Sie fand das Lager schnell wieder. Um sich möglichst sicher zu fühlen, kletterte Ashley in die Krone eines Baumes.
Sie fühlte sich nicht gut. Ohne, dass sie den Ursprung dafür erkennen konnte, hatte sich Traurigkeit in ihr breit gemacht. Sie hatte Angst, aber nicht so sehr vor dem fremden Lager – vor dessen Blicken war sie immerhin geschützt, sondern vor ihren Freunden.
Sie hatte Angst, dass die Gruppe um Thanatos fort sein würde, wenn sie zurück kam. Sie sah die Klippe vor sich, komplett verlassen, nur die Ruine des Hauses und ein paar zerbrochene Körbe waren geblieben.
Sie wollte nicht alleine in dieser Welt sein. Schon ihre Ausflüge als Späherin waren schrecklich.
Gleichzeitig war sie froh, weg von der Gruppe zu kommen. Sie wusste nicht, wem sie vertrauen sollte.
Die widerstreitenden Gefühle lenkten sie ab. Erst, als die breiten Tore geöffnet wurden, lenkte Ashley ihre Aufmerksamkeit wieder auf das andere Lager.
Dieser Ort war beeindruckend. Eine riesige Landfläche wurde von einer doppelten Linie hoher Mauern aus Beton eingerahmt. Die Mauern waren vielleicht 15 Meter hoch, und breit wie zwei Personen nebeneinander. Nach etwa fünf Metern schloss sich die zweite Mauer an, der Raum dazwischen schien ungenutzt zu sein. In regelmäßigen Abständen – Ashley schätzte die Strecke auf 20 Meter – waren breite, viereckige Wachtürme in die Mauer eingelassen. Die Wachtürme waren etwas größer als die Mauer und boten den Wachen die Möglichkeit, über die Mauer zum nächsten Turm zu gehen.
Mehrere eckige Gebäude schlossen sich an einer Seite an die Mauer an, die andere Seite endete im tiefem Fluss. Die Gebäude waren zweistöckig, das Herzstück des Lagers besaß drei Stockwerke und auf den Gebäuden selbst standen weitere Wachtürme. Flugsaurier landeten auf dem Dach des höchsten Gebäudes und hoben dort auch wieder ab. Das zweistöckige Gebäude, in das der Zaun überging und das Ashley am nächsten war, hatte eine offene Seite mit großen Fenstern, hinter denen sie Pflanzen wachsen sah. An dieses Gebäude schloss sich ein schiefer Kasten an, der offenbar der Eingang war. Man musste durch das kleine Gebäude, dann ein Stück über einen dreieckigen Platz, der sich zwischen drei Gebäuden bildete – und im Schussfeld eines Wachturmes lag. Dahinter ging es in das große Gebäude. Vor diesem war nochmal ein zweistöckiges Haus, an dem wieder ein Zaun ansetzte und nach zwei Wachtürmen ins Wasser ging.
Vor der kürzeren Mauer waren die Felder. Zu diesen trotteten soeben mehrere Dreihörner, gesattelt und beritten, die durch ein Rolltor aus dem anderen Bereich gekommen waren. So weit Ashley das sehen konnte, gab es zwei Höfe, die jeweils von Fluss und Mauer eingegrenzt wurden und durch das größere Gebäude getrennt waren. Sie entdeckte auch eine Platform im Wasser, die am Ende des großen Gebäudes lag, und mehrere ins Wasser gebaute Gehege. Also hatten diese Menschen auch Wasserkreaturen gezähmt, und vermutlich die Ausrüstung, um lange im Meer zu atmen. Der Fluss schien jedenfalls direkt zu einer größeren Wasserfläche zu führen, und in der anderen Richtung lag ein großer See, in den sich ein Wasserfall ergoss – für die Wassertiere wäre dies also eine Einbahnstraße.
Auf beiden Seiten des Flusses und am See erkannte Ashley weitere Baustellen. Die Menschen arbeiteten an Brücken, und die Zäune, die im Wasser endeten, sollten wohl auf der anderen Seite fortgeführt werden. Langhälse und riesige Fleischfressender schleppten Steine zu den Stellen.
Das Lager war eine Festung. In ihrem Inneren bot sie vielen Sauriern und unzähligen Menschen Platz – aber das war wohl noch nicht genug. Die Menschen versuchten, einen zweiten Ring aufzubauen, der auch ihre Felder mit einschloss.
