»Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum!« ~ Henry
Henry wanderte gut gelaunt durch das Gebüsch.
Er pfiff vor sich hin und blieb ab und zu stehen, um eine interessante Pflanze zu betrachten, oder sich Beeren von einem der Büsche zu pflücken, die er sorglos eine nach der anderen verschlang. Er behielt ein gemütliches Tempo bei, um seine Plattfüße vor den spitzen Steinen auf dem Boden zu schützen. Er vertraute fest darauf, bald auf freundliche Menschen zu treffen. Er vertraute ebenfalls darauf, dass ihm hier nichts gefährlich werden konnte. Der Gedanke, dass ihn sein Körperfett und die mangelnde Ausdauer zu einer leichten Beute machen könnten, war ihm noch nicht gekommen.
Er war mehr oder weniger glücklich. Oder besser gesagt, er konnte sich nicht erinnern, jemals glücklicher gewesen zu sein. Immerhin schien die Sonne, es war warm genug, um nur in der Unterwäsche herumzulaufen – nicht, dass er eine große Wahl gehabt hätte – und keine Dinge, um die er sich Sorgen zu machen brauchte.
Deswegen pfiff er immer noch fröhlich, als er sich dem kleinen Lager am Strand näherte, wo Kassia soeben Nokori dabei half, sich langsam aufzusetzen.
Henry stolperte mitten unter die Versammelten, die aus Kassia, Nokori und Lucy bestanden. Er erstarrte, als er die drei Frauen in weißer Unterwäsche sah und wandte erschrocken den Blick ab: „Tschuldigung!“
„Wer bist du denn schon wieder?“, fragte das kleine, schwarzhaarige Mädchen und griff misstrauisch nach einem Stein.
„Ich heiße Henry!“, rief Henry und hob abwehren die Hände: „Ich tue euch nichts!“
„Lu, lass den Stein los!“, schimpfte Kassia streng, was ihr nur ein grummeliges „Du bist nicht meine Mutter!“ einbrachte.
„Ähm – ich weiß nicht, wo ich bin!“, sagte Henry schnell, um das Vertrauen der drei zu erlangen.
„Das wissen wir auch nicht“, sagte Kassia und dann stelle die Rothaarige sich, Lucy und die verletzte Nokori vor.
Henry spürte, wie ein Schauer ihn überlief: „Was genau hat dich verletzt?“, fragte er beunruhigt nach und musterte die große Wunde in der Seite der jungen Frau.
„Ein Stego!“, erklärte Lucy, die inzwischen doch ihren Stein fallen gelassen hatte: „Großer Dino, lange Stacheln, Rückenplatten – du weißt schon!“
Henry hatte eines dieser Tiere gesehen. Plötzlich wünschte er sich dringend eine Waffe: „Gibt es viele davon?“
„Viel zu viele!“, meinte Lucy, doch sie wurden von einem lauten „Hey!“ unterbrochen. Das stammte von Kassia, die Nokori anstarrte: „Und was glaubst du, tust du da?“
Nokori hatte sich, eine Hand an einen Baumstamm gestützt, halb erhoben und warf einen grimmigen Blick zu Kassia: „Ich stehe auf. Was denkst du denn!“
„Du kannst nicht aufstehen!“, sagte Kassia: „Du bist verl-“
„Ich kann und ich werde!“, fauchte Nokori und wollte sich weiter aufrichten.
„Setz dich wieder hin“, grollte eine Stimme, dunkel und tief wie der Donner. Mit einem nervösen Blick befolgte Nokori die Anweisung.
Aus dem Gebüsch hinter ihnen kam der größte und kräftigste Mann, dem Henry je begegnet war (es war allerdings auch der erste Mann, dem er begegnete).
Der Mann trat auf die kleine Lichtung, ließ den Blick über die Versammelten schweifen und starrte dann Henry aus dunklen Augen an: „Wer ist das schon wieder?“
Hinter ihm schob sich eine blasse Jugendliche mit einem Tattoo auf der Seite durch die Farne und huschte leise zu der behelfsmäßigen Hütte.
