Die silbrig glänzende Halle Odins, in deren Mitte goldgefaßt der vielsehende Brunnen Nimir protzte, war erfüllt von lieblichem Klavierspiel, als sie eintraten.
Lysander folgte den umherfliegenden Tönen mit den Augen und fand Frigg, Odins Gemahlin, an einen perlmutternen Flügel. Sie lächelte, ihre Finger huschten flink und emsig über die Tasten, doch plötzlich, als hätte sie es mir ihrem Spiel herbei gelockt, begann ein eigenartiges Geflimmer und Gefunkel. Ein Licht erhellte den gewölbten Raum, das vom Brunnen ausging und ihn hell erstrahlen ließ.
Von Odin grob dorthin gezerrt stierte Lysander in das nasse Etwas darinnen. Erst flimmerte es blau, dann leuchtete es gelb, und dann, plötzlich, zugleich mit einem deutlich hörbaren Summton, flammte es in den kleinen inneren Wellen rot, bis sich ein Loch auftat,
„Was hat das zu bedeuten?“, Lysander zuckte mit den Fingern dort hinein, und sah Odin fragend an.
Der kratzte sich an den Stoppeln seines Dreitagebartes. „Ich nehme an, ihr wollt zu ihr“, brummte er und meinte Luisa, „sie befindet sich in vergangener Zeit auf einem Schiff.“
„Schiff?“
„Schiff. Ein Ding, mit dem man übers Wasser reisen kann“, Odin klang ungehalten, als spräche er mit einem Kleinkind, „sie allein weiß, wo, wann und mit wem. Und nur du und dein Kumpel da“, sein Kinn wies auf Luce, „können sie vielleicht zurückholen. Weil es euer vermaledeiter Himmelszauber ist.“
„Und die anderen?“, Luce war es, der Lysander, der schon mit einem Bein in dem Wasserloch stand, zurückhielt, „die anderen Entführten? Könnt Ihr sie nicht sehen?“
„Natürlich kann er das“, Frigg kam zwitschernd herbei und sortierte die Flechten auf ihrer Brust, „aber die anderen sind uns nicht so wichtig, wie Luisa. Ihr muss zuerst geholfen werden.“
Lysanders Augen huschten zu Odin, der sich verlegen die Hemdärmel sortierte. Augenscheinlich fiel es ihm nicht leicht, zuzugeben, für eine Person besondere Gefühle zu hegen, sei es auch väterliche.
„Ihr holt sie zurück. Sie allein kann euch helfen, die anderen zu retten.“
Luce lächelte einnehmend. „Dann mal los.“
Und sie tauchten hinab in die Unendlichkeit des Nichts.
Bis sie in einem Sturm ankamen.
Lysander klammerte sich an ein Treibholz, während ihn die tosende See in die Höhe schleuderte, um ihn anschließend tief in die pechschwarzen Täler zwischen den Wogen zu stürzen. Als er fester zurgiff, weil ihn eine weitere Welle erfasste, zischte er vor Schmerz. Scharfe Splitter bohrten sich in seine blutenden Hände.
„Luce!“, schrie er hoffnungslos über das Tosen hinweg.
„Hier!“, direkt neben kämpfte selbiger mit einem anderen Stück Holz in den Wellen. Luce’s Augen waren geschwollen von der salzigen Gischt.
„Wir müssen zusammen.....“, Ly schluckte Salzwasser und hustete wie von Sinnen. Noch einmal wurden sie von der See in die Höhe gehoben. Wieder zerrissen Blitze den Himmel. Donner grollte.
Aber mit einem Male beruhigte sich die See, der Wind ließ nach, und auch der Vorhang aus strömendem Regen zerfetzte sich.
Vor ihnen materialisierte sich eine alte Galeere.
Ein wunderschönes Schiff, aus Eichenholz gebaut, mit vierzig Ruderplätzen auf jeder Seite. In der durch den schwarzen Himmel brechenden Sonne schimmerte der Rumpf golden und sah wie eine Verheißung, ja wie eine Rettung aus. Im schwankenden Wasser an das Stück Holz gekrallt, versuchte Lysander, sich bemerkbar zu machen.
Und ja, da stand eine Frau.
Eine Frau in einer einfachen Tunika, die den Großteil ihrer langen kraftvollen Beine kaum bedeckte. Ihre Füße staken in Sandalen, mit Riemen, die zu ihren Waden reichten, ihr langes rotgoldenes Haar wallte bis zu ihrer Taille, als sie an Bord heftig gestikulierte. Gestalten wuselten hin und her, ließen ein Rettungsboot zu Wasser, das stracks auf sie beide zusteuerte.
Prustend kletterten sie hinein. Ein bärtiger Kerl mit wettergegerbtem Gesicht, nur in einen Chiton gekleidet, der einen nackten, narbenübersäten Oberkörper unbedeckt ließ, steuerte sie wortlos zur Galeere. Über eine Strickleiter kraxelten sie an Deck, und das erste, das Lysander sah, waren Luisas Füße. Dann ihre Hand, die ihm half, aufzustehen. Als sie ihn umarmte, wisperte sie ihm ins Ohr: „Keine allzu große Sentimentalitäten. Sie haben mich vorübergehend als ihre Anführerin akzeptiert. Zu großes Gesülze würde den Respekt schmälern, den sie vor mir haben.“
Er nickte, obwohl er sich nach einer Möglichkeit umsah, seine Erleichterung, sie zu sehen, ihren weichen Körper umfasst zu haben, Ausdruck zu verleihen. Aber er riss sich zusammen.
