Im Nachhinein ließ sich nicht mehr feststellen, wie sie nach oben gekommen waren.
Ly vermutete einen Getränkezusatz. Gift wollte er es nicht nennen, denn bis auf heftige Kopfschmerzen gab es nichts zu klagen.
Als er sich planlos umsah, fand er sich in Luisas Wohnzimmer. Schweißverklebt mit Brummschädel.
Im Sessel, vor dem holzgerahmten Fenster lümmelte Damiano und hinter dem Tresen zur Küche entdeckte er Luisa, die dem Normannen den Kaffeevollautomaten erklärte. Der Mann hielt einen Kaffeebecher in der Hand und wirkte belustigt. Auch die Walküre lächelte.
Seltsam, wie sie zusammen passten, dachte Ly und rieb sich die Augen. Dabei war es nichts erkennbar Äußerliches. Sie wirkten beide nur so bestürzend erdverhaftet auf ihn. Und, als wären sie in dieser Zeit zuhause. Nicht einmal die mittelalterlichen Leinenhosen mit Wadenschnüren unter dem hellen Baumwollhemd, die der Mann trug, wirkten deplatziert, sondern lediglich wie eine extravagante Mode.
Das zu sehen, schmerzte, und doch war das Fremdartige verlockend.
Die Liebe, die er für die Walküre empfand, fing nicht beim ihm an, sondern bei ihr. Hinter ihr stand ein langes Geheimnis und wartete.
Er räusperte sich leise. Die beiden Gestalten mit Bechern in Händen wandten sich zu ihm hin. „Kaffee?“, Luisa hielt ihre Tasse in die Höhe.
„Gern“, er lächelte vage, schickte einen Blick zu Damiano, der offenkundig seinen Rausch ausschlief. Zu dessen Füßen knubbelte sich eine große Lambswooldecke. Ein Haufen, der Lysander befremdlich vorkam.
Aber da kam Luisa schon um den Tresen herum, reichte ihm eine dampfende Tasse und setzte sich neben ihn aufs Sofa.
„Wir sprachen gerade über den fehlenden Wilhelm. Er“, sie fuchtelte mit der Hand zu dem Normannen, „kann sich nicht vorstellen, dass er im Himmel ist.“
„Wenn Luce nicht lügt“, Ly pustete in den Kaffee und nippte daran, „muss er aber oben sein“, nach einem weiteren Schluck stellte er die Tasse auf dem Tisch ab. Den Normannen nahm er scharf ins Visier. „Was lässt Euch glauben, dass Wilhelm nicht im Himmel ist?“
„Sag Robert zu mir“, er zwinkerte ihm zu, schlenderte zum Fenster und sah hinaus. Dabei murmelte er: „Er ist exkommuniziert worden.“
Ly schnaubte. „Wie Ihr? Ich meine, wie du? Nur, weil du deshalb in der Hölle warst, heißt da ja nicht, dass alle exkommunizierte Personen in der Hölle landen. Vielleicht war er ja....“
„Was?“, der Mann drehte sich schief grinsend zu ihnen um, „Eine zarte Rose der Sanftmut und Tugend? Friedliebend? Ein fürsorglicher Vater? Tierlieb?“, er lachte, „Nichts davon passt auf den verstorbenen Herzog der Normandie. Aber sag mal“, er zuckte mit dem Daumen zum Fenster, „Was sind das für eigenartige Gefährte, die sich ohne Pferde fortbewegen?“
„Was? Äh, Autos. Das zu erklären, ist sinnlos. Wo du ohnehin gleich nach Walhalla reisen wirst“, er kratzte sich die Nase und sah Luisa fest an, „Wenn er recht hat, ist dieser Wilhelm vermutlich schon bei euch in Asgard.“
„Fang nicht wieder damit an“, sie schnellte hoch und stemmte die Fäuste in die Hüfte, dabei tappte sie mit dem Fuß, „Ist er nicht! Ganz bestimmt nicht!“
Lysander hob die Hand. „Schon gut.“
Es entstand ein kleines, von Damianos leisem Schnarchen untermaltes Schweigen, in das er dann sagte: „Ich habe eine Idee, aber ich kann den Finger nicht drauf legen“, vage schüttelte er den Kopf und rieb sich den Nacken. Er musste dringend hoch ins Himmelsokotgon, fürchtete zugleich, vom Weltenlenker keine vernünftige Antwort zu bekommen.