Henry lächelte breit und trat auf den Riesen zu, eine Hand ausgestreckt: „Ich bin Henry!“
Der Mann starrte auf seine Hand: „Kommen da noch mehr?“
„Äh – ich bin alleine“, murmelte Henry überrumpelt und zog die Hand zurück: „Falls Sie das meinen.“
„Henry – oder alleine?“, rief Lucy von hinten, der das Auftauchen des Mannes als einziger nicht die Sprache verschlagen zu haben schien.
„Kannst du irgendwas, Henry? Jagen? Kochen?“
Henry überlegte: „Ich bin bestimmt ein ausgezeichneter Krieger!“
Der Mann musterte ihn und seinen bleichen Bauch, der weit über der Hose hervorsprang. Spöttischer Abscheu lag in den dunklen Augen und Henry fühlte tief in sich das Verlangen, es diesem Mann zu beweisen. Er würde ein Krieger sein! Er würde es ihnen allen zeigen!
„Gut, also bist du der Koch“, befand der Mann. Er wandte sich ab, dann zögerte er noch einmal: „Ich bin Thanatos. Ihr tut, was ich sage, und geht mir nicht auf die Nerven.“
Henry nahm zitternd Haltung an und salutierte, aber nach den Blicken der anderen zu urteilen ging die Geste ein wenig im Fett unter. Er würde trainieren. Und er würde wirklich ein Krieger werden!
Etwas später saßen sie um ein kleines Feuer, das Henry entfacht hatte. Die Flamen tanzten lustig in einem kleinen Kreis aus Steinen. Thanatos und das blasse Mädchen, das sich inzwischen als Ashley vorgestellt hatte, waren auf Jagd gewesen. Jetzt brieten kleine Fleischstücke an langen Holzspießen im Rauch und der Duft wurde mit jeder verstreichenden Sekunde verführerischer. Thanatos thronte ein wenig über ihnen, weil er sich auf dem einzigen Stein in der Nähe des Feuers niedergelassen hatte und allein mit seiner kalten Ausstrahlung die anderen dazu brachte, lieber auf dem harten Boden zu sitzen. Nokori wurde von Kassia gestützt, obwohl das Mädchen schwach protestiert hatte, sie könne auch alleine sitzen.
Sie schwiegen, bis Thanatos das Wort ergriff: „Wir sollten die Gegen auskundschaften. Und wir brauchen eine gesicherte Ernährung. Nur Beeren reichen nicht, wir brauchen Jäger. Ganz zu schweigen von einer vernünftigen Hütte!“
„Wenn wir jagen sollen, brauchen wir Waffen“, meinte Lucy: „Die hässlichen Vögel bringen nicht viel Fleisch, aber mit einer Waffe würde ich mich ganz bestimmt an einen von den Hässlichen trauen ...“
„Dilophosaurier“, warf Ashley mit sehr leiser Stimme ein.
„Ja,ja, wie auch immer.“
„Ihr beide werdet die Gegend erkunden“, sagte Thanatos mit einer Stimme, der sogar Lucy nicht widersprach und deutete dabei auf Ashley und Lucy.
„Jetzt?“, fragte das Mädchen und sah zum Himmel, der sich sehr langsam dunkler färbte.
„Morgen“, knurrte Thanatos und zog seinen Holzspieß aus dem Feuer. Er warf einen Blick auf das Fleisch und biss dann hinein. Blut lief über sein Kinn, aber offenbar bereitete das zähe Fleisch seinen Zähnen keine Schwierigkeiten. Henry starrte auf sein eigenes Stück. Er wollte nicht länger warten. Andererseits mochte er sein Fleisch nicht blutig.
„Beeren?“, fragte Lucy und hielt ihm eine Hand hin: „Für die Wartezeit?“
Henry nickte dankbar und hatte alle Beeren geschluckt, noch bevor Kassias wütender Aufschrei erklang.
„Lucy! Du sollst das lassen!“
Henry wunderte sich, worum es ging. Ganz langsam fielen seine Augenlider zu und er spürte, wie eine sanfte Schwärze ihm umfing. Lucys fröhliches Kichern verklang in weiter Ferne, während Henry fiel … und fiel … einem wunderbaren Traum entgegen, indem er endlich der Held sein konnte, der er eines Tages sein würde.