Alexey erzählte von sich. Soweit Val es mitbekam, erzählte er ihr tatsächlich alles. Sie verstand es zwar nicht immer und musste anfangs noch häufig nachfragen, damit er seine Worte für sie verständlicher formulierte, doch grundsätzlich bekam sie mit, um was es ging.
Nur Verstehen war nicht gleich Glauben. Eigentlich konnte Val nur das Allerwenigste glauben, da es so etwas wie Vampire oder besser gesagt Bluttrinker schlichtweg nicht gab. Jedenfalls nicht in der wirklichen Welt.
Was sie auf das Dilemma zurück brachte, dass sie hier nur erneut Bestätigung darin fand, sich wohl wirklich in der Hölle zu befinden oder völlig verrückt geworden zu sein. Doch wenn dem wirklich so war, wieso übernahm dann ihr wirrer Geist nicht ihr gängiges Wissen über Vampire? Warum berichtigte Alexey sie immer wieder, wenn es um ihn und seine Spezies ging? Denn nein, er verbrannte nicht in der Sonne – was sie ja selbst schon zu Genüge hatte feststellen können – sondern lediglich seine Augen. Von Blut alleine konnte er nicht leben, sondern benötigte auch ganz normale Nahrung, nur nicht in den Mengen, die ein erwachsener Mann seiner Statur eigentlich zu sich nehmen müsste.
Er konnte sich auch nicht in irgendein Tier verwandeln. Val hatte angedeutet, dass sich Vampire in manchen Legenden in einen Wolf oder eine Fledermaus verwandeln konnten. Dem war aber offenbar nicht so.
Darüber hinaus hätte Alexeys Leben vor seiner Versklavung eigentlich wie das eines jeden anderen Menschen sein können.
Er erzählte ihr, dass seine Mutter eine erstklassige Schneiderin gewesen war, die zwar nicht über die Maßen wohlhabend und schon gar nicht von hohem Stand gewesen war, aber ein sehr gutes Auskommen gehabt hatte. Über seinen Vater hatte sie nicht besonders viel gewusst. Er war nur zwei Tage lang bei ihr untergekommen. Was nicht ungewöhnlich unter Bluttrinkern war, denn ihre Zahl war so gering, dass sie sich gegenseitig unterstützten, sofern sie sich wohlgesonnen waren.
In Alexeys Fall waren sich seine Eltern wohl sehr zugeneigt gewesen, denn sonst säße er kaum hier.
Sobald er dann das Mannesalter erreicht hatte, hatte er die Seidenballen und Schnitte hinter sich gelassen und sich aufgemacht, um seinen Vater zu suchen. Bei jungen Männern in dieser Zeit wäre es das 14. Lebensjahr gewesen, was schon verrückt genug klang, doch bei Vampiren verhielt es sich offenbar anders. Sie werden erst als erwachsen angesehen, wenn sämtliche Vampireigenschaften vollständig in Erscheinung getreten sind.
Vampire kann man laut Alexeys Erzählungen anfangs nicht von gewöhnlichen Menschen unterscheiden. Ihre Augen vertragen das Sonnenlicht. Sie benötigen kein Blut. Sie haben noch keine Reißzähne. Keine übernatürlichen Reflexe oder übermenschliche Stärke. Alles ganz normal also. Doch im Laufe der Pubertät, wenn sich der Körper eines jeden ohnehin sehr stark veränderte, setzt sich der vampirische Erbanteil durch. Bei Alexey war seine vollständige Entwicklung in seinem 16. Lebensjahr abgeschlossen. Seither hatte er auch seine Mutter nicht wiedergesehen.
Anfangs erzählte Alexey die Geschichte seines Lebens noch sehr nüchtern, während er den Blickkontakt zu Val hielt und auch geduldig ihre Zwischenfragen beantwortete, so gut er konnte, damit sie ihn verstand.
Er erklärte Val, dass er nicht lange alleine durch die Weltgeschichte gereist war, sondern sich recht bald mit menschlichen Jägern zusammengeschlossen hatte, damit sie ihm gegen eine kleine Bezahlung alles beibrachten, was man über das Überleben in der Wildnis wissen musste. Nicht, dass er nicht alleine klargekommen wäre. Er war schneller als jedes Tier. Doch besagtes Tier wollte auch richtig zerlegt und verarbeitet werden. Fährtenlesen war neben seinem ausgezeichneten Geruchssinn auch eine äußerst nützliche Fähigkeit. Genauso wie Fell zu gerben oder sich einen eigenen Bogen zu bauen.
