Wie waren sie hier her gekommen?
Als sie zur Erde, nach Florenz zurückgekehrt waren, graute der Morgen. In den Stunden im Himmeloktogon war seine Zuneigung zu Luisa, der Walküre, gewachsen. Ihr fröhliches Lachen beim Essen mit seinen Eltern, ihr unbändiger Appetit.
Hunger, konstatierte er für sich, Lebenshunger.
So war es ihm schwergefallen, sich von ihr zu lösen, um in seiner eigenen Wohnung nachzusehen, wie es den anderen ging. Allen voran Damiano, der seiner Aufgabe als Luisas Schutzengel womöglich noch nicht wieder nachgehen konnte. Insgeheim begrüßte Lysander das. Hatte er so einen Grund, um bei ihr zu bleiben. Als ob sie nicht auf sich selbst achtgeben könnte, wachte er neben ihr, während sie da lag und schlief. Der Schlafenden strich er mit zartem Finger um den sonst so mürrischen Mund. Sein ganzes Wesen genoss, pflanzenstill in der Dämmerung, ihren inneren Brunnen der Lebendigkeit und fragte sich, ob es wahrlich nur Zuneigung war, die er empfand. Geliebt hatte er, aber doch nur die sterblichen Gestalten. Sah man von seinen fehlgeleiteten Gefühlen zu Lucifer damals ab. Aber alles, was er geschätzt hatte, war irgendwann davongegangen und jeder, den er geliebt hatte, eines Tages gestorben. Etwas unwiderruflich Bestehendes gab es für ihn nie und nirgends . Die Erkenntnis, mit ihr als ewig Lebende eines fremden Götterreiches eine, wenn nicht gleich, so doch ähnlich Geschaffene an seiner Seite zu haben, erfüllte ihn mit einer Glückseligkeit, über die er einschlief.
Und dann erwachte er von ihrem Schrei.
Sofort war er hellwach, raste dem Ruf nach, wo er sie zu Boden gegangen vorfand. Im Augenwinkel erhaschte er einen Fliehenden, aber zuerst drängte es ihn, nach ihr zu sehen. Mit Schwung war er bei ihr, glitt bei ihr zu Boden. „Luisa“, wisperte er ängstlich, weil sie sich nicht rührte. Unglaublich, aber sie schmiege ihre Wange in die lange Sichel seiner Hand und murmelte etwas, das er nicht verstand. Aber in der nächsten Sekunde war sie zurück, wo immer sie gewesen war. Blinzelte einmal und sprang auf die Füße.
„Er hat das Buch!“, rief sie, als sie die Treppen hinunter raste. Lysander schüttelte sich und eilte ihr nach.
Auf der breiten Via Cavour waren nicht viele Menschen unterwegs. Allmählich nur floss die Morgensonne in den Tag hinein und in deren Strahl, voraus, jagte die Walküre eine zerlumpte Gestalt, die schiefbeinig davon raste. Lysander setzte zum Sprint an. Bald war er mit ihr gleichauf. „Das wird wieder“, keuchte er, „so ein armer Sünder sein. Lucifer wird ihn hochgeschickt haben.“
Sie flitzten die Via Roma entlang, schräg über die Piazza della Reppubilca, vorbei an dem antiken Kinderkarussel.
„Ich weiß!“ Sie sprinteten wie zwei Olympiateilnehmer. Die wackelnde Figur vorneweg. Dann plötzlich, schlüpfte eben die durch einen Spalt in den Palazzo Davanzati und schlug die schwere Eichenholztür hinter sich zu. Luisa, zuerst vergeblich versucht, die Tür aufzuziehen, fing an, wie eine Furie auf sie einzutreten, aber sie gab nicht nach.
„Lasse es“, sachte griff er nach ihrem Arm, aber sie schüttelte ihn ab. Trat weiter. In das dumpfe Geräusch schrie sie: „Du Arsch! Elende Kreatur! Gib mir das Buch zurück!“