Sie hatten während des restlichen Tages genug Arbeit, um nicht an Lucifer denken zu müssen. Ihn anzusehen hatte in Lysander eine Reihe verdrängter Gefühle aufkommen lassen, die nach und nach verblassten. Sie halfen ihr, den Baum zum Müllplatz zu fahren, luden ihn dort aus und gaben vor, sich von ihr nach Hause bringen zu lassen. Kaum war sie weg, machten sie sich unsichtbar. Den ganzen Tag schwirrten sie entmaterialisiert um sie herum. Es dauerte eine Weile, bis es Lysander auffiel. Auch, weil er mit den Gedanken häufig bei Luce hängen blieb. Bei dessen Augen und dem spitzbübischen Lachen. Erinnerungen stiegen auf. An den heißen Schmerz der Enttäuschung, der ihm durch die Glieder gefahren war, als er ihn gesehen, und begriffen hatte, dass er nur gekommen war, um ihn zu verletzen. Mit seiner schieren Anwesenheit. Die Genugtuung hatte ihn gekitzelt, als er bemerkt hatte, wie Luce vergeblich versuchte, bei der jungen Frau zu landen. Die große Irritation in Luces Augen, weil ihm normalerweise jede und jeder verfiel. Aber als er die Gedanken zur Seite schob, weil Damiano wie eine Motte auf Koks um ihn und Luisa herum flatterte, sah er es.
Damiano war im Recht. Sie zog Missgeschicke und Unfälle magisch auf sich. Die verrücktesten Dinge passierten auf dem kurzen Stück von der Via Cavour, die Via Roma entlang, bis zur Piazza della Reppublica. Ein Blumentopf stürzte aus dem Obergeschoss eines Hauses, an dem sie vorbeikamen. Damiano schubste eine Japanerin gegen Luisa. Die Frauen schrien spitz auf. Luisa schimpfte gestenreich und mit jedem Schritt verfinsterte sich ihre Miene. Was nicht besser wurde, als sie vor dem Cafe Gilli in die Reste eines Vanilletartletts latschte, das Bein hob und versuchte, die Pampe abzuschütteln. Dabei rempelte sie gegen einen Luftballonverkäufer, der erschreckt aufschrie und die geballte Ladung Ballons fahren ließ. Lysander zischte, als er den Carabiniere der Reiterstaffel in gemächlichem Schritt näher kommen sah. Die Ballons trieben auf das Pferd-Reiter-Duo zu. Luisa marschierte, ihren Arztkoffer in der Hand, mosernd weiter und sah das Pferd nicht. Der schlanke Hals des Hengstes schwang hin und her. Zweifellos fürchtete sich das Tier vor den Ballons. Der Uniformierte redete beruhigend auf das Pferd ein. Es stieg auf, Luisa direkt unter den Hufen.
Verdammter Mist!
Rechts stand ein kleiner Wagen der städtischen Müllabfuhr, vor dem die Müllfrau im orangenen Anzug, eine Verdi-Hymne flötend, energetisch mit dem Besen Staub aufwirbelte. In letzter Sekunde setzte Lysander den Wagen in Bewegung. Die Karre rumpelte gegen Luisa. Sie sprang auf Seite, schimpfte mit erhobener Faust, aber wurde wenigstens nicht von den Hufen zermalmt.
So ging es den lieben langen Tag weiter. Ganz unglücklich darüber war Lysander nicht. So blieb ihm keine Zeit, an Luce zudenken. So dachte er. Aber dem schien das zu missfallen, denn er drängte sich überall auf. In der Galeria dei Lanzi bewegte er das steinerne Antlitz einer Statue und zwinkerte ihm zu. Wenn Signora Luisa Saliestri nicht seiner vollen Aufmerksamkeit bedürfte, hätte er der Statue einen Tritt verpasst. Aber so kam er erst am späten Abend zur Ruhe. Wieder materialiesiert aß er mit Damiano zu Abend. Etwas, das keinerlei physischen Notwendigkeit unterlag, aber da sie nun mal in Florenz waren und das Essen hier großartig, wollte er es wenigstens genießen. Aus dem zum Hotel Il Guelfo Bianco gehörenden Bistro hatten sie sich Pasta mit weißem Trüffel mitgenommen. Die leeren Teller auf dem Tisch, öffnete er die zweite Flasche Wein.
