Der neue Tag ließ sich für Lysander großartig an.
Nahezu wie in einem Traum erwachte er in Luisas Bett, streckte seine Hand nach ihr aus, nur um sicherzugehen, nicht geträumt zu haben.
Sie stöhnte leicht im Schlaf und drückte sich an seine Schulter.
Er strich ihr staunend übers Haar und über ihren gewölbten Rücken und schickte Zweifel und Ängste, man würde ihm das Zusammensein mit ihr verbieten, wieder fort. Nur im Moment leben, nur dieses eine Mal, obwohl das nicht seiner vorausschauenden Natur entsprach, erwies sich als schwierig, weil er nicht aufhörte, daran zu denken, was geschehen würde, wenn sie ihm als Engel eine Liebschaft mit einer Walküre verbieten. Dort oben, im Himmelsoktogon.
Plötzlich saß sie derart schnell aufrecht im Bett, dass er erschrak und nach einer drohenden Gefahr lauschte.
Aber da war nichts. Der Morgen war erstaunlich still oder die Türen gut isoliert. Nicht ein Geräusch drang in ihre Stube. Sie schwang aus dem Bett und sortierte ihr wildes rotes Haar nachlässig mit den Händen.
„Wir müssen los“, fuhr sie ihn an, derweil sie eine Schublade aufzerrte, in der sie nach Klamotten wühlte, „Wir haben einen Auftrag, Ly. Trödeln würde Odin enttäuschen.“
Obwohl er sie liebend gerne weiterhin nur angesehen hätte, die zarte Linie ihres Kinns, die weiche Wölbung ihrer Brust, ihre langen, wohlgeformten kräftigen Beine, schob er die Daunendecke von sich und schwang die Beine aus dem Bett. Er schabte sich mit der Hand übers stoppelige Kinn.
„Wir haben einen Barbershop“, sie legte Jeans und Bluse aufs Bett und schnappte sich ein Handtuch, „direkt neben dem Badehaus.“
Und somit schlug sie die Tür zu ihrem kleinen Bad von innen zu.
Halb belustigt und resigniert zugleich schüttelte er den Kopf. Er stemmte sich auf, schlüpfte in seine Hosen, warf das zerknitterte Leinenhemd über und trat barfuß in den hellen, lichtdurchfluteten Flur, über den zahllose Gestalten hasteten.
Männer in mittelalterlicher Kriegskluft neben Typen, die aussahen, als strebten sie unten am Strand von San Felice einer Trattoria zu.
Frauen in kurzen, weißen Röcken, schwere Haarflechten auf der Brust, die in geschnürten Sandalen irgendeiner geheimnisvollen Aufgabe nachgingen. Alle wirkten ernsthaft, ohne verbissen dreinzusehen. So, als ob sie ihrer Arbeit beflissen und gerne nachgingen.
Wen er ansprechen und nach dem Weg fragen sollte, überlegte er eben, als er die vielen Hinweisschilder an den Wänden entdeckte.
Therme stand da. Direkt darunter Barbier und ein schwarzer Pfeil nach rechts. Der gewiesenen Richtung folgend, fand er sich rasch in einem mit Marmor ausgelegten Raum und bald darauf in einem Frisierstuhl wieder. Linde Wärme aus einem geheizten Fußboden strömte ihm entgegen. Alabasterlampen an langen Silberketten spendeten Licht.
Der Dialog mit dem Barbier gestaltete sich überraschend unproblematisch. Ebenso grübelte er, warum er die Hinweisschilder hatte lesen können. Er erinnerte sich nicht, jemals Runen gelernt zu haben. Aber er lag ja schon unter dem Messer des Barbiers, in einer beleuchteten Nische hingestreckt. Der Duft, das schabende Geräusch des Messers an seinen Wangen, beides machte ihn unaufmerksam, aber dennoch.
Hatte er da nicht eben eine kleine schattenhafte Gestalt hinter dem Vorhang zum Gang ausgemacht?
Er kniff die Augen zusammen. Räumte ein, sich getäuscht zu haben.
Der Barbier hatte ihn eben mit einer adstringierenden Lotion bestäubt, da sah er es schon wieder. Ein kleine grau-weiß getigerte Katze schlich auf leisen Katzenpfoten geduckt aus dem Raum. Lysander fügte schnell alle Eindrücke zusammen, riss sich den Umhang mit einer harschen Bewegung vom Hals und rief: „Isa!“
„Miau!!“ Erschreckt sträubte sich der Katze Fell, dann jagte sie hinaus in den Gang.