Rückblickend betrachtet hatte er sich in den paar Nächten, die er mit den Jägern verbracht hatte, mehr nützliches Wissen angeeignet, als in seinem ganzen Leben bei seiner liebevollen Mutter.
Ab hier begann es offenbar für Alexey schwieriger zu werden, was das Erzählen anging. Denn er schaute Val nur noch sporadisch in die Augen, konzentrierte sich lieber auf seine Hände und fuhr sich immer wieder durch sein Haar oder übers Gesicht. Sein Redefluss stockte bisweilen, doch nicht etwa, weil er nach einfachen Formulierungen suchte, sondern offenbar mit seinen Erinnerungen rang.
Alexey erzählte Val, dass er lange alleine unterwegs gewesen war. Er kannte nur die Richtung, in die sein Vater vor so vielen Jahren gezogen war. Es war nicht viel, doch zumindest ein Anhaltspunkt und zugleich die Zeit, in der er das wohlerzogene Stadtkind allmählich von sich abgestreift hatte.
Er mied die Menschen weitestgehend. Ernährte sich stattdessen vom Fleisch und Blut der Tiere, die er fing und bemerkte dabei zunächst nicht, wie sein Blutdurst ihn schleichend zermürbte, denn Tiere waren kein Ersatz für menschliches Blut, und er begann schwächer zu werden.
Alexey – der bisher immer von Menschen getrunken hatte, die seine Mutter sorgfältig ausgesucht und großzügig entlohnt hatte und zudem über ihn und seine wahre Natur bescheid wussten – haderte mit dem Gedanken, sich einem wildfremden Menschen ohne dessen Wissen aufzuzwingen. In seinem jugendlichen Übermut hatte er seiner Mutter versichert, dass er schon zurechtkommen würde. Doch letztendlich hatte Alexey es nicht fertig gebracht, Menschen zu jagen, um sich ihr Blut einfach zu nehmen oder sich anderweitig auf sie einzulassen, um so an diese wertvolle Flüssigkeit zu gelangen.
Er war von Nacht zu Nacht schwächer geworden, bis ein gewaltiges Unwetter ihn endgültig in die Knie zwang. Bisher hatte er Menschen gemieden, aber nun suchte er mit letzter Kraft ihre Nähe. Doch alles, was er in dem tobenden Sturm um sich herum erreichen konnte, war ein heruntergekommener Bauernhof gewesen.
Ins Haupthaus hatte er sich nicht gewagt, also hatte er sich im Stall verkrochen, wo es dem Geruch nach ein paar Tiere gab, die ihm zumindest etwas von seiner Kraft zurückgeben würden. Doch im Heu war er auf ein schlafendes Mädchen gestoßen. Es war nicht älter als sechs oder sieben Jahre alt und spindeldürr gewesen. Vom harten Tagewerk so erschöpft, hatte es seine Anwesenheit noch nicht einmal bemerkt. Erst als er neben dem Mädchen ins Heu gesunken war, war es unruhig geworden, doch inzwischen hatte der Duft seines aufgezehrten Körpers seine volle Wirkung entfaltet.
Ihr Name lautete Cilla und sie hatte erstaunlich intensiv auf seinen beruhigenden Duft reagiert. Alexey hatte sie nur in den Arm nehmen und ihr ein wenig durch ihr gelocktes Haar streicheln müssen, da war sie auch schon wieder tief und fest eingeschlafen, sodass sie nicht einmal bemerkt hatte, wie er gerade so viel wie nötig von ihrem Blut nahm.
An diesem Punkt der Geschichte schwieg Alexey, während er regungslos seine Hände anstarrte. Inzwischen hatte er sich soweit auf seinem Bett zurückgezogen, dass er mit dem Rücken an der Wand lehnte. Auch Val war mittlerweile vom Tisch heruntergekommen und näher an ihn herangetreten, um die Flamme des Öllichts zu betrachten, das neben dem Bett auf der Truhe stand, während sie sich dagegen lehnte und ihm aufmerksam zuhörte.
Als das Schweigen immer länger andauerte, sah sie Alexey fragend an, doch er schien sie gar nicht zu bemerken. Das Mädchen hatte wohl eine große Bedeutung in Alexeys Leben gespielt und es fiel ihm sichtlich schwer, über Cilla zu sprechen. Vielleicht erzählte er deshalb schließlich in nur knappen, harten Sätzen, was weiter geschehen war, während seine Stimme immer ausdrucksloser und sein Gesichtsausdruck immer verschlossener wurde.
