Dem Gefühl nach war Val gerade erst eingeschlafen, als sie auch schon relativ unsanft wieder geweckt wurde. Jemand berührte ihr Gesicht, rüttelte an ihrer nackten Schulter und sprach eindringlich auf sie ein.
Ceara – der Stimme nach zu urteilen.
Val musste gegen die Helligkeit im Raum anblinzeln, während sie die Hand ihrer Freundin nahm und von sich wegzog, um sich aufrichten zu können.
„Was ... geschehen?“, wollte sie immer noch schlaftrunken wissen, nachdem sie keine unmittelbare Gefahr hatte erkennen können.
Niemand antwortete ihr, weshalb Val sich noch ein letztes Mal den Schlaf aus den Augen rieb und dann sehr viel wacher hochblickte.
Ceara saß vor ihr, die Hände im Schoß gefaltet und mit einem Gesichtsausdruck, als wüsste sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Kore, die daneben kniete, hatte damit jedoch keine Probleme. Sie sah nicht nur so aus, als hätte sie Todesängste ausgestanden, sondern weinte immer noch stumm vor sich hin, obwohl auch sie irgendwie erleichtert zu sein schien.
Wie schon in der Nacht zuvor löste ihr Anblick in Val gemischte Gefühle aus. Einerseits war sie unglaublich erleichtert darüber, dass ihre Freundin tatsächlich noch am Leben war, andererseits hatte sie nach ihrer unbedachten Aktion in der Küche gestern eine Scheißangst, dass das nicht mehr lange so bleiben könnte.
Ein falsches Wort von Vanadis' Mörder an seine Herrin und sie alle drei könnten schon bald ihr Leben aushauchen.
Es war wirklich unglaublich dumm von ihr gewesen. Das hätte sie nicht tun sollen.
„Dir geht gut?“, wollte Ceara zaghaft wissen, die immer noch nicht ihre Augen von Val nehmen konnte, während ihr Blick dabei immer wieder forschend über ihren Körper glitt, als ob sie etwas suchen würde.
„Ja ...“ Val lächelte vorsichtig, während sie selbst in sich hineinhorchte, doch da war kein Schmerz mehr in ihr. Nicht einmal das kleinste Ziepen konnte sie spüren. Es ging ihr dementsprechend sogar mehr als gut. Genau genommen sogar fantastisch.
Etwas, das eigentlich nicht hätte möglich sein sollen, bedachte man noch ihren Zustand am gestrigen Morgen.
Erst bei diesem Gedanken wurde Val langsam klar, was mit ihren Freundinnen los war und dass sie selbst vielleicht gar nicht wirklich verrückt wurde, sondern hier tatsächlich etwas vor sich ging, das sie einfach nicht begreifen konnte. Ebenso wenig wie ihre Freundinnen es taten.
Der Gedanke war irgendwie tröstlich.
Fast als Bestätigung ihrer Gedanken hielt ihr Kore plötzlich das zerrissene und mit Blut befleckte Kleid von gestern entgegen und sah sie fragend an.
Val nahm es ihr vorsichtig ab und betrachtete selbst für einen Moment die rotbraunen Flecken auf dem hellen Stoff.
Wenn sie es richtig verstanden hatte, nahmen ihre Freundinnen an, das Blut auf dem Kleid wäre ihres und deshalb hatten sie Val geweckt, um zu sehen, ob mit ihr so weit alles in Ordnung war.
Was sogar mehr als nur dem Fall entsprach, denn Val konnte völlig schmerzfrei aufrecht sitzen und zeigte auch sonst keine logisch nachvollziehbare Reaktion auf eine so dermaßen große Verletzung, wie sie diese bis gestern noch an ihrem Rücken gehabt hatte.
Genau genommen hätte sie sich noch vor Schmerzen winden müssen, selbst wenn das auf dem Kleid nicht ihr Blut war.
Vals Gedanken fingen an, sich zu überschlagen.
Die Ereignisse des gestrigen Tages waren so surreal und verrückt, dass sie es selbst kaum glauben konnte. Wie also sollte sie das ihren Freundinnen erklären mit dem geringen Wortschatz, den sie momentan noch besaß?
Sollte sie überhaupt die Wahrheit über ihre wundersame Heilung und diese äußerst dumme Aktion in der Küche verraten?
Ein Gefühl sagte Val, dass es besser war, ihre Freundinnen nicht in diese Geheimnisse einzuweihen. So ungern sie auch etwas vor ihnen verheimlichte, es gab Dinge, die konnten tödlich enden, nur, weil man davon wusste, und das würde sie ganz bestimmt nicht riskieren. Weshalb sie schließlich auch das Kleid zusammenknüllte und es eigentlich irgendwo entsorgen wollte, doch erst da wurde Val bewusst, dass sie sonst nichts zum Anziehen hatte.