„Du hast es gesehen“, klagte Damiano, der Augenringe bald bis zu den Knien hatte, „das ist nicht normal.“
Lysander nickte bedächtig und goss das Glas des Jünglings voll. „Jaaa“, sagte er gedehnt, „etwas stimmt da nicht.“
Damiano riss die Augen auf. „Wie meinst Du das? Denkst Du nicht, dass sie einfach nur ungeschickt ist?“
Vage schüttelte er den Kopf. Dabei betrachtete er die blassen Deckenfresken. Auf einer Galerie standen Menschen beiderlei Geschlechts in Renaissancegewändern und sahen mitleidig auf sie hinab. In der Gruppe hinter den vier Damen....bewegte sich da nicht etwas? Waren das gemalte Geländer und die Antlitze nicht mit diesen Flechten bewachsen, die er.....?
Abrupt wandte er den Blick ab und schwang sich auf den Stuhl. „Ich bin nicht sicher, Damiano. Mir kommt das mysteriös vor.“
Mit dem Finger zeichnete er versunken die Kränze auf der Glasplatte nach, die von Weinpfützen gemalt waren. Als er aufschaute, bemerkte er die Tränen in Damianos Augen. „Was denn?“, fragte er sachte, „Habe ich etwas Falsches getan?“
Ausgeschlossen war das nicht. Er war kein geübter Lehrmeister und zeichnete sich nicht eben durch Geduld aus.
Damiano schüttelte den Kopf. Dabei flog sein langes Ponyhaar. „Nein, ich...ich bin so erleichtert. Alle dort oben dachten, ich wäre faul. Ein Nichtsnutz, der die Arbeit scheut.“
„Du bist erleichtert, die Zustimmung zu bekommen, dass sie ein besonders schwerer Fall ist.“
Damiano rieb sich die Augen und nickte. „Ja, und wenn Du mit dem Weltenlenker redest? Ich meine, die ist jemand für einen erfahrenen Schutzengel. Vielleicht...“
„Nein“, Lysander fuhr ihm dazwischen, „Ich gebe zu, dass sie schlimm ist. Aber das muss einen Grund haben.“
Damiano zog die Nase hoch. „Du meinst, sie ist verflucht?“
„Unsinn“, er wedelte das mit schlanker Hand weg, „das mit den Flüchen sind Ammenmärchen.“ Er trank sein Glas leer und stand auf. „Ich komme schon noch dahinter“, murmelte er, während er den Tisch abräumte und die Spülmaschine ein, „aber jetzt gehen wir erst mal schlafen.“
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Das Licht grellt seine Augen rot. In einer geschlossenen Gruppe armseliger, zerlumpter Gestalten schleppt er sich durch die öde Salzwüste.
Durst! Er leidet unendlichen Durst! Wie kann er ein so menschliches Gefühl empfinden? Einen Schritt vor den anderen. Die Augen zu Boden. Abgerissene Kleiderfetzen auf Kopf und Schultern hängend, gegen die unerträgliche Hitze. Sie trotten im flimmernden nichts der Unendlichkeit entgegen. Kein Wort. Kein Trost. Kein Wasser. Auch nicht, als sie Zombies gleich, die Berge erreichen. Kein Bach, kein See, nichts, das den quälenden Durst zu stillen vermag. Nur die stacheligen Flechten. Die kargen Felsen der Einöde sind bewachsen mit diesen knubbeligen Flechten, die Feuchtigkeit speichern. Ohne zu wissen, ob sie giftig sind, rupfen die ersten das dunkelgrüne Gewächs vom Stein. Pressen es auf, zerbeißen es, saugen gierig auf, was die Pflanze bietet. Unter der Geißel des Lichts reißen sie Dornen auf, denn alles ist, besser als das eigene Blut zu trinken.