Er berichtete Val davon, dass ihn am nächsten Morgen, noch bevor die Sonne aufgegangen war, die Eiskönigin gefunden hatte. Damals war sie noch völlig anders gewesen. Kaum zur Frau herangereift war sie von ihrem Onkel mit einem alten Säufer verheiratet worden, der es innerhalb weniger Jahre geschafft hatte, ihre Mitgift und sein kleines Vermögen zu versaufen. Der kleine, dem Zerfall zum Opfer gefallene Bauernhof war alles gewesen, was ihnen noch geblieben war. Der Ehemann selbst hatte sich halb zu Tode gesoffen und vegetierte schon seit Monaten kaum ansprechbar in seinem Bett vor sich hin. Die kleine Cilla – die letzte verbliebene Sklavin – musste sich um ihn kümmern und zusätzlich auch noch die schweren Arbeiten am Hof stemmen. Selbst die Eiskönigin hatte keinen Tag ohne schmerzenden Rücken, aufgeriebenen Händen oder Hunger erlebt. Sie war eine Frau gewesen, die Leid und Entbehrung am eigenen Leib erfahren hatte, wofür Alexey sie damals bewunderte. Denn Aufgeben lag nicht in ihrer Natur.
Damals an diesem Morgen und auch viele Monate danach hatte Alexey nicht begriffen, wer sie in Wirklichkeit war.
In dem Punkt verstand Val nicht, was genau er meinte. Es ging hier nämlich nicht um ihren zweifelhaften Charakter, sondern tatsächlich um etwas anderes, doch sie wollte ihn nicht unterbrechen, also setzte sie sich ans Kopfende des Bettes und lauschte weiter Alexeys abgehakten Worten und hoffte, von selbst noch dahinter zu kommen, was er ihr damit sagen wollte.
Trotz wirrem Haar, zerlumpten Kleidern und vor Schmutz strotzender Haut hatte Alexey bis dahin noch nie eine schönere Frau gesehen. Eine, die versucht hatte, ihn mit einer Mistgabel zu erstechen, als sie ihn im ersten Moment für einen Räuber hielt, der ihre ohnehin schon klägliche Existenz bedrohte.
Alexey war es gelungen, das Missverständnis aufzuklären. Er bat lediglich um ein paar Tage, in denen er sich von der beschwerlichen Reise wieder erholen konnte und bezahlte sogar dafür. Sowohl mit dringend benötigtem Geld als auch mit kräftigen Armen, die ordentlich anpacken konnten.
Die Eiskönigin hatte sich schließlich einverstanden erklärt und ihn bei Cilla im Heu schlafen lassen. Das Mädchen selbst war ihm vom ersten Tag an kaum noch von der Seite gewichen und schnell hatte sich Zuneigung in Alexeys Herzen geregt. Cilla war wie die kleine Schwester für ihn gewesen, die er nie gehabt hatte und hatte kein einziges Mal in Frage gestellt, dass seine Augen das Sonnenlicht nicht vertrugen und er tagsüber deshalb ein wenig Hilfe brauchte. Die meiste Arbeit hatte er jedoch ohnehin nachts erledigt, als die anderen bereits schliefen und auch um den Mann der Eiskönigin hatte er sich sehr bald alleine gekümmert.
Alexey war ihm von Anfang an mit Abneigung begegnet, nach allem, was er seiner wunderschönen jungen Frau angetan hatte, sodass es ihm nicht schwer gefallen war, ihn schließlich als seine Blutquelle zu nutzen, zumal der Kerl ohnehin nichts davon mitbekommen hatte.
Aus den vereinbarten Tagen wurden schließlich Wochen und irgendwann Monate. Alexey hatte sein Ziel zwar nie ganz aus den Augen verloren, doch ein anderer Wunsch war in seinem Herzen gereift – er wollte Cilla und die noch junge Eiskönigin nicht im Stich lassen, sondern für sie sorgen, so gut er es vermochte. Zumal seine Gefühle für Letztere nicht von solch unschuldiger Natur waren wie die zu Cilla. Im Gegenteil. Von Tag zu Tag wuchs eine bis dahin noch ungekannte Sehnsucht in ihm. Alexey hätte wirklich alles für ein Lächeln von ihr gegeben. Ein Wort des Lobes und der Dankbarkeit. Stundenlang hätte er ihr zuhören oder sie ansehen können.
Erst sehr viel später war ihm auf brutale Weise klar geworden, dass sie ihn von Anfang an mit ihren Fähigkeiten bezirzt, und er sich noch nicht einmal dagegen gewehrt hatte.