Ungern wollte er den Normannen mitschleppen. Aber Luisa mit dem allein nach Asgard zu schicken, war ein schmerzlicher Gedanke, aus zweierlei Gründen. Zum einen fiel ihm die Trennung von ihr schwer, zum anderen war er entsetzlich wissbegierig. Er wäre gerne selbst mal in Asgard gewesen. Wann hatte ein Engel hierzu schon die Gelegenheit?
In Gedanken versuchte er, Kontakt mit seinem Vater herzustellen. Der würde ihm womöglich bereitwilliger Auskunft erteilen, als der Boss. Undenkbar, dass oben etwas geschah, von dem sein Vater nichts wusste. Aber so er sich anstrengte, er bekam keine Antwort. Nur ein hohes Summen und ein Pfeifton kamen bei ihm an. Vergleichbar mit einem Störsender. Oder mit einem gewaltigen Tinnitus.
Er stemmte sich aus dem Sofa und schob sich an Luisa vorbei in die Küche, wo er den Wasserhahn an der Spüle aufdrehte. Schwallweise schaufelte er sich kaltes Wasser ins Gesicht. Dabei kam ihm der Gedanke an Isa, und er stellte sich die Frage, wo die eigentlich war.
Oben, flötete ihre helle Stimme in seinem Kopf, ich bin wieder oben. Und ich denke auch, nur dein Vater kann uns helfen, aber niemand weiß, wo er ist. Du musst wohl mit dem Lenker vorlieb nehmen.
Niemand? Blind tastete er nach einem Geschirrtuch und griff nur ein altes. Aber Luisa stand mit einem Frischen neben ihm. Er lächelte ihr dankbar zu und tupfte sein Gesicht trocken.
Niemand wusste, wo sein Vater war, aha.
Das wäre nicht das erste Mal, dass der sich den Gläubigen entzog.
An der Walküre vorbei sah er ins Wohnzimmer, wo Robert weiterhin interessiert aus dem Fenster linste. „Ich frage mich, was sich hiermit alles anstelle ließe. In meiner Zeit“, meinte er versonnen, „Man wäre schnell von einem Posten beim nächsten. Für Meldereiter wäre ein solches Auto ideal.“
„Es gibt Telefone.“
Alle stierten der benommenen Stimme nach und kamen bei Damiano an, der augenreibend im Sessel hockte. „Was ist?“, lallte er. Dann wurde er graugrün, schnellte aus dem Möbel und raste ins Bad. Heftiges Würgen hörten sie. Husten, dann wieder Würgen.
„Telefon?“ Die blonden Brauen schossen in die Höhe.
„Ja“, schnappte Lysander gereizt, „Man kann darüber mit Leuten reden, die überall auf der Welt sind, nur leider nicht mit dem Himmel und nicht mit Gott. Deshalb müssen wir hoch.“
Er wollte eben an die Badezimmertür hämmern, um Damiano zur Eile anzutreiben, als er eine kaum merkliche Bewegung unter der Wolldecke bei Damianos Sessel wahrnahm. Mit einem Satz war er da, griff die Decke am Zipfel und zog sie an sich. In derselben Sekunde schoss ein schmaler Blondschopf in einem roten Latexanzug hervor und raste zur Tür.
Alles geschah gleichzeitig. Luisa, der Normanne und Lysander jagten dem Geschöpf hinterher, aber es nutzte den Überraschungsmoment und machte ordentlich Meter.
„Wer, zum Teufel ist das?“, rief Robert in ihre donnernden Schritte, während sie die Stufen hinunter hasteten.