Scheiße ...
„Blut?“, versuchte es Kore noch einmal, nachdem sie immer noch keine ausreichend zufriedenstellende Antwort auf ihre unausgesprochene Frage erhalten hatte.
Val schüttelte nur den Kopf. „Nicht meines.“
Daraufhin blickten sich die beiden Freundinnen gegenseitig verwundert an, doch bevor sie weiter in Val dringen konnten, schüttelte diese noch einmal nachdrücklich den Kopf und schaute jeder von ihnen beschwörend in die Augen.
„Nicht fragen.“
Bevor am Ende auch noch Ceara mit dem blutbefleckten Tuch aufwarten konnte, an dem sich Val gestern die Hände abgewischt hatte, nahm sie ihre Freundin fest in den Arm, strich ihr beruhigend übers Haar und ließ sie dann langsam mit einem dankbaren Lächeln auf den Lippen wieder los, um sich an Kore zu wenden.
Inzwischen hatte diese aufgehört zu weinen, doch ihre Wangen waren immer noch nass, so dass Val ihrer Freundin zuerst die Tränen sanft wegwischte, ehe sie Kore ebenfalls warm und herzlich umarmte und vielleicht sogar eine Spur zu fest hielt. Nachdem ihr immer noch die Angst um deren Leben in den Knochen saß.
Verdammt noch mal, beinahe hätte man auch sie geköpft ...
Für eine Weile saßen alle drei jede für sich tief in Gedanken versunken da, bis Ceara das bedrückende Schweigen beendete, in dem sie sich erhob und frisches Wasser holen ging.
Val hatte keine Ahnung, wie spät es war, doch nachdem auch Kore langsam in die Gänge kam, wurde klar, dass die beiden schon bald wieder an die Arbeit mussten, während man Val hingegen noch etwas Schlaf zugestand. Immerhin musste sie sehr viel länger als alle anderen in der Villa auf den Beinen sein. Dem Rhythmus der Eiskönigin entsprechend.
An Schlaf war für sie jedoch nicht mehr zu denken, nun, da sie mehr als nur wach war, weshalb sie sich sehr eingehend mit dem Problem ihrer Kleiderfrage zu beschäftigen begann.
Val besaß nichts, was ihr nicht von der Eiskönigin gegeben wurde, besser gesagt, von ihrer rechten Hand. Wo sollte sie also frische Sachen herbekommen?
Wäre ihr Kleid nicht zerrissen, sie hätte eventuell noch versuchen können, das Blut aus dem Stoff zu waschen, was ihr mit Sicherheit nicht vollkommen gelungen wäre. Aber der zerrissene Stoff würde auch so schon genug Fragen aufwerfen, die sie ganz bestimmt nicht beantworten wollte, selbst ohne die Blutflecken darauf.
Kurz war Val versucht, Kore nach ihrem Wechselkleid zu fragen, aber eigentlich wollte sie ihrer Freundin nicht etwas wegnehmen, das sie selbst dringend benötigte. Immerhin war Val selbst daran schuld, dass bisher alle ihre Sachen auf die eine oder andere Art kaputtgegangen waren.
Vielleicht sollte sie Gràinne ...
Ceara kam zurück. In den Händen hielt sie eine Schüssel mit warmem Wasser und ein paar frische Tücher und über ihrem rechten Arm hing ein großes Stück Stoff.
Nachdem sie die Schüssel abgestellt und Kore ihr die Tücher abgenommen hatte, kam die Rothaarige zu Val und hielt ihr den hellen Stoff vor die Nase.
Es war ein Kleid!
Val wäre vor Dankbarkeit fast auf ihre Füße gesprungen, ermahnte sich dann jedoch dazu, es langsam zu machen und es auch ein bisschen beschwerlich wirken zu lassen, obwohl ihr diese Täuschung gehörig gegen den Strich ging. Aber sie wollte ihre Freundinnen nicht noch mehr beunruhigen. Es reichte schon, dass sie selbst sich in einem permanenten Zustand von Unglauben befand.
Vorsichtig, beinahe schon ehrfürchtig, nahm Val das schlichte, aber saubere Kleid entgegen und sah Ceara fragend an. „Woher?“
Die Rothaarige zuckte daraufhin ratlos mit ihren Schultern. „Vor ... Tür.“
Es hatte vor der Tür gelegen?
Ceara beobachtete genau ihre Reaktion und ihrem Blick nach zu urteilen, schien sie zu glauben, dass Val mehr wusste, als sie bereit war, zuzugeben, obwohl das nicht der Fall war.