Es klang, als wäre es tatsächlich eine Fertigkeit, jemanden so sehr bezirzen zu können, dass dieser jemand einem völlig verfiel. Val wusste, manche Frauen waren tatsächlich dazu in der Lage, Männer so um den Finger zu wickeln. Doch auch sie begriff bis zu dem Zeitpunkt nicht, als Alexey mit einem tiefen Grollen in der Brust von jener Nacht erzählte, die sein Schicksal besiegelte, dass er etwas ganz anderes damit gemeint hatte. Etwas, das über die normalen Möglichkeiten einer Frau hinausging.
Alexeys Hände ballten sich zu Fäusten, während er an die Decke starrte und mit gepresster Stimme davon berichtete, wie dieses elendige Drecksstück ihn schließlich in ihr Bett gelockt hatte. – In einer Nacht mit einem schwarzen Mond.
Genau wie bei Val hatte sie damals Alexeys Unschuld geopfert und ein äußerst finsteres Ritual vollzogen, dessen Ergebnis zum ersten Mal die zahlreichen Schnitte an seinem ganzen Körper gewesen waren, die sie in den letzten beiden Wochen nur zu genau selbst kennengelernt hatte.
„Warum diese Schnitte?“, wagte Val nun doch dazwischen zu fragen, weil sie einfach nicht den Sinn hinter diesem abartigen Ritual verstand.
Alexey sah sie nicht an, er richtete seinen Blick wieder auf seine Hände, die er immer wieder auf seinem Schoß zu Fäusten ballte und wieder lockerte. Ebenso wie seine breiten Schultern wohl der Lockerung bedurften, doch das änderte nichts daran, dass er vom Scheitel bis zu den Sohlen massiv angespannt blieb.
„Es sind Siegel“, presste er schließlich hervor. Sein Gesicht war eine starre Maske heftig unterdrückter Wut. „Um ihre Kraft zu sammeln. In mir.“
„Kraft?“ Val wagte kaum nachzufragen, denn beinahe könnte man meinen, die Temperatur im Raum wäre um ein paar Grad gefallen, während eine finstere Wolke Alexey geradezu greifbar umgab.
Das war nicht mehr ihr liebevoller, fürsorglicher Beschützer. Der Mann, der da im Moment vor ihr saß, wirkte, als wäre er kurz davor, sich seiner wilden Mordlust hinzugeben. Das beständige Grollen in seiner Brust klang irgendwie animalisch und seine ausgefahrenen Fangzähne machten den Eindruck nicht gerade besser. Im Augenblick wirkte er tatsächlich wie ein mächtig angepisster Vampir, der einem jeden Moment nicht nur den Kopf, sondern auch noch sämtliche andere Gliedmaßen abreißen könnte. Obwohl es ihn ja eigentlich nicht geben dürfte.
Val wich instinktiv in die Ecke zwischen Wand und Truhe zurück und versuchte sich klein und unauffällig zu machen.
Als Alexey das bemerkte, drehte er zum ersten Mal seit einer ganzen Weile seinen Kopf in ihre Richtung und sah sie an.
Seine Pupillen waren riesig, sodass sie fast das strahlende Blau seiner Iris verschluckten, doch nachdem er einmal tief eingeatmet hatte, wurden sie ein wenig kleiner und der Ausdruck in seinem Gesicht war nicht mehr ganz so mörderisch.
„Ihr Zwang, um mir zu befehlen“, antwortete er ihr so ruhig, wie möglich. „Ein Wort von ihr und ich gehorche. Ihr Wille, meine Hände.“
„Und dein Wille?“
Alexey schüttelte den Kopf. „Keine Bedeutung. Mein Körper gehorcht.“
„Aber … wie das möglich?“ Val begriff es einfach nicht, so sehr sie es auch versuchte. Wenn die Eiskönigin Alexey bedrohte, ihn erpresste und ihn dadurch dazu zwang, all diese grausamen Dinge zu tun, dann würde sie es verstehen, aber offenbar war das bei ihm nicht das Mittel ihrer Wahl. Nicht so, wie die Eiskönigin Val mit Ceara erpresste.
***
„Mit Magie.“
Alexey konnte nicht länger sitzen bleiben. Er kam leichtfüßig auf die Beine und ging ein wenig im Raum auf und ab, während er sich streckte und seine angespannten Muskeln zu lockern versuchte. Dabei dachte er darüber nach, wie er seiner kleinen Kriegerin dieses Wort erklären konnte, denn er hatte es schon ein paar Mal erwähnt, doch sie verstand es offenbar nicht.
