„Was guckst du so finster?“, fragte Kassia, die sich mit ihrer mageren Portion Fleisch neben Mikail fallen ließ.
Mikail sah auf. „Meine Seile verschwinden“, klagte er.
„Die Seile?“, hakte Kassia nach.
Mikail nickte: „Ich habe sie geordnet und gezählt, aber am nächsten Tag war es eines weniger.“
„Du glaubst nicht, dass ein paar davon bei der Rettungsaktion letztens draufgegangen sind?“
Mikail zögerte: „Nein. Seitdem habe ich die Seile dreimal neu sortiert, und am nächsten Morgen war immer eines weg.“
Kassia wirkte überrascht, dabei hatte Mikail ihr verschwiegen, dass er die Seile mehrmals täglich sortierte, nicht nur am Morgen jedes Tages, der seit dem Angriff der Raptoren vergangen war.
Das war genau drei Tage her, und die großen Raubsaurier streiften immer noch durch die Wälder unter ihnen. Thanatos hatte für's Erste verboten, dass irgendjemand nach unten ging, aber langsam wurden ihre Vorräte knapp oder schlecht.
„Wir haben wohl echt einen Dieb im Lager“, seufzte Kassia: „Das Fleisch verschwindet auch schneller, als es sollte.“
„Ja, aber die Seile sollte doch niemand stehlen!“, sagte Mikail.
Kassia neben ihm brach in Gelächter aus.
„Was?“, fragte er verwirrt.
„Wir sitzen hier oben fest, eingekesselt von Sauriern und ohne Nahrung, und du machst dir Sorgen um ein paar Seile!“
Mikail verschränkte die Arme: „Mit den Seilen könnte ich Waffen bauen, um diese Tiere zu vertreiben.“
Kassia wurde ernst: „Ich weiß. Was hältst du davon, wenn wir gleich mal erwähnen, wie wichtig diese Seile sind und das es keine gute Idee wäre, die zu entwenden?“
„Warum suchen wir nicht einfach den Schuldigen?“, murrte Mikail. Die Seile zu knöpfen war viel Arbeit gewesen und jetzt machte jemand all die Mühe zunichte.
„Ich möchte keine Zwietracht“, gestand Kassia: „Wenn irgendjemand Seile klaut, wird das zu Streit führen, und das können wir uns nicht erlauben. Nicht, solange wir nur die anderen haben.“
Mikail starrte Kassia an. Von der Seite hatte er es niemals betrachtet. Natürlich könnte es nur zu Misstrauen und Unruhen führen, wenn er sich auf die Suche nach einen Dieb begab.
„Du hast recht“, musste er anerkennen: „Willst du dann gleich mit ihnen reden?“
Kassia rieb sich den Arm und erwiderte unsicher: „Ich … ich könnte es machen, ja.“
Als alle ihre Teller zurück brachten, hielt Kassia tatsächlich eine kurze Rede. Sie würde den Dieb nicht verfolgen, nur bitten, damit aufzuhören, da es um ihr Überleben ging. Nach dem Frühstück ging Mikail in die Hütte und sortierte nochmals die Seile. Es war keines verschwunden, stellte er fest, während er die Seile zusammenrollte und nach Dicke sortierte. Sein Magen knurrte. Die Rationen, die Thanatos verteilte, wurden immer kleiner. Von hier oben hatten sie keine Möglichkeit, Lebensmittel zu sammeln. Galileo und Lucy hatten angeboten, mit ihren Dinosauriern auf Jagd zu gehen, doch auch in der Hinsicht hatte Thanatos sich vorläufig geweigert. Die Intelligenz der Raptoren war leider nicht zu unterschätzen.
Mikail und Henry hatten inzwischen das Dach fertig und waren dabei, das Innere des Hauses mit Wänden auszustatten. Solange ihnen das Holz nicht ausging, was Mikail entschlossen, weiter zu arbeiten. Henry wirkte überhaupt nicht begeistert, aber er half ihm trotzdem. Mikail registrierte allerdings, dass die Pausen des anderen Handwerkers immer länger wurden.
Die Laune im Lager wurde ebenfalls immer schlechter. Am Mittag kam es zu einem Streit, weil Lucy ihrem Saurier Oskar ein Stück Fleisch mehr gegeben hatte, obwohl ihre Vorräte sich immer stärker neigten.
„Wenn es schon nichts mehr zum Spielen hat, soll er wenigstens nicht verhungern!“, schrie das Mädchen Galileo an.
„Dir sollte klar sein, dass wir Oskar essen werden, wenn die Lage noch schlimmer wird!“, drohte Thanatos, worauf Lucy kreidebleich und totenstill wurde. Gegen Nachmittag schlich das Mädchen zu Mikail und fragte, ob er nicht einen Geheimraum in das Haus einbauen könnte, ohne Thanatos davon zu erzählen.
„Ich bin sicher, so weit wird es nicht kommen“, tröstete Mikail: „Aber ein Geheimraum ist eine interessante Idee. Wird nur etwas kompliziert.“
Er war etwas überrascht, als Lucy ihn spontan umarmte und dann davon huschte.
Am Abend wurde Ashley in ihrer Funktion als Späherin zum Fuß des Berges geschickt. Sie ging gemeinsam mit Nokori, die sich schon von der Wunde erholt hatte.
„Wir haben keine Saurier gesehen“, sagte Nokori beim Abendessen: „Ashley meinte allerdings, dass Raptoren intelligent sind. Sie könnten versuchen, uns in Sicherheit zu wiegen.“
„Wir brauchen trotzdem neues Essen, so, wie ihr alle Scaramouche anseht“, sagte Galileo: „Ich kann morgen nach unten gehen und jagen.“
„Ihr nehmt die Saurier mit“, befand Thanatos: „Die fressen uns hier oben die Haare vom Kopf. Und bleibt auf jeden Fall in der Nähe vom Berg.“
„Ich darf mit?“, fragte Lucy: „Klasse!“
„Du, und Nokori“, sagte Thanatos: „Und ich.“
Von der letzten Nachricht war Lucy offenbar nicht allzu begeistert. Thanatos versperrte ihre restlichen Vorräte in einer Kiste und stellte diese in das Haus neben seinen eigenen Schlafplatz. Mikail erschauerte unter dem finsteren Blick, den Thanatos in die Runde warf.
Bevor er schlafen ging, sortierte Mikail die Seile nach Farbabstufungen von beige zu dunkelbraun. Er sah auf, als er ein Geräusch hörte und Kassia zu ihm kam. Er lächelte sie an: „Sternstunde?“
„Ja“, sagte sie leise und setzte sich neben ihn. Mikail knüpfte eines der Seile neu und schwieg. Er wusste nicht, was genau er sagen sollte. Kassia sah in die Sterne.
„Ich wünschte, ich könnte mich erinnern“, sagte sie leise.
„Es ist furchtbar“, bestätigte Mikail: „Ich glaube, ich hatte eine große Familie. Aber ich weiß nichts mehr. Als hätten mir die Menschen nichts bedeutet!“
„Vielleicht haben sie das auch nicht“, überlegte Kassia.
Mikail schüttelte den Kopf: „Sie waren meine Familie! Selbst, wenn sie die größten Arschlöcher – Entschuldigung – gewesen wären, hätte ich sie geliebt.“
„Dann bist du ein wundervoller Mensch!“, sagte Kassia bewundernd.
„Ich bin ganz normal“, wehrte Mikail ab, und dann sahen sie nur noch schweigend in den Himmel.