Es half alles nichts, Lysander würde mit seinem Vater reden müssen.
Der war der Einzige, der die Bestrebungen des Weltenlenkers, Wilhelm in die Hölle zu verfrachten, abwenden konnte.
Aber dazu musste er hoch.
Er konnte sich Schöneres vorstellen, als mit einem Trupp fragwürdiger Gestalten, bestehend aus einer Walküre und einem Gott eines anderen Glaubens, Lucifer und einem verlotterten Engel nebst verschüchtertem Geliebten im Himmelsoktogon anzutanzen. Gereizt verzog er den Mund und schraubte sich vom Sofa. Dabei fiel sein scharfer Blick auf Isa. Wie konnte er das zarte Engelchen Isa vergessen, das versuchte, lieblich zu lächeln und mit den Augendeckeln zu klappern?
Unaufrichtigkeit war ihre zweite Haut. Ihr plötzliches Auftauchen war ihm von Anfang an nicht geheuer gewesen.
Wortlos schritt er zur Tür
„Wo willst du hin?“ , fragte Luisa neugierig.
„Nach was sieht das denn aus?“, sofort bedauerte er seinen schroffen Ton, „Wir brauchen Seraphim, wenn wir hoch wollen. Normalerweise rufe ich sie“, er breitete entschuldigend beide Hände aus, „aber das hat der Weltenlenker wohl blockiert“, er schickte seine Augen eisig zu Isa, „Wir brauchen Reliefe von ihnen. Dann kann ich sie selbst herbeiholen.“
„Die Kapelle von San Marco“, Lucifer blickte gequält drein. Nur zu genau erinnerte er sich an die Schmerzen, die sie ihm dort zugefügt hatten.
„Ganz genau“, Ly legte die Hände aufs Gesicht, „dann mal los.“
Schweigend stiefelten sie die hölzernen Stufen hinunter und traten nacheinander in die grelle Wintersonne. Der Morgen war jung, die Via Cavour nicht sehr belebt.
Umso merkwürdiger erschien ihm der große Kombi, der schräg vor dem McDonalds stand und den Fußgängerüberweg blockierte. Es störte ihn nicht so sehr, dass er da mit laufendem Motor stand, als dass die Heckklappe des Wagens geöffnet war. Als ein breitgesichtiger Mann mit Glatze einen Koffer im Heck verstaute, schwand sein Misstrauen. Wahrscheinlich wollte der in die Ferien fahren. Er setzte seinen Weg fort, was auch die anderen zum Weitermarsch bewegte.
„Warte“, Loki hielt ihn an der Schulter zurück.
„Was denn?“
„Ich habe ein ungutes Gefühl. Lasse uns lieber hier die Straßenseite wechseln.“
„Aber warum denn“, Isa hopste vergnügt weiter, „das ist doch nur ein Auto.“
Sie kamen näher an das Auto heran.
Lysander hörte ein eigenartiges Zischen. Gleichzeitig wurde die Tür des Wagens aufgerissen und ein großer Nebel schoss auf sie zu. Die Gestalt des Nebels veränderte sich fortwährend, formte eine Monsterfratze und Krallenhände, die nach ihnen greifen wollten. Die grauen Hände krallten ins Leere, stürzten sich dann aber mit einer unbeschreiblichen Wildheit ausgerechnet auf Luisa, bekamen sie zu packen und zerrten sie ins Auto.
„Nein!“ Lysander riss an der Tür, aber sie war versperrt. Im Augenwinkel sah er Loki in das offen stehende Heck klettern, aber etwas drängte ihn wieder hinaus, sodass er fluchend auf den Knien hinter dem Wagen saß und sich schmerzverzerrt die Augen rieb.
„Bei allen Asen!“, kreischte es dumpf im Wageninneren, „Lasst mich raus!“
Der Wagen setzte sich in Bewegung.
Eine tiefe Verzweiflung überwältigte Lysander, die sich in abgrundtiefen Hass wandelte, als seine dunklen Augen zu Isa wanderten, die an die alte Hauswand gepresst da stand und ihn kühl musterte. Es waren nur eine Sekunde oder zwei, dann rannte er wie die anderen hinter dem dunklen Kombi her, der zuerst schlingerte, aber dann sicher in der Spur aus ihrem Gesichtsfeld verschwand.
Es war ja aussichtslos.
Keuchend brachen sie die Verfolgung zu Fuß ab.
Was konnten sie schon tun?
„Isa!“, brüllte er zornerfüllt und stürzte auf sie zu, „Warum hast du das getan?“, er griff sie am Ausschnitt ihrer Jacke und schüttelte sie, „Warum?“ Seine Augen füllten sich mit Tränen der Wut. Doch sie blieb ausdruckslos. Ihre Augen, das erkannte er jetzt, waren ohne Dämmerung. Sie erneuerten ihr Herz nicht in der Liebe, nur um die Gier kreisten ihre Sehnsüchte.
„Eifersucht“, mutmaßte Loki, „Glaub mir, ich hatte keine Ahnung.“
Gehetzt sah er den Gott an. „Und jetzt?“ Er stieß Isa von sich, die strauchelte, aber einen Sturz abfing. Noch immer sagte sie kein Wort, machte aber ein Gesicht wie ein gerupfter Vogel.
Loki klopfte seine Lederjacke ab, fand die Zigaretten, und zog ein Stäbchen heraus.
Es wippte im Mundwinkel, als er beteuerte, keine Ahnung gehabt zu haben. „Immerhin ist das euer Himmelszauber, der sie entführt hat.“
Zerrissen vor Angst und Sorge stierte Lysander vornübergebeugt, mit den Händen auf den Oberschenkeln abgestützt, auf die Straße, an deren Ende sich auf der Piazza das Kloster San Marco abzeichnete. Von dem Kombi war nichts mehr zu sehen.
Ein Linienbus kam auf sie zu.
Als er näherkam, erkannte er dahinter einen dunklen Kombi.
Als er vorbei gefahren war, müde dreinblickende Gesichter, die aus dem Fenster schielten.
Aber dahinter ein dunkler Kombi.
Lysander richtete sich auf, sein Gesicht eine einzige Frage.
Der Wagen bremste hart ab, die Tür wurde aufgestoßen und heraus purzelte eine zerknautschte graue Gestalt, die winselnd auf einen Gulli zukroch, sich entmaterialisierte und zwischen den Gittern verschwand.
„Ach Gottchen“, grinste Luce dem Nebel hinterher, „Da hat der Weltenlenker einer meiner niederen Dämonen aus der Hölle geklaut.“
Lokis Augenbrauen schossen amüsiert in die Höhe, die Kippe warf er in den Gulli, aus dem ein später Schrei ertönte. Doch für all das hatte Lysander kein Auge. Sie klebten beide fasziniert auf Luisas zerzauster, wutschnaubender Gestalt, die aus dem Auto gesprungen war und auf den Gulli eintrat.
„So eine verfluchte Scheiße! Was denkt der sich dabei?!“
Er umfasste sie von hinten, versuchte, ihrer Wut Einhalt zu gebieten, und drückte sie fest an sich. Sein Herz weitete sich von der Weichheit ihrer Haut und dem rauchigen Honigduft ihres Haars. Ihre Muskeln entspannten sich, sie gab nach., schlang ihre Arme um seinen Hals, vergrub ihr Antlitz an seiner Brust.
Isa versuchte, sich aus dem Staub zu machen. „Nicht doch“, Loki verstellte ihr den Weg, „Warum so abschiedsblass? Du bleibst schön bei uns, mein Vögelchen.“