Christina drehte sich vorsichtig um, kniete nieder und umklammerte einen Steher des Geländers. Unauffällig entfernte sie das Pflaster, das extrem gut klebte. Sie streifte es daher auf der Außenseite des Stehers ab, wobei der kleine Reißnagel herausfiel und in der Tiefe unter ihr verschwand. Sie wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Sie brauchte sich nicht zu verstellen, fühlte sie doch tatsächlich große Trauer und Schmerz. Es war paradox. Ihr Geliebter war tot... Ihre Zielperson war tot! Ohne Gegenwehr ließ sie sich nun auf die sichere Seite ziehen. Sie wurde ins Hotel gebracht und so gut es ging beruhigt. Die Bergrettung würde gleich mit dem Hubschrauber auftauchen und ein Psychologe vom Krisen-Interventionsteam war ebenfalls angefordert worden.
Josef Brantners Leiche wurde geborgen und in die Gerichtsmedizin Salzburg überstellt. Wie in solchen Fällen nicht selten, war der Körper mehrmals aufgeschlagen und bei den Aufschlägen bis auf die Unterwäsche entblößt worden. Entsprechend zerschunden war auch der gesamte Leichnam, der eine Identifizierung anhand eines Ausweis- oder Führerscheinbildes nicht mehr zuließ.
In Resten seiner Kleidung fand man seinen Autoschlüssel, von seinem Handy wurden nur noch kleine Fragmente gefunden.
Der angeforderte zweite Arzt hatte zwischenzeitlich Sonja ruhiggestellt, die nun an einem Tisch in der leeren Gaststube saß, eingehüllt in eine Aludecke und starr einen imaginären Fleck fixierte. Während ihre scheinbar unverletzte rechte Hand wegen eines Blutfleckes untersucht wurde, schien ihr erst klar zu werden was vorgefallen war.
>>Er wollte mich retten!<<
faselte sie,
>>Er hat mich also doch geliebt... und jetzt ist er tot... <<
Sonja Tremer wurde mit der Schafbergbahn nach St, Wolfgang gebracht, von wo sie mit einem Rettungsauto in die Christian Doppler-Klinik in die Psychiatrie überstellt wurde. Es ist dies bei Suizidgefährdeten Personen, insbesondere nach einem Selbstmordversuch die übliche Vorgangsweise.
Die Unfallerhebung auf dem Schafberg dauerte noch den ganzen Nachmittag an und ergab nach Einsicht der beiden sichergestellten Handyvideos und einem kurzen Lokalaugenschein an der Absturzstelle, dass Herr Josef Brantner beim Versuch, die ihm bekannte Sonja Tremer am Suizid zu hindern, ausgerutscht und abgestürzt war. Auch wurden zahlreiche Zeugen befragt, welche unisono von einem tragischen Unfall überzeugt waren, hatten sie doch selbst erlebt, wie der arme Mann in die Tiefe gestürzt war. Von einem Fremdverschulden war hier nicht auszugehen, nachdem Zeugen und Video den Unfallhergang glaubhaft belegten.
Die beiden Videos waren aus beinahe identischem Winkel gemacht worden. Man konnte darauf erkennen, dass sich die beiden bereits die Hand gereicht hatten, als das Unfallopfer kurz aufschrie, Sonjas Hand entglitt und abstürzte.
Da es sich um keine Mordermittlung sondern um eine Unfallerhebung handelte, wurde sie durch die diensthabenden Exekutivbeamten der örtlichen Polizeidienststelle durchgeführt und protokolliert. Die Spurensicherung, die bereits angefordert gewesen war, wurde davon verständigt, dass die Unfallerhebung abgeschlossen und eine weitere Untersuchung daher nicht mehr von Nöten sei. Zu Beginn der Abenddämmerung kehrte wieder Ruhe ein auf der Schafbergspitze.
Auf einem Steher des Geländers an der Absturzstelle klebte unentdeckt ein gebrauchtes Wundpflaster von der Größe einer Euromünze. Mantodea hatte ihren Auftrag erfüllt - doch um welchen Preis...