"Luisa“, bat er noch einmal, „lasse es. Ich kümmere mich darum.“
Ihr Gesicht drückte Zweifel aus, als sie ihn ansah. Dennoch oder deshalb trieb es ihn, ihre glühenden Wangen mit beiden schlanken Händen zu umfassen.
Hier sind wir zusammengeraten, sehen einander, wissen nun, wer wir beide sind. Das Trennende will ich überwinden, dich bergen wie einen Schatz.
All das dachte er in dem Sekundenbruchteil, in dem er ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte und sich dematerialisierte. Die blaue Wolke, die er wird, schwebte durch das Tor, sank im dunklen Innenhof des alten Palazzo zu Boden, um wieder aufzuerstehen.
Nur als Körper hatte er Sinne, so wurde er wieder zum Mann, schaute hoch und lauschte. Die Figur, der Mann war oben, was ihm sonderbar erscheint. Warum sollte jemand aus der Hölle nach oben fliehen?
Und was machte der überhaupt hier?
Das war nicht die Adresse, über die man zur Höllenpforte gelangte. Es ist nur ein alter Palazzo, der, so eingerichtet wie vor 500 Jahren, den Touristen ein Gefühl für das damalige Leben gibt.
Anfangs schwang nichts durch die Stille als langer stummer Atem. Dann begann melodisch, wie er es selbst im Himmelsoktogon nie gehört hatte, der Stimmenklang zu tropfen. „Womöglich weil er nicht von Lucifer geschickt wurde?“
Lysander blinzelte hoch zu der steinern umfassten Treppe, die sich im Innenhof überdacht an der Fassade entlang eckt. Unter einem gemeißelten Wandbogen stand eine Gestalt. Groß, hager, mit einem diabolisch-mitleidigen Lächeln im Antlitz.
„Wo ist er hin?“, rief er hoch.
Denn das war er nicht. Das war nicht der Bücherdieb. Rasch ruckte Lysander herum, weil an der versperrten Tür gekratzt und geschabt wurde. Dann floss golden ein Lichtstrahl herein und er fühlte Luisas Präsenz. Sie war eingebrochen, was ihm nicht gefiel. Ganz und gar nicht, weil er nicht einzuschätzen vermochte, ob ihr hier Gefahr drohte.
Die Antwort von oben war Geschrei. Erbärmliches Winseln des Diebes, der mit göttlicher Kraft am Kragen gepackt oben über die Brüstung gehalten wurde. Die Beine strampelten wild, der ganze Mann mühte sich vergebens, frei zu kommen.
„Wer bist du?“ Lysanders Stimme brach sich an den Wänden.
Die Schultern leicht gehoben, den Mann am Kragen, stand der Hagere dort oben. Ein großer wartender Raubvogel mit zuckungslosen Augen.
„Loki!“, schrie Luisa heiser vor empörter Wut, „Was soll das? Du weißt um meine Aufgabe! Hast Du mir den Schwachkopf auf den Hals gehetzt?“
Lysander konnte seine Überraschung kaum verbergen. Er kannte den Mann nur vom Hören Sagen, so wie er sich generell mau mit den fremden Göttern auskannte, was ihm nun wie eine gigantische Bildungslücke vorkam.
„Aber nicht doch“, kam es belustigt von oben, „Er ist uns aus Asgard entwischt.“ Mit Leichtigkeit zog er den sich Windendend nahe zu sich hin, „Nicht wahr, mein Vögelchen? Weil Du dich fürchtest.“
„Äh, wovor?“, hörte sich Ly dumm fragen.
„Wer ist es?“, schrillte sie, mit in die Hüften gestemmten Fäusten neben ihm stehend nach oben.
„Oh, nur ein dummer kleiner normannischer Baron, der einen der Männer fürchtet, die du befreist.“
Lysander schien es, als sähe er das amüsiert ironische, steingraue Zwinkern jenes Lokis bis hier unten hin.
