„Lysander“, zischelte es, „Lysander, aufwachen.“ Unwillig spähte er unter seinem Federbett hervor an die Decke, unter der einer dieser nervigen Cherubinen schwebte, die im Auftrag des Weltenlenkers Nachrichten überbrachten. „Was denn?“, brummte er.
Der Cherubin sank hinab. „Du sollst dich im Thronsaal melden“, summte das pausbäckige Wesen. Lysander konnte sich nicht helfen, er empfand eine latente Gehässigkeit in dieser Stimme. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein, weil er sich so gut in seinem menschlichen Leben eingerichtet hatte und wenig Lust, zu einem Auftrag hervorgerufen zu werden. Und darauf lief es immer hinaus, wenn ein Cherubin kam. Er setze sich im Bett auf. Die Morgensonne strömte durch das Fenster und stach ihm in die Augen.
„Gib schon her“, grob entriss er dem Boten das Papier mit der Nachricht. Er runzelte die Stirn. Wenig informativ, was mal wieder typisch war. Aber gut. Er rieb sich den Mund und warf die weiche Decke von sich. Schabte über sein Kinn und entschied sich gegen eine Rasur. Übermenschliche Haltung war alles. Es war nie ein sonderliches Vergnügen, in den Thronsaal gerufen zu werden, aber die Lichtgestalt sollte ihn gefälligst so nehmen, wie er war. Erst mal wach werden. Am offenen Fenster atmete er tief ein und ließ die kalte Morgenluft seine Lungen füllen. Ein paar Sekunden genoss er das weltliche Licht und die substantielle Luft, dann schlurfte er ins Bad.
Eine halbe Stunde später, erfrischt und munter, aber mit Dreitagebart, in Jeans, einem frischen blütenweißen Leinenhemd, das seinen mediterranen Teint betonte, teleportierte er sich hinauf. Keine Sekunde danach stand er inmitten des Strahlenraums am Fuße der drei porphyrenen Stufen.
Dort oben in der Goldnische hockte sichtlich genervt die gesteigerte Gestalt seines Vorgesetzten, aber direkt daneben ein reichlich zerzaustes Geschöpf. Dem Jüngling standen die blonden Haare zu Berge wie elektrisiert. Das fein geformte Antlitz war mit Schürfwunden übersät, ein Auge war zu geschwollen und mit dem Leib sah es nicht besser aus. Auf Brust und Bauch klafften größere Wunden, der linke Fuß war gebrochen und stand in einem rechten Winkel ab. Der linke Flügel hatte reichlich Federn gelassen, der rechte war sogar gebrochen und wies mit der Spitze zu Boden. Lysander hob beide Brauen. „Was ist dem denn widerfahren?“ Mit dem Daumen zuckte er zu dem derangierten Kerl.
„Seit ich berufen wart“, grollte der Chef, „die Himmelsharmonie auf Erden zu gewährleisten, bin ich keinem unfähigeren Engel begegnet als ihm.“
Statt zu schrumpfen, wie es sich gehört, empörte sich der Bengel: „Ich..äh, Mann! Es ist unmöglich, diese Person zu schützen! Wie kann man einen Schneepflug übersehen? Ich fasse es nicht!“
„Ein Schneepflug?“, in Lysander stieg ein Lachen auf, „Das erklärt einiges.“
Die Lichtgestalt zu Throne winkte ab. „Es ist ihm zugutezuhalten, dass sie unverletzt überlebt hat.“
Ratlos rieb er sich die Nase. „Na und? Dafür bestellt Ihr mich doch nicht ein, oder?“
„Und wenn es so wäre?“, eine leise Schärfe klang in der dunklen Stimme des Herrschers, „Es bedarf keiner dringenden Notwendigkeit, meinen besten Engel herbeizurufen.“
„Ich höre?“, Lysander stierte resigniert nach oben in das Kuppeloktogon.
„Jener hier ist von edlem Geblüt. Der jüngste Sohn des Sebastokrators, der sich bisher nur durch Dummheiten hervorgetan hat. Signora Luisa Saliestri zu beschützen sollte die Aufgabe sein, an der er gefälligst wächst und dem Namen seiner Familie Ehre tut. Daher stelle ich ihm Dich an die Seite. Du kannst Dich materialisieren und so wirst Du, bei Bedarf, auch mit ihm verfahren.“
„Ich widerspreche nur ungern, aber Menschengestalt anzunehmen, ist normalerweise eine Belohn....“
„Dann lasse es.“
„Ähm, meinetwegen? Ich verstehe nur nicht, warum um den Knaben hier....“
„Schweig!“
Vielfach brach sich die Stimme im Kuppelsaal. Da hielt er mal lieber den Mund, aber den arroganten Gesichtsausdruck konnte sich nicht aus dem symmetrisch edlen Antlitz streichen. Er wartete ab.