Langsam flaute auch seine heftige Wut wieder ein wenig ab, doch ganz würde sie bei diesem Thema wohl nie verschwinden. Allein, wenn er an die kleine Cilla dachte …
Alexey wirbelte zu Valeria herum und fragte vielleicht ein wenig zu grob: „Kennst du Jene?“
Seine kleine Kriegerin zuckte nur ein wenig zusammen, nahm ihm jedoch seine Stimmungsschwankungen glücklicherweise nicht übel. Dennoch schüttelte sie den Kopf. Er hätte auch nicht erwartet, dass sie von Jenen wusste, obwohl sie selbst zu ihnen gehörte. Das hatte er inzwischen endgültig begriffen.
„Jene – das sind Männer und Frauen mit … besonderen Gaben.“ So konnte man es natürlich auch ausdrücken, doch für jene, die diese ‘Gaben’ zu spüren bekamen, waren sie eher ein Fluch.
„Gaben?“ Valeria runzelte die Stirn. „Welche Gaben?“
„Ganz verschiedene Gaben. Ich kenne jemanden, der Gegenstände bewegen kann, ohne sie zu berühren.“ Oktavia war sehr versiert darin, sie nicht nur zu bewegen, sondern vor allem mit ihrem Geist alles Mögliche zu berühren. Alexey hatte nicht vergessen, wo sie ihre magischen Hände zuletzt gehabt hatte.
„Dann gibt es eine Frau, zwischen deren Schenkel die Pforte zur Unterwelt lauert. Sie kann Männern die Lebenskraft entziehen, wenn sie sich mit ihr vereinen.“
Valerias Stirnrunzeln verstärkte sich und Alexey sah sie ernst an. „Ich weiß, wovon ich spreche. Ich hatte schon mehrmals das zweifelhafte Vergnügen, diese Unterwelt zu ergründen und mit meiner Lebenskraft dafür zu bezahlen.“
Die Augen seiner kleinen Kriegerin weiteten sich, ehe ihm ihre Wut stechend scharf und doch auch irgendwie beruhigend in die Nase drang. Sie war nicht auf ihn wütend, sondern hatte sofort begriffen, dass er sich Julia nicht freiwillig hingegeben hatte. Allmählich begann ihr offenbar eine Erkenntnis zu dämmern.
„Und die Dritte?“
Ja, sie hatte verstanden, von wem er sprach.
„Sie ist gefeit vor den Gaben von Jenen. Hedera kann sie nicht kontrollieren oder beeinflussen. Oktavia kann sie nicht mit ihren geistigen Händen berühren und Julia, nun, sie haben gewiss beide noch nicht versucht, Aurelia die Lebenskraft zu entziehen.“
Valerias Wut legte sich wieder ein wenig und sie sah nachdenklich auf ihre Finger, während es hinter ihrer Stirn arbeitete. Sie wirkte mit seinen Antworten eindeutig noch nicht zufrieden, aber zumindest hatte Alexey schon einen Schritt in die richtige Richtung gemacht.
„Wie das alles möglich, Alexey?“, wollte sie schließlich wissen.
Alexey zuckte mit den Schultern und fuhr sich wohl schon zum hundertsten Mal heute durch sein Haar. „Wie ist das alles überhaupt möglich? Ich bin kein Mensch, aber dennoch gibt es mich. Jene sind zwar Menschen, doch offenbar noch mehr als das. Die meisten Menschen wissen nichts von mir oder Jenen, doch nur, weil man etwas nicht weiß, heißt das nicht, dass es nicht noch mehr gibt auf dieser Welt.“
„Ich … verstehe.“ Valeria nickte langsam. „Ich kannte Mann, der … Er Tod sehen bei Menschen, die sehr krank, aber nicht wissen, dass sie krank.“
Alexey nickte ebenfalls. Offenbar war Valeria bereits mit Jenen in Berührung gekommen, ohne es selbst zu wissen.
„Und wie gehen weiter Geschichte?“ Sie sah ihn ernst an, der Tonfall jedoch war überaus sanft. Sie wollte ihn offenbar nicht drängen, aber dennoch mehr über ihn erfahren.
Alexey verspannte sich schlagartig erneut, während er an den Punkt zurückdachte, an dem er die Geschichte unterbrochen hatte. An seine Versklavung, nachdem er Hedera bisher aus freien Stücken geholfen hatte. Dabei hätte sie es noch nicht einmal nötig gehabt. Alexey war ihr nach all den Monaten bereits so verfallen und zugeneigt gewesen, er wäre bei ihr geblieben, selbst wenn sie seine Gefühle nicht im gleichen Maße erwidert hätte. Doch sie hatte ihn verraten und somit auch noch den letzten Rest an Wärme für sie aus seinem Herzen verbannt.