Es gab vermutlich keinen sicheren Ort in dieser Welt. Ashley verspürte den Wunsch, ebenfalls durch den streng bewachten Eingang zu gehen und in dem riesigen Gebäudekomplex zu leben, Abends um das riesige Lagerfeuer im kleineren Hof zu sitzen und dem Rauschen des Meeres zu hören, mit dem beruhigenden Wissen, dass die gefährlichsten Schrecken der Nächte auf ihrer Seite waren.
Mit einem Tyranno unter seinem Befehl musste man sich bestimmt nicht mehr vor Raptoren fürchten.
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie wünschte sich dieser Sicherheit, natürlich. Aber sie hatte auch Angst. Irgendetwas war faul an diesem Lager.
Je länger Ashley zusah, desto deutlicher wurde es. Die Organisation hatte militärische Züge. Jeder Mensch hatte eine bestimmte Rolle, ähnlich wie in ihrer eigenen Gruppe. Das Lagerfeuer im kleinen Hof rauchte fast den ganzen Tag, immer wieder kamen große Fleischfresser an, die mit ihren Reitern unermüdlich jagten. Ashley fragte sich, wie lange diese Tiere noch genug Beute finden konnten. Bis sie zusehen musste, wie ein humpelnder, zweibeiniger Pflanzenfresser von seinem Reiter erschossen wurde – mit einer richtigen Pistole – und dessen Fleisch auf die anderen gezähmten Saurier aufgeteilt wurde.
Ashley wurde schlecht. Nicht nur, dass die Menschen ihre eigenen Haus- und Arbeitstiere aßen, sie zähmten offenbar auch die großen Pflanzenfresser, mästeten sie mit den Pflanzen, die diese Tiere selbst unter Befehl ernteten und ließen sie sich weiter vermehren. Es war eine Fleischfabrik, in der keine Zuneigung für die Tiere übrig blieb.
Genauso wenig Freundschaft herrschte unter den Menschen. Die wenigsten sprachen mehr als unbedingt nötig miteinander. Selbst aus ihrer Entfernung konnte Ashley wahrnehmen, wie still es im Lager war. Die Saurier durften kaum Geräusche von sich geben, und es gab kein Lachen, keine Scherze. Als der Abend über das Land fiel, wurden die Saurier in ihre Gehege gebracht, mit Futter versorgt und allein gelassen. Im Gebäude gingen Lichter an, Ashley hörte laute Stimmen, als eine Art Feierstimmung aufkam.
Die Menschen hatten eine Art Bar. Statt Gelächter erklangen streitende Stimmen, und nachdem Ashley mehrmals Glas klirren hörte, wurde das Licht gelöscht und alle fort geschickt.
Es herrschte keine gute Atmosphäre an diesem Ort. Sie schluckte, während sie sich vorstellte, zwischen lauter Betrunkenen zu sitzen, die irgendeinen Frust loswerden wollten und den Gestank von Blut an sich trugen.
Das Lager sah unglaublich aus, aber es war zu groß. Wie viele Gebäude brauchten die Menschen denn, und wie viele Dinosaurier?
Auf den Mauern wanderten verstohlene Lichter umher, selbst bei Nacht kam das Lager nicht vollständig zur Ruhe.
Wovor fürchteten sich diese Menschen denn? Und was war eigentlich ihr Plan?
Ashley kletterte aus dem Baum und stellte fest, dass ihr ganzer Körper steif vor Kälte war. Wachsam und lautlos lief sie zurück, und entspannte sich erst dann ein wenig, als das Lager außer Sichtweite war. Dann blieb sie wachsam, weil es immer noch unzählige Saurier in den Wäldern gab.
Aber es blieb zu befürchten, dass sie alle den Jagden des anderen Lagers zum Opfer fallen würden.
Mit neuem Wissen über die Fremden kehrte Ashley zu ihrem Lager zurück. Sie fragte sich immer noch, ob sie lieber Sicherheit oder Einsamkeit wählen würde. In gewisser Weise fühlte sie sich ihrem kleinen Lager verpflichtet. Wenigstens Kassia und Lucy würde sie ungern verlassen.
Sie war erleichtert, als sie das winzige Feuer ihrer eigenen Gruppe nach drei Tagen wieder erblickte.