Lysander sprintete hinterher. Als Katze war Isa flink, stieß nicht gegen jeden und zog keine Verwünschungen auf sich. Aber er konnte es nun mal nicht ändern, rief eine Entschuldigung nach der anderen, bis er Isa durch einen offenen Türspalt huschen sah und die Tür ganz auf stieß.
Er polterte hinein und keuchte.
Es war ein kreisrunder, nicht eben großer Raum, in dem einige niedrige Schränkchen verteilt standen. Hinter einem zuckte ein geringelter Schweif. Er setzte zum Sprung an, hielt aber jäh inne, weil er ein forderndes Räuspern hörte. Verwundert wanderten seine Augen zu einem Tisch.
Hinter dem saß Odin. Einäugig, breitschultrig und mit Zigarette im Mundwinkel. Die Wangen unrasiert, das Blondhaar ungeordnet, und überraschenderweise in einem weißen Hemd, mit gelockerter Krawatte. Mafia, schoß es Lysander durch den Kopf und fand den Gedanken sofort abwegig. Trotzdem dachte er, das einzige, das fehlte, wäre ein Schulterholster. Erstaunlicher noch, dass Luisa, in Erdenkleidung, auf einem Stuhl bei Odin saß. „
„Was ist hier los?“, brummte der Göttervater eher gelangweilt, derweil er ein Kartenspiel durch die Hände gleiten ließ.
„Oh. Äh?“ Es war typisch für Ly, dass er in Augenblicken, in denen es nicht viel zu sagen gab, seine Worte auf einen Minimum reduzierte, bis er sich gesammelt hatte. Das ging flink. „Isa ist hier“, er zuckte mit dem Daumen zur Truhe, hinter der sie bibberte, „Ich weiß nicht, wie sie hergekommen ist, und was sie will. Aber es sieht mir sehr nach Spionage aus.“
Odin hob die Braue und nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel. „Die Tochter eures Weltenlenkers? Bring sie her.“
Ly schnappte sich das zitternde Fellbündel. „Verwandel dich“, zischte er, „Auf der Stelle.“
In einem silbrigen Lichtkreis materialisierte sie sich als Frau und gewann so einen Großteil ihres Selbstbewusstseins zurück. „Hallo“, sie winkte Odin albern, „Ich habe nach einer Gelegenheit gesucht, mit ihm“, sie strahlte Ly an, „alleine zu reden.“
„Unsinn! Sie ist vor Schreck fast aus dem Fell gesprungen, als ich sie ansprach“, sein Kopf ruckte zu ihr, „Wie kommst du überhaupt hier her? Ist dazu keine Regenbrücke nötig?“
„Mein Vater will euch austricksen“, trillerte sie schnell drauf los, „Er will Wilhelm, den ihr nach Walhalla holen wollt, in die Hölle schaffen.“
Luisa sank genervt stöhnend in ihren Stuhl zurück. „Nicht schon wieder.“
Aber Odin dachte weiter. „Kann er das, ohne mit eurem Lucifer geredet zu haben.“
„Nein“, trillerte Isa aufgeregt, „Das ist es ja. Er verhandelt gerade mit ihm.“
„Das beantwortet nicht meine Frage, wie du nach Asgard gekommen bist“, Lysander musterte Isa wachsam. Sie klapperte mit den Augendeckeln. Er hatte ihr nie so recht getraut und hegte immerzu den Verdacht, sie wäre derart vernarrt in ihn, dass ihr miese Tricksereien aus Eifersucht auf Luisa zuzutrauen wären.
„Jemand hat mich geschickt“, trotzig verschränkte sie die zaundürren Ärmchen vor der Brust, „um euch zu warnen.“
„Wer?“ Ly zog sie am Oberarm, was sie ihrem geringen Gewichtes wegen durchrüttelte.
Aber Odin lächelte schmal, nahm einen Zug an der Zigarette und drückte sie dann in einem silbernen Aschenbecher aus. „Loki“, belustigt schüttelte er den Kopf und lehnte sich tiefer in seinen ledernen Stuhl.