„Sie zwang mich, bei ihr zu bleiben. Für sie zu arbeiten. Ihr zu Diensten zu sein und … sie trank mein Blut. Immer wieder ein wenig davon.“
„Warum? Sie kein Bluttrinker.“ Valeria schauderte es.
„Mein Blut …“ Alexey rieb sich den verspannten Nacken, während er zu Boden starrte. Er wünschte nicht zum ersten Mal, er wäre nicht so wertvoll für sie. Hedera hätte vielleicht längst das Interesse an ihm verloren.
„Mein Blut ist mächtig. Es heilt. Es gibt Hedera Kraft und verstärkt ihre Gabe und es lässt sie nicht älter werden. Es lässt sie alle nicht älter werden.“
Wahrscheinlich musste er seiner kleinen Kriegerin nicht erklären, wen er mit alle meinte. Sie hatte inzwischen schon verstanden, um wen es ging.
„Es heilt?“ Sie sah ihn mit großen Augen an, sodass Alexey zu ihr hinüber ging und sich wieder setzte.
„Gib mir deine Hand“, bat er ruhig, obwohl er im Moment noch alles andere als das war, doch er wollte seine kleine Kriegerin nicht verschrecken.
Zu Alexeys Erstaunen zögerte Valeria jedoch kaum, sondern reichte ihm ihre Hand und legte sie in seine. Das entlockte ihm dann doch ein kleines Lächeln.
Er hob ihre Hand an seinen Mund und hauchte ihr einen zarten Kuss auf den Handrücken. Die Reaktion folgte sofort, Valerias Wangen röteten sich ein wenig und ihr Herzschlag beschleunigte sich, was wiederum auch seinen eigenen dazu anregte, schneller zu schlagen.
„Sieh her.“ Alexey zog Valerias Aufmerksamkeit auf den kleinen Schnitt in ihrem Daumen und strich zart darüber. Die Wunde blutete natürlich nicht mehr, doch sie war noch deutlich zu sehen.
Alexey hob seinen eigenen Daumen an seinen Mund und drückte ihn für sie deutlich sichtbar gegen die Spitze seines rechten Fangzahns, sodass ein einzelner Tropfen daraus hervorquoll.
„Sieh genau hin.“ Er strich mit dem Tropfen über die kleine Wunde, wartete einen Augenblick und beugte sich dann vor, um den Daumen seiner kleinen Kriegerin mit seinen Lippen zu umschließen und mit der Spitze seiner Zunge das Blut davon zu lecken, während er Valerias Blick keinen Moment losließ. Nicht nur in ihre Wangen stieg Hitze auf, sondern auch in seinem Körper wurde es plötzlich merklich heißer. Doch Gefühlsregungen dieser Art hatten im Moment keinen Platz, also ließ Alexey Valeria los und richtete sich auf, sodass sie selbst sehen konnte, dass von dem Schnitt nun nichts mehr übrig war.
Sie wirkte zunächst erstaunt und doch irgendwie auch nicht gänzlich überrascht. Stattdessen runzelte sich die Stirn seiner kleinen Kriegerin, während sie nachdenklich über die Kuppe ihres Daumens strich.
Plötzlich zuckte sie zusammen, als hätte man sie geschlagen, sodass sich Alexeys Puls augenblicklich beschleunigte und er sich rasch in seiner Kammer umsah, doch er konnte keine Gefahr ausmachen.
„Das verrückt!“, stieß sie schließlich wütend hervor. „Dieses Weib! Diese … Es vor meinen Augen. Ganze Zeit! Dein Blut heilen mein Rücken!“
Valeria hatte ihre Worte zwar nicht als Frage gestellt, dennoch nickte Alexey einmal vorsichtig. Offenbar hatte sie sich wieder daran erinnert.
„Aber …“ Sie richtete ihren Blick erneut auf die Hand in ihrem Schoß. Auf ihren nun unversehrten Daumen. „Das nicht einziges Mal, richtig? Du mich heilen … oft.“ Sie strich sich mit zittriger Hand eine Strähne ihres langen Haars zurück, ohne ihn jedoch anzusehen. „Bei Ritual, als du mir …“
Alexey ergriff abermals ihre Hand und hielt sie sanft fest. Sie sah ihn immer noch nicht an. „Ja. Nachdem ich dir sehr wehgetan und dich verletzt habe. Ich wollte es für dich angenehmer machen, wenn wir … Wenn ich schon keine andere Wahl hatte. Es tut mir leid, dass ich nicht stark genug war, mich dagegen zu wehren. Ich bin schon lange nicht mehr stark genug und nun sind sie zu fünft.“
„Fünft?“ Valeria hob nun doch den Kopf und sah ihn an.
