie soll ich sagen.“
„Es heißt, der Weltenlenker will Wilhelm in die Hölle stecken, damit wir ihn nicht finden.“
„Äh, ja, das ist richtig.“
„Was hat er dir dafür versprochen?“
Luce klaubte sich das Popcorn vom Sitz und schob es sich in den Mund.
„Luce! Was?“ Lys Augen huschten zu Luisa, die sich einige Popcornstücke aus dem Haar zupfte und sie aß. Ihr Gesicht nahm einen verzückten Ausdruck an. Allein Isas blinzelte ängstlich. Das Auto rauschte in den spätabendlichen Stadtverkehr. Ly warf einen Blick aus dem Fenster. Es regnete jetzt. Es war finster und nass. In den Pfützen spiegelten sich die zuckenden Lichter der Stadt.
Luce zog seinen Mund schief und lächelte. „Der Weltenlenker ist nicht gut auf dich zu sprechen. Er spricht ganz offen von Verrat. Mag der Verdacht auch Irrwitz sein. Irrwitzige denken eben so. Nein, Irrwitzige denken nicht. Sie toben los. Und ja, er tobt“, er schickte einen verzeihungsheischenden Blick auf Isa, die Tochter des Mannes, über den er eben her zog. „Er vergilbte sich vor Wut. Versprach mir ein paar Annehmlichkeiten in der Hölle, wenn ich ihm hülfe. Einige schlechte Menschen, die er zu mir hinab schickt. Aber das ist nicht, was ich will.“
„Wenn ich mich recht entsinne, klagtest du darüber, dass niemand mehr kommt, der wirklich böse ist.“ Lys Augen funkelten hell.
„Schon, aber wenn ich ehrlich bin, finde ich, die Hölle gehört abgeschafft.“
„Und dabei soll er dir helfen?“ Ironisch zuckte Ly mit dem Daumen zu Loki, der sie zielsicher durch die Stadt lenkte.
Dicke Regentropfen zerplatzten auf der Windschutzscheibe.
Seine Augen huschten zu Luce zurück und er fühlt eine verborgene Liebe zu diesem einen gefallenen Engel. Der einzige, der dachte wie er und nur den Fehler vollbracht hatte, es auszusprechen. Vor seinen Augen verwandelte Luce sich vom Zerstörer zurück in den Schöpfer. Von seinem Feueraltar, dem inneren, strahlte er auf sie alle ein wie ein Gestirn. Er wusste nicht, ob er dem trauen durfte. Doch es verlangte ihm danach. Sie waren einst Freunde gewesen. Geliebte.
„Nein, er ist nur...“, Luce hob die Schultern, „Loki tut es leid, dass er mit diesem Deal so ein Chaos angerichtet hat und will es wieder wettmachen. Dass er mir dabei nicht helfen kann, die Hölle abzuschaffen, ist gewiss.“
„Und wer kann dir helfen, mein Lieber?“
„Das weißt du genau.“
„Warum sollte er das tun?“ Lysanders Stimme troff vor vorgetäuschter Ablehnung. Er war längst erweicht.
„Wer denn?“, mischte sich Luisa interessiert in das Gespräch ein, „Wer, wenn nicht der Weltenlenker könnte die Hölle abschaffen?“
Sie versuchte, in den Mienen der Männer zu lesen, aber es war Isa, die ihr einen Hinweis gab. Die erschrak nämlich und hielt sich die Hand vor den Knospenmund.
Begreifen schlich sich in Luisas sommersprossige Züge. „Moment. Ich vergaß eure Bürokratie da oben. Der Weltenlenker ist nicht der Boss.“
„Nun, er ist Lysanders Boss“, Luce lächelte treuherzig, „aber ja. es gibt noch zwei Instanzen darüber.“
„Zwei?“
„Gott und....“, keuchte Isa, „Lysanders Vater.“
„Aber der hat doch den Deal mit Loki eingefädelt“, Luisa wischte wie mit einem Scheibenwischer vor Isas Augen herum, „Deshalb ist Wilhelm doch im Himmel statt in Walhalla. Schon vergessen.“
Lysander kaute nachdenklich auf der Unterlippe und schob sich die kastanienfarbenen Locken aus der Stirn. „Schon“, meinte er dann, „Aber das ist tausend Jahre her. Wir müssen ihn fragen, was seine Beweggründe damals waren. Vielleicht sind die jetzt hinfällig und er lässt mit sich reden.“
„Tut mir leid“, versuchte Luce sich zerknirscht. Seine blauen Augen strahlten die Worte Lügen.
„Leid?“, fragte Luisa verwundert.
„Er redet nicht so gerne mit seinem Vater.“
„Verstehe ich nicht. Der war supernett“, sie linste aus dem Fenster. Der Wagen stand vor ihrem Mietshaus in der Via Camillo Cavour. Der Motor erstarb und Loki stieg aus. Hoch aufgeschossen, schlank und wieselflink öffnete er die Tür wie ein Chauffeur. Ein Eindruck, der von seinem offenen langen Ledermantel widerlegt wurde. Seine grauen Augen leuchteten lebhaft. „Wenn wir nach oben gehen, erzähle ich euch, warum er das damals tat.“
„Ausgerechnet du weißt um die Beweggründe meines Vaters?“ Lysanders musterte den anderen wachsam.
Loki legte den Kopf schief. „Es ist ja so, dass er damals zu mir kam. Nicht umgekehrt.“
Lysander sank resigniert in das Lederpolster zurück. Geheimnisvolle Kräfte lösten sich von Loki und schmolzen zu ihm herüber. Etwas, das ihn nachgiebig machte. Ohne sagen zu können, warum glaubte er ihm.
Denn es war um Liebe gegangen.
Damals, vor fast tausend Jahren.
Und wenn es um Liebe ging, war sein Vater die Nachsicht in Person.
„Meinetwegen“, entschied er dann und kletterte aus dem Wagen, „Vergraben wir Rivalitäten und verletzte Gefühle. Wir gehen alle hoch, hören uns die Geschichte an und entscheiden dann, was zu tun ist.“
Als er auf die Straße trat, purzelte ein Schwall Popcorn von ihm hinab.