„Irgendeine Gespielin dieses nichtsnutzigen Bengels!“, kreischte Luisa, „Fang sie ein!“
„Es ist ein er!“, rief Damiano zerzaust von oben, machte aber keine Anstalten, sich an der Jagd zu beteiligen.
Robert jagte aus der Tür. Lysander mit Luisa hinterher, aber gleichzeitig hielten sie inne und sahen sich um. Nur vereinzelte Autos und Busse fuhren langsam über die Via Cavour, die eine reine Anwohnerstraße war. Fußgänger in Winterjacken strebten in die Innenstadt und streiften sie mit einem gelangweilten Blick. Sanftes Gewölk floss über den Himmel.
„Da!“ Robert Hauteville sah sie als erster aus dem Segwayverleih kommen, ohne zu wissen, was ein Segway war. Eine schmale Gestalt in einem roten Latexanzug mit Schweif und verrußtem Blondhaar raste auf einem Segway Richtung Dom. Unterwegs purzelte die gehörnte Haube auf die schiefen Steinquader der Straße.
Aus dem Laden rannte mit erhobener Faust und wild gestikulierend der Inhaber und sandte gotteslästerliche Flüche hinterher.
Nach einer Schrecksekunde hetzte Ly in das Geschäft und zerrte ein Segway herbei, auf das er sich schwang und gen Domplatz düste.
Er dankte Gott, dass es Winter war. Er mochte sich nicht ausmalen, wie viele Menschen der Höllenflüchtling und er in der Touristenhochsaison über den Haufen gemäht hätten.
Es sprangen auch so genügend Leute schimpfend zur Seite. Eine junge Frau stürzte auf die Stufen zum Dom Santa Maria del Fiore, ein Mann schob den Kinderwagen mit seinem Säugling in halsbrecherischer Geschwindigkeit in den Windschatten des Baptisteriums.
Lysander holte auf, der Abstand verringerte sich.
Auf der Via Roma warf er einen Blick über die Schulter und erkannte, dass er nicht allein die Verfolgung aufgenommen hatte. Luisa, in Jeans und grauem Rollkragenpulli stand mit verbissenem Gesichtsausdruck und dramatisch wehendem Haar auf einem Segway und flitzte holpernd die Straße entlang. Ly warf den Kopf herum und sah den Flüchtenden auf Höhe des Mercato nuovo links abbiegen.
Das war sehr erfreulich, denn hinter den Uffizien, Richtung Piazza Santa Croce, waren die Straßen katastrophal. Dort würden sie die hohe Geschwindigkeit nicht aufrecht erhalten.
Als sie rechts am Palazzo Vecchio vorbei rasten, sah er sich noch einmal um. Luisa kam näher.
Aber überholt wurde sie von Robert, dem Normannen, auf einem eigenen Segway. Lysander konnte sich nicht helfen: Der Mann sah unverhältnismäßig vergnügt aus. Aus schauernden Schichten heraus stürzte sein weltenverwandelnder Trieb mit ausgebreiteten Schwingen. Eine Beinahe-Kollision mit einem Müllwagen brachte Lysander zu sich zurück. Er fing sich eben noch rechtzeitig, um nicht zu stürzen, ließ die Flüche des Müllmannes an sich abperlen. Alles, was er denken konnte war, dass sie den Mann nach Asgard schaffen mussten, denn da, wo der war, würde er verändern. Ein über den anderen losen Faden würde er zusammenknüpfen und an sich reißen, was er für sich wollte. Die Sache mit der Vorhölle, die er sich zu eigen gemacht hatte, bewies es. Sollten sie sich in Asgard mit dem herumplagen.
Er rumpelte über die Piazza, über faustgroße Löcher im Boden und fühlte sich ganz und gar durchgeschüttelt. Voraus stockte der Fliehende mit seinem Segway und segelte über die Lenkstange.
Lysander holte auf.
Die Gestalt rappelte sich auf, schüttelte sich und flitzte auf die Kirche Santa Croce zu.
Gut, dachte Lysander, bald haben wir ihn.