Alexey nickte. „Ja, dieser blonde Schönling … Er gehört auch zu Jenen. Seine Gabe sind Blitze, die aus seinen Händen kommen.“
Valeria stieß einen leisen Fluch aus und ihr Gesicht wurde grimmig. Er musste nicht verstehen, um zu wissen, was sie meinte. Mehr von denen bedeutete mehr Leid für sie beide. Erstaunlich war jedoch auch, dass sie im Moment seine Worte gar nicht infrage stellte, sondern an mögliche Konsequenzen dachte.
„Valeria …“, begann Alexey daher schließlich zögerlich, während er immer noch ihre Hand hielt und zärtlich mit dem Daumen darüber streichelte. Gab es einen idealeren Zeitpunkt als diesen, um ihr von ihrer eigenen Abstammung zu erzählen? Vermutlich nicht. Es würde nie wirklich einen guten Zeitpunkt dafür geben.
„Es gibt da etwas, das du wissen solltest …“
Alexey berührte sanft ihre Wange, da sie ihm nicht richtig zuhörte und ihr kurzes Zusammenzucken bestätigte ihn nur in seiner Annahme.
„Etwas über dich.“
Nun hatte er ihre volle Aufmerksamkeit.
„Über mich?“
Er nickte und nahm seine Hand wieder runter. „Ich habe es in jener schrecklichen Nacht herausgefunden, als ich dich …“ Er verstummte. Schluckte einmal hart und fuhr dann fort. „Während des Rituals. Hederas Freundinnen waren dabei, um sie mit ihrer Kraft zu unterstützen. Kraft, nicht Gabe. Da gibt es einen Unterschied. Jedenfalls könnte Hedera mich ohne Hilfe kaum noch während des Rituals bezwingen. Denn auch ich werde im Laufe der Jahre stärker.“ Darum hatte er anfänglich auch die Hoffnung gehegt, er müsste nur lange genug ausharren, um sie irgendwann überwältigen zu können. Doch mit der Zeit hatte sie immer mehr Gleichgesinnte gefunden, die ihr zur Seite standen, und er war alleine geblieben. Bis jetzt.
„Ihre Freundinnen verstärken also mit ihrer Kraft Hederas Gabe, um mich zu bezwingen und helfen ihr anschließend dabei, das alles in mir zu versiegeln.“
In wie weit Valeria ihm bisher folgen konnte, wusste er nicht, denn sie sah ihn mit Anspannung an und wartete offenbar darauf, zu erfahren, was das alles mit ihr zu tun hatte.
Alexey nahm ihre Hände und legte sie an seine Brust, dort wo sie ihn damals mit ihrer eigenen Kraft gezeichnet hatte.
„Ich vermag nicht zu sagen, in wieweit du dich noch daran erinnern kannst, doch als es für uns beide dem Ende zu ging … Deine Fingernägel durchstießen meine Haut und … etwas von deiner Kraft ging auf mich über. Was genau geschah, kann ich dir nicht sagen, doch im Gegensatz zu Hederas Freundinnen hast du … Irgendwie hast du mich auf ähnliche Weise an dich gebunden, wie ich an sie gebunden bin, nur unterliege ich keinem Zwang, wenn du etwas von mir verlangst.“ Was er anfangs nicht ausgeschlossen hatte, denn obwohl er die genaue Vorgehensweise nicht verstand, war sich Alexey dennoch irgendwie bewusst, dass sich Valerias Magie mit der von Hedera und ihrer Gabe vermischt hatte und es dabei durchaus möglich gewesen wäre, dass seine kleine Kriegerin auf diese Weise Macht über ihn besaß. Doch so schien es am Ende nicht zu sein, auch wenn er die Verbindung zu ihr und vor allem ihre Magie in sich deutlich fühlte.
Alexeys Blick ruhte auf Valerias Gesicht, suchte nach Anzeichen von Verstehen, doch sie blickte ihn immer noch erwartungsvoll an, als warte sie auf die Pointe seiner Erzählung. Er kam dann wohl besser zum Wesentlichen.