„Dornen“ höhnt Luces Stimme in seinem Kopf, „als das einzig Lebendige! Das gibt der Heilandskrone einen neuen Sinn!“
„Sei still, denkt er, Luce, sei still! Wie konnte ich vergessen, wer du bist? Wie konnte ich vergessen, dass die Hölle dein Heim ist, und glauben, Du seist der Liebe fähig?“
Lasciate Esperanza.....
Lasciate speranza.....
Lysander sperrte die Augen auf. Stierte auf die Freskenantlitze. Deren Münder bewegten sich synchron, und sangen hämisch. Lasse jede Hoffnung fahren.
Lasciate speranza.
Über das Geländer der gezeichneten Galerie winden sich die Flechten. Alles dort oben schien mit ihnen bewachsen zu sein. Er blinzelte und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Als er das nächste Mal hochschaute, blieben die Fresken still und das Gewächs war fort.
Fahrig griff er nach der Flasche mit Wasser auf seinem Nachtschrank und leerte sie gierig. Das Maß seines Schreckens war kaum zu ermessen, denn das war kein Traum. Es war eine Erinnerung. Daran, wohin ihn seine Liebe zu Luce geführt hatte. Weil er versucht hatte, ihm zu zeigen, dass es einen Grund gibt, die Menschen zu lieben, hatte Luce ihn zu denen geführt, die im ersten Kreuzzug gen Heiliges Land strebten. Lysanders erste Erfahrung als Mensch. Unbeschreibliches Grauen.
Obwohl seither Jahrhunderte vergangen waren, quälten ihn die Bilder und Gefühle jener Zeit in regelmäßigen Abständen. Das neuerliche Treffen mit Luce dürften sie ausgelöst haben. Er schwang aus dem Bett, schleppte sich ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Als das Wasser rauschte, schaufelte er es sich schwallweise ins Gesicht. Sein Puls normalisierte sich. An sich war ein erhöhter Puls nicht besorgniserregend.
Wenn es physisch brenzlig wurde, würde er sich dematerialisieren. Im Gegensatz zu damals, wo Luce ihm diese Fähigkeit geraubt und ihn in die Hölle der Wüste vor Antiochia geschickt hatte.
Er.
Luce.
Lucifer.
Die Hölle, hatte Luce gesagt, gab es auf Erden. Und sie sei von Menschenhand geschaffen. Er hatte ihn verhöhnt, weil er mit den Menschen fühlte. Und ihn wahrhaftig mit ihnen fühlen lassen. Und das nur, wegen dieses Streits.
„Verfluchte Scheiße“, murmelte er, „konzentrier dich.“
Mit einem Blick in den Spiegel brachte er sein dunkel schimmerndes Haar in Ordnung. Er fasste es im Nacken zusammen und band es mit einer Lederschnur fest, die er vom Glasregal oberhalb des Waschbeckens genommen hatte. Ein paar Minuten später, auf dem runtergeklappten Klodeckel hockend, versuchte er, sich an die Gedanken zu erinnern, die er sich vor dem Einschlafen über Luisa gemacht hatte. Er hatte über ihre Ungeschicklichkeit gegrübelt. Und darüber nachgedacht, dass Luce immer da war. Ihn aus jedem Schaufenster heraus angrinste. Gar die Gesichtszüge unbeteiligter Passanten annahm, nur um ihm einen wissenden Seitenblick zu schenken. Ja, er hatte zuerst angenommen, dessen Anwesenheit wäre nichts als Gehässigkeit und hatte ausschließlich mit ihm, Lysander, zu tun. Dass das ziemlich egozentrisch war, räumte er jetzt ein. Er musste ohnehin aufpassen, dem Hochmut nicht ständig anheimzufallen. Immerhin war er eine der sieben Todsünden, die einem Engel schlecht zu Gesichte stand. Denn was, wenn er irrte? Was, wenn Luce etwas von Luisa wollte?
Ein Blick auf die Zahnputzuhr neben dem Becher mit den zwei Bürsten zeigte ihm an, dass es mitten in der Nacht war. Damiano dürfte selig schlafen und sein Fehlen nicht mitbekommen, wenn er jetzt ging. Er traf eine Entscheidung. Er würde mit jemandem sprechen.
Oben, im Himmelsoktogon