„Ist das wahr?“ In Lysander ballte sich der Zorn, „Warum sollte er das tun?“
„Loki“, Luisa erhob sich und trat nahe vor die zarte Gestalt Isas, „gefürchtet, geachtet, gehasst. Scheinbar ein Ausgestoßener, und doch trägt er dazu bei, dem herrlichen Asgard seinen geheimnisvollen Glanz zu verleihen.“
„Das hast du schön gesagt, Mädchen“, Odin grinste ihr breit zu und wandte sich zu dem Isa-Ly-Gespann, „Was sie damit meint, ist; er ist nicht grundsätzlich schlecht oder böse. Er hat nur allzu oft Langeweile. Lässt sich jetzt nicht sehen, weil sein kleiner Betrug nach tausend Jahren aufflog und er zu Recht fürchtet, ich wasche ihm den Kopf.“
Mit gewaltiger Hand griff er ein silbergerahmtes Foto vom Tisch und betrachtete es versonnen, ehe er es knapp vorzeigte. Ein nett aussehender Kerl mit dichtem schwarzem Haar über einem spitzen bleichen Gesicht funkelte sie spitzbübisch aus dem Rahmen heraus an. „Du wirst ihn erkennen, Lysander. Oder? Ist das der Mann, der euch vor der Höllenreise im Palazzo Davanzati geholfen hat?“
„Möglich“, Ly grunzte, „Ich habe nicht nach seiner Visitenkarte gefragt.“
Er war echt geladen. Weniger auf Odin, schon gar nicht auf Luisa und nicht sehr auf Isa. Es war der Weltenlenker selbst, der ihn auf die Palme brachte. Der ihnen in den Rücken fallen wollte, einen Deal mit Lucifer aushandelte, um ihnen hier in Asgard Wilhelm den Eroberer vorzuenthalten. Er hätte gerne geschrien, aber die Situation verbat es.
„Und jetzt?“, fragte er stattdessen und tappte gereizt mit dem Fuß. Im Augenwinkel sah er ein liebevolles Lächeln über Luisas Gesicht huschen.
„Jetzt macht euch schleunigst auf den Weg, damit ihr dem Weltenlenker zuvorkommt."
Sie traten aus dem Raum und strebten mit ausholenden Schritten Bifröst zu. Isa, mageres Geschöpf des Himmels, trippelte eilig hinter ihnen her, aber Ly hatte kein Auge für sie. "Was war das denn jetzt?"
"Was", japste Luisa.
"Odin sah aus", er fuchtelte ratlos in die Luft, "na, er sah aus, wie ein Gangster."
"Er war heute Nacht in Palermo."
"Was?", Lysander blieb so abrupt stehen, dass Isa in ihn hineinrannte und verblüfft quietschte.
Luisa sah ihren Engel gequält an. "Was sollen wir denn machen, Ly? Ihr habt eindeutig die besseren Karten, uns hier oben hat man längst vergessen. Was glaubst du, warum wir die Totenbücher durchgesehen haben, um zu sehen, ob alle da sind? Ihr habt uns einige Normannen aus dem Mittelalter geklaut. Die holen wir uns jetzt zurück. Aber aktuelle haben wir höchstens ein paar Dumpfbacken mit idiotischer Gesinnung, die einen auf Wikinger machen. Die können wir nicht reinlassen!" Ihre Stimme hatte sich zornig in die Höhe geschraubt. Hingerissen von ihrem entzückend erhitzten Antlitz griff er sachte nach ihrem Arm. Er sprach leiser, um sie zu beruhigen. "Aber Palermo?"
"Da leben eine Menge Nachfahren der Normannen, die ihr uns geklaut habt."
"Das ist doch schon Tausend Jahre her", sachte schob er eine ihrer roten Locken hinter ihr reizvolles Ohr.
"Das macht nichts. Man muss es versuchen."
"Können wir jetzt gehen?" Die spitze Silberstimme Isas tröpfelte zu ihnen hin. Lysander sah sie an. Wie sie schimmernd und schön in diesem Gang stand. Kraftvolle Frauen rauschten an ihr vorbei, die sie verwundert anblickten.
Gespenstiges Puppenskelett, dachte er und wusste im selben Moment, wie gemein der Gedanke war. Mit einem Mal kam er sich grausam und brutal vor. Er lächelte vage. "Isa", versuchte er es vorsichtig, "es tut mir leid."
"Was denn?", spitzte sie.
"Nichts bestimmtes", er murmelte zuerst, "Sag, meinst du man kann mit deinem Vater reden?"
"Mit dem Weltenlenker?", geringschätzig verzog sie den Mund, "er ist nicht eben bekannt dafür, dass er besonders flexibel wäre."
Das dachte er sich. Er hatte nur gehofft, im Himmel könnte man sich wechselnden Gegebenheiten anpassen. Er zuckte die Achseln und marschierte los. Doch Isa hielt ihn zurück, stellte sich auf die Zehenspitzen und wisperte in sein Ohr: "Du musst dich nicht entschuldigen, Ly. Ich war nie wirklich verliebt in dich. Das fühlte ich, als ein anderer mein Herz entflammte."
Er schloss die Augen resigniert.
Wusste auf der Stelle, von wem sie sprach.
Sah ein spitzes Gesicht und verwegen neckisch blitzende Augen.
Loki.