„Luce“, sie grüßte seinen Begleiter mit einem Nicken, wandte sich dann um und rief einen Befehl: „Bringt Wasser und Decken für unsere Gäste.“
Einige Kerle in Chitons, teils ungepflegt, teils mit gestutzten Bärten, rannten los. Wenig später standen Lysander und Luce in eine Decke gehüllt, in einer Hand einen Becher Wasser, am Bug der Galeere neben Luisa, die auf einem aufgerollten Tau hockte.
„Ich bin froh, dass ihr da seid, Jungs. So wird es schneller gehen.“
„Schneller?“ Luce runzelte die Stirn.
„Das hier ist Odysseus Schiff. Wir sind mitten in der Odyssee“, sie hob eine Schulter, „einer der Schlaueren hier erklärte, ich könnte erst heim, wenn die Odyssee vorbei wäre.“
„Das sind zwanzig Jahre!“ , rief Lysander entrüstet.
„Zwanzig Jahre?“ Luce sah verwirrt aus, „Ich verstehe nicht viel von den mediterranen Gebräuchen, aber wenn das hier das Mittelmeer ist, kann dieser Ort hier unmöglich so weit von Ithaka weg sein, dass dessen König zwanzig Jahren zur Heimkehr braucht.“
"Doch, Luce", Luisas grüngoldene Augen funkelten zornig, "Es sind Männer, das heißt, sie würden nie nach dem Weg fragen."
"Soll das heißen, ein Haufen muskelbepackter Kerle, die in Troya bis zum Irrsinn gekämpft haben, ist nicht in de Lage, einen simplen Seeweg zurückzulegen, für den man höchstens eine Woche braucht?" , redetet sich Luce in Rage.
„Deswegen heißt ja jede Art von Irrfahrt bis heute Odysee“, mokierte Ly, der nach einer Verkürzung des Zeitraumes suchte.
„Du lieber Himmel“, Luce glitt an der Reling zu Boden und blieb mit aufgestellten Knie, Decke um die Schulter, Becher in der Hand, dort sitzen. Sein Blondhaar fiel ihm verklebt vom Salzwasser in die Stirn.
„Wo sind wir denn hier?“ Ly, der eine vage Idee hatte, blickte sich suchend um. Das nun ruhige Meer glitzerte in der untergehenden Sonne, die den Himmel nun für sich alleine in Anspruch nahm. Eine leichte Brise wehte nur noch über das Deck. Er ließ den Blick über das Deck schweifen. Auf der Backbordseite standen zwei Männer in Rüstungen mit Schwertern und diskutierten verbissen. Der Ältere, der einen spitz zulaufenden Bart trug starrte mit unverhohlener Verzweiflung den Berg hoch, in dessen Brandung sie dümpelten.
Der Berg.
Lysanders Gedanken wanderten zurück zu dem Tag, an dem er die Ileas gelesen hatte. Eine ungute Ahnung umkam ihn. Aber er weigerte sich, vom Schlimmsten auszugehen, vielmehr kramte er in seiner klebrig getrockneten Hose und zauberte sein Handy hervor, an dem er einige Knöpfe drückte und über das Display wischte. Gott sei dank ließen sie die Himmelsprodukte nicht in Asien fertigen. Es funktionierte noch.
„Was tust du?“, Luisa stellte sich neben ihn und schaute ihm über die Schulter. Dabei legte sich ihr Haar auf ihn wie ein Vorhang.
„Wir könnten die Odyssee verkürzen. Mit dem integrierten Navi. Google Maps und so. Penelope wird sich freuen, wenn sie ihren Rumtreiber vorher sieht.“
„Ein Navi?“ Auch Luce sprang auf und gesellte sich zu ihnen.
„Alles schön und gut“, Luisa schwang herum und warf die Arme in die Luft, „Aber das nützt ja nichts! Odysseus ist ja nicht da!“
Lysander guckte sich suchend um, sah aber nur einen gabelbärtigen Kerl aufs Achterdeck hochsteigen. Der blickte genauso trostlos drein, wie alle anderen Besatzungsmitglieder. „Wo ist er denn?“
„Na da!“, schrie Luisa und fuchtelte zum Gipfel des baumbewachsenen Berges, „Da oben bei dieser behirnten Circe! Das passiert, wenn Männer nur mit dem Schwanz denken!“
„Beruhige dich!“ Lysander umfasste ihre Unterarme und sah in ihre zornglimmenden Augen, „Hast du jemanden hoch geschickt? Einen Kameraden, der mit ihm redet?“
„Natürlich!“ Sie stampfte mit dem Fuß so fest auf, dass eine Ladeluke aufsprang.
„Und?“ Aber er ahnte es. Er ahnte es wirklich.
„Was und? Sie kamen als Schweine zurück! Dieses Miststück Circe hat sie in Schweine verwandelt!“ Erregt fuchtelte sie zum Mittelschiff, auf dem sich ein Pferch ausmachte, in dem drei traurig dreinblickende Schweine im Heu lagen und standen.
„Okay“, Lysander kratzte sich am Kinn und schob seine kastanienfarbenen Locken hinter die Ohren, „Wir brauchen einen Plan.“
Einen Moment schwiegen sie, bis Luce dreckig grinste. „Ich habe da eine Idee.“