„Seine Name ist Damiano. Er ist mehrfach durch die Prüfungen gefallen“, erklärte der Weltenlenker, „Ich habe seinem Vater versprochen, diesen Taugenichts zu fördern, damit er nicht als Torwächter an einem der sieben Höllenkreise endet. Ihr kehret auf der Erde ein und Du wirst ihn lehren, wie man einen Menschen richtig schützt.“
Lysander stöhnte entnervt auf. Abgesehen von seiner Lustlosigkeit war er nicht mit Geduld gesegnet, was ihn zu einem miserablen Lehrmeister machte. Aber am meisten störte es ihn, aus dem Müßiggang gerissen zu werden, in den er sich nach der erfolgreichen Rettung einer ganze Besatzung Flugpassagiere hatte zurückziehen dürfen. Seine Karriere war beispiellos. Die Rettung großer Menschenmengen seine Spezialität. Jetzt einem Lehrling die Grundlagen beizubringen, eine Einzelperson zu schützen, war nichts nach seinem Gusto. „Ich weiß nicht“, wandte er ein, „ob ich der Richtige dafür bin. Ich...“
„Ich habe Dich nicht entlassen!“, grollte der Boss, „Die Beurlaubung war lang genug. Einen ganzen Sommer hast Du in San Felice Party gemacht. Glaube nicht, das wäre mir entgangen!“ Umständlich schraubte sich die ältliche Gestalt mit der donnernden Stimme aus dem Thron und hob die Hand zu dem derangierten Engel, „das ist Lysander“, erläuterte er dem in einem Tonfall, der keine Widerrede duldete, „Du wirst von ihm gehört haben.“
Endlich schrumpfte der Frechdachs auf ein akzeptables Maß. Er nickte hektisch.
„Ihr werdet eine Wohnung im Haus der Frau beziehen. Als Menschen.“
„Ist das wirklich nötig?“ Begehrte Lysander noch einmal auf und rechnete damit, in Grund und Boden gebrüllt zu werden. Das Risiko ging er ein. Aber der Chef brüllte nicht. Er klang nur sauer. „Ist es. Die Engel der neuen Generation sind unfähige kleine Nichtsnutze. Es schadet nicht, wenn dieser hier von einem Großen lernt. Daneben steht dieser Frau eine Begegnung von großer Bedeutung bevor. Sie wird jemanden kennenlernen, der gefährlich ist. Das kann einen gigantischen Schaden verursachen, nicht nur für sie.“
„Geht das etwas weniger kryptisch?“, fragte er mit schief gelegtem Schopf.
„Beizeiten“, der Alte legte sich seinen Brokatumhang über die Schulter, „und nun verschwindet. Im Barbarenbüro wirst Du die erforderlichen Unterlagen, Legende, Schlüssel und dergleichen finden.“ Mit einer Geste elegantester Feinheit waren sie entlassen. Lysander schnaubte, sah Damiano an und bedeutete ihm, ihm zu folgen. Lautlos schlossen sich hinter ihnen die elfenbeinernen Schiebetüren. Vor ihnen erstreckte sich das schier endlos scheinende Marmorvestibül, das sie hallenden Schrittes durchquerten. Die stummen Wächter mit den Liktorenbündeln an jeder Tür neigten zum Gruße den Kopf. Bis sie hinausgetreten waren in den weitläufigen Garten, an dessen östlichem Ende das Barbarenbüro lag, trafen sie einige andere Engel. Gralsritterliche Flügelwesen in Goldkaskaden mit milchig weißen Capes. Lysander kannte keinen von ihnen, bemerkte aber wohl, mit welcher Herablassung sie auf Damiano blickten. „Du scheinst nicht eben Klassenbester gewesen zu sein“, zwinkerte er ihm zu. Still watschelte er neben ihm her. Als ihnen die Tür zum Büro aufgehalten wurde, fragte er scheu: „Und Du bist wirklich Lysander?“
Der lachte. Ja, das war er. Lysander Und es war auch nicht immer ein Vergnügen, er selbst zu sein