Luisa seufzte genervt. „Dass ihr da oben nicht besser aufpasst!“
Sie fing an, die Stufen hoch zuschreiten. Lysander lief neben ihr her. Obwohl ihm das Herz bis zum Halse pochte, schienen sie nicht mehr in Gefahr zu sein. „Was bedeutet das?“, wisperte er, „Dass wir das Buch zurückbekommen?“
„Ja, sicher“, sie klang gereizt, „es bedeutet, der Typ, der das Buch geklaut hat, missgönnt mir meinen Erfolg, weil sein Erbfeind, sollte ich die Helden befreien, dann demnächst mit ihm an der Tafel in Walhalla sitzt.“
„Oh“, er kniff sich die Nase, „Können sie dort kämpfen?“
Sie blieb stehen und musterte ihn wie ein Kind. „Natürlich können sie das. Und er hat keinen Bock, der Feigling. Vielleicht sollte ich ihn mitnehmen in die Hölle und ihn als eine Art Tausch da lassen.“
„Nein!“, kreischte es, „Nein! Ich flehe Euch an! Habt Erbarmen!“
Loki nahm den Kerl aus der Schwebe und warf ihn neben sich wie einen leeren Sack. Jaulend blieb der liegen. Mit der freien Hand streckte Loki Luisa das Buch entgegen. „Meine Schöne“, hauchte er mit einem Lächeln. Eifersucht stieg in Lysander auf, die dem anderen nicht entging. Während sie das Buch auf Unversehrtheit prüfte, nahm Loki Lysander bei Schulter und schob ihn ein Stück zur Seite. „Ich sehe, Dein Herz ist entflammt, mein aparter Engel“ Lokis Atem strich eiseskalt über Lys Wange, „Verständlich, denn sie ist die schönste Frau der Welt.“
Der Gott legte beide schmalen Hände auf Lysanders Schulter, umfasste ihn so und hielt ihn ein Stück von sich. „Es ist ein Wissen, fraglos. Ganz und endgültig. So gewiss wie die Existenz zahlloser Konkurrenten um die Gunst der einstmals großen Kriegerin. Und das Reizende ist: Sie weiß es nicht. Wie um sie gerungen wird. Um sie und ihre Gunst“, Ly fühlte sich losgelassen, „das macht ihren Reiz aus. Dass sie es nicht weiß. Wie berückend sie ist.“
Diesen nahezu brüderlichen Worten stimmte Ly aus tiefstem Herzen zu, denn allein Isa, die um ihre zarte Schönheit wusste, verdarb jedem Werbenden mit diesem Wissen den Spaß daran, sie zu lieben. Weil man sich immer wie ein Spielzeug vorkam. Aber da hallte ein anderes Wort in ihm nach. „Kriegerin?“
„Oh, Du Ahnungsloser. Es sind mutige und tapfere Frauen, die zu Walküren werden.“
Loki wandte sich zu Luisa um. „Ist es in Ordnung? Oder fehlt eine Seite?“
„Nein, es sieht intakt aus“, sie sah an dem großen Mann hoch, „Ich bin nicht sicher, ob ich Dir danken soll.“
„Weil Du stets einen kleinen infamen Streich erwartest, ich weiß“, er tätschelte ihr die Wange, „doch sei dir sicher. Mein Herz ist rein, dein Wunsch mein Wille. Denn ehrlich gesagt ist es langweilig, dort in Walhalla. Die Ankunft der beiden großen Helden wird herbeigesehnt, sieht man von lumpigen Ehrlosen wie ihn ab“, er versetzte dem Bündel im Schatten einen sachten Tritt mit der Stiefelspitze, „singen dort alle schon ein lautes Skal und Prosit auf die zwei.“
„Wer ist es denn überhaupt?“ Lysander fröstelte es in der Gegenwart Lokis. Nicht, weil er ihn fürchtete, er genoss ihn nur mit äußerster Vorsicht. Aber von dem Mann ging eine rein physische Kälte aus.
„Oh, einer, der Guillaume heißt, den ich aber nicht weiter kenne“, Luisa schmiegte sich mit dem Oberkörper an ihn, was Lysander mit einem warmen Schauer erfüllte, „und über den anderen hat dieser Dante mal geschrieben.“
„Was ich an Blut und Wunden sah, als einst Robert Guiskard dem Lande schuf die Pein“, rezitierte Loki aus dem Stegreif, „Mich hat immer interessiert, ob Dante die Hölle tatsächlich besucht hat, bevor er über sie schrieb.“ Erwartungsvoll blinzelte er Lysander an.
Der fühlte sich sicherer, sie betraten sein Terrain. „Ja, hat er. Ich weiß bis heute nicht, wie er da wieder rausgekommen ist.“
„Vielleicht, weil er herausgelassen wurde?“, schlug der Hagere vor.
„Lucifer ist nicht eben bekannt für seine Menschlichkeit“, wandte Lysander ein und genoss den erdigen Duft, der von der Walküre ausging.
„Es ist echt scheiße in der Hölle“, schimpfte sie, „Ich habe das Buch gelesen. Schrecklich sperrige Sprache, aber eine hervorragende Bedienungsanleitung. Ich glaub, dieser Luce wollte nur, dass die Leute eine Heidenangst bekamen.“
„Du meinst, er wollte, dass Dante darüber schreibt.“
Beim Nicken wippten ihre Locken. „Ja, aber komm. Lass uns gehen.“
Sie wandte sich bereits ab, als Lokis lange Finger nach ihr griffen und sie zu sich zog. „Vertrau mir“, murmelte er in ihr üppiges Haar, „vertrau mir einfach. Es schmerzt, dich voller Misstrauen zu sehen.“
Sie kämpfte sich frei und schnappte: „Dann überleg mal, woran das liegen könnte.“
Damit stampfte sie die Treppen hinunter.
Ehe Lysander ihr folgen konnte hauchte der Gott ihm einen Befehl. „Gib auf sie acht.“
Ich tue mein Bestes, dachte er, ich gebe mein ewiges Leben für sie. Aber ich weißt nicht, ob es reicht, denn der Feind ist ein heimtückischer.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Palazzo_davanzati,_cortile_03.JPG
Da ich extrem miserabel im Beschreiben bin: So sieht es im Treppenhaus aus.