„Nicht nur jener Moment hat mir die Wahrheit über dich verraten, sondern auch dein kraftvolles Blut.“ Er holte noch einmal bedeutungsschwer Luft. „Du gehörst ebenfalls zu Jene und hast eine besondere Gabe, Valeria.“
Es war, als hätte plötzlich etwas sämtliche Wärme aus den Händen seiner kleinen Kriegerin gesogen, die sie ihm kurz darauf auch entzog, während sie immer blasser wurde. Ihr Mienenspiel blieb weitestgehend unbewegt, doch er hörte es an dem kaum wahrnehmbaren Zittern in ihren monotonen Worten, dass sie diese Neuigkeit geradezu schockierte.
„Welche Gabe?“ Es war nur ein leises Wispern.
Erneut wollte er nach ihren Händen fassen, doch dieses Mal wich Valeria ihm aus. „Welche Gabe?!“
„Ich denke, du besitzt die Gabe des Heilens, da ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie du dich selbst von meinem Biss geheilt hast.“
Valeria stieß ein bitteres Schnauben aus, ehe sie ganz von ihm wegrutschte und auf ihre nackten Füße kam. Sie ging nur ein paar Schritte und blieb mit dem Rücken zu ihm stehen, während sie fest die Arme um sich geschlungen hatte.
Alexey musste sein Verlangen bekämpfen, zu ihr zu gehen und sie fest zu halten. In diesem langen, weißen Nachthemd, das ihr viel zu locker am Körper hinab hing, sah sie so unglaublich verloren aus. Auch gelang es ihm nicht genau, ihre Gefühle zu wittern, da es wie leergewischt in ihr zu sein schien, während sie kaum atmete.
„Heilen?“, fragte sie leise. „Heilen?!“ Plötzlich riss sie sich wie von Sinnen das Nachthemd über den Kopf und warf es zu Boden, während sie ihm einen zornigen Blick über ihre Schulter zu warf. „Sieh hin! Nichts heilen!“
Alexey sah hin. Er hatte immer hingesehen, obwohl es ihn selbst wahnsinnig schmerzte, all ihre Verletzungen und Narben zu sehen, die er nicht hatte verhindern können. Ihr schmaler Rücken war überzogen davon. Prellungen, Blutergüsse, Peitschennarben. Alles war schon im Begriff, allmählich zu verblassen, dennoch machte es deutlich, dass tatsächlich nichts an seiner kleinen Kriegerin schneller als gewöhnlich heilte. Zumindest nicht dort, wo er nicht ein wenig mit seinem Blut nachgeholfen hatte.
Der Gedanke kam wohl auch ihr in den Sinn, denn Valeria wirbelte schließlich herum und zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn. „Du gar nichts wissen! Wenn wahr, warum du mich dann immer wieder heilen müssen? Hm?“
Alexey blieb vollkommen ruhig und behielt seinen Blick ausschließlich auf ihr Gesicht gerichtet. „Dein Körper ist sehr jung. In jungen Jahren sind Jene noch sehr schwach.“ Angreifbar. Leichte Beute. Das war zumindest Alexeys Wissensstand im Moment. Er hätte dieses Wissen gerne schon früher besessen, um Hedera zu vernichten, bevor sie stark genug geworden war, das gleiche mit ihm zu tun.
„Deine Gabe entwickelt sich wahrscheinlich noch. Selbst Hedera konnte ihre Gabe anfangs nicht gut beherrschen. Wäre es anders, sie hätte von Anfang an ein anderes Leben gehabt, doch sie brauchte mich, um sich aus diesem Sumpf aus Entbehrung und Armut hervorzukämpfen. Mein Blut hat ihr dabei geholfen, ihre Gabe schneller zu entwickeln und stärker zu werden, als sie es eigentlich sein sollte.“ Davon abgesehen, dass er ihr auch in vielen anderen Dingen sehr nützlich gewesen war.
„Dennoch, ich sicher, du irren.“ Valeria sah wütend und nachdenklich auf ihre ausgestreckten Hände, ehe sie sie zu Fäusten ballte und vor ihr Gesicht hielt. Sie bebte am ganzen Körper, doch nicht ausschließlich vor Wut. Sie wirkte ebenfalls verzweifelt und ja, vielleicht auch verwirrt. Wer könnte es ihr verdenken?
Alexey stand auf und nahm die Decke mit sich, um sie seiner kleinen Kriegerin um die bloßen Schultern zu legen, doch sie wich vor ihm zurück, nahm stattdessen ihr Nachthemd wieder zur Hand und zog es sich rasch über, während sie zur Tür ging. Sie sah ihn nicht an, als sie sich mit den Worten „Ich muss nachdenken“ verabschiedete.
Kurz darauf verließ sie seine Kammer und ließ ihn mit wild klopfendem Herzen und dem grässlichen Gefühl – an diesem Abend mehr als nur einen Fehler begangen zu haben – allein.