Sie hatte selbst keine Ahnung, wer das Kleid vor die Tür gelegt haben könnte. Immerhin wusste bis auf ihre Freundinnen nur eine einzige andere Person, dass ihr Kleid völlig ruiniert war, und zwar der Hüne mit ... der Metallfresse ...
Nein. War das denn möglich?
Vals Augen wurden bei dem Gedanken groß, doch ehe Ceara ihr eine weitere Frage stellen konnte, die sie nicht beantworten wollte, zog sie sich rasch das Kleid über und machte sich an ihren Haaren zu schaffen, die sie sich schon hundert Mal abgeschnitten hätte, wenn es ihr irgendwie möglich gewesen wäre. Ungeschickt wie immer sah die Katastrophe auf ihrem Kopf danach noch schlimmer aus als davor, so dass Ceara am Ende ein tiefes Seufzen ausstieß, das alles Mögliche bedeuten konnte und sich darum kümmerte.
Keine zehn Minuten später war Val schließlich ganz alleine mit sich und ihren Gedanken, die sich wie schon so oft um Vanadis' Mörder drehten, doch letztendlich nicht nur seiner grausamen Tat wegen, sondern auch wegen alledem, was seither passiert war.
Gerade gestern hatte er sie mit so vielen Dingen überrascht, die einfach nicht zu seinem bisherigen Verhalten oder dem Bild, das sie von ihm hatte, zu passen schienen.
Nicht nur allein deshalb harrte sie seiner Ankunft letztendlich mit gemischten Gefühlen entgegen. Sondern auch insofern, dass sie nicht wusste, was ihr der heutige Tag alles bringen würde.
***
„Wer hat das getan?!“
Alexey war nur milde überrascht darüber, dass Hedera mehr als eine geschlagene Stunde seiner Anwesenheit gebraucht hatte, um die Wunde an seinem Bauch zu entdecken.
Noch ein paar Stunden länger und nichts wäre mehr davon übrig geblieben. Nicht einmal mehr der dünne, rote Strich, der gestern noch ein klaffendes Loch gewesen war, das die kleine Kriegerin ganz entgegen seinen Erwartungen zu versorgen versucht hatte.
Selbst jetzt noch, nachdem er eine ganze Nacht lang Zeit gehabt hatte, um über das gestrige Geschehen nachzudenken, kam ihm Valerias Verhalten immer noch sehr befremdlich vor.
Ebenso wie sein Eigenes.
Seine Sehnsucht nachdem Ende seiner qualvollen Gefangenschaft war so groß gewesen, dass er die kleine Kriegerin beinahe angefleht hätte, sein Leben zu beenden.
Allzu deutlich hatte er ihre Wut gespürt, als sie mit seiner eigenen Klinge ohne zu zögern in sein Fleisch geschnitten hatte, und doch war ihr Wunsch nach Rache für den Tod ihrer Freundin letztendlich nicht stark genug gewesen, um damit sein gepeinigtes Herz zu durchbohren.
Er selbst hatte es mit aller Macht versucht, doch Hederas Bann über ihn war zu stark für ihn gewesen. Mehr als eine harmlose Fleischwunde hatte er sich nicht zufügen können, und nun musste er für dieses schwerwiegende Versagen die Konsequenzen tragen.
Alexey schwieg, obwohl alles in ihm danach verlangte, Hederas Frage zu beantworten, doch weder konnte er lügen, noch wollte er die Wahrheit sprechen.
Valeria stand kaum zwei Meter neben ihm. Sie zu verraten und sie damit einer weiteren Strafe auszuliefern, wäre schlimmer als alles, was er sich vorstellen konnte. Also kämpfte er dagegen an, nicht wissend, ob er dieses Mal stark genug sein würde, um sich Hederas Befehl zu widersetzen. Doch er musste es versuchen. Für sie.
„Sprich! Oder hast du deine Zunge verschluckt?“ Hederas Finger bohrten sich in die Stelle, an der sich gestern noch die von Valeria befunden hatten, und obwohl der Schmerz zu jenem Zeitpunkt weitaus schlimmer gewesen war, konnte er doch voller Entsetzen spüren, wie eine dunkle Kraft in ihn floss und den Zwang – zu sprechen – in ihm noch um ein Vielfaches verstärkte.
Seine Zähne krachten so hart aufeinander, dass Alexeys Kiefer hörbar knackten und sich der Druck in seinem Schädel erhöhte.
Die Anstrengung, seine Lippen geschlossen zu halten, wurde nach und nach so groß, dass er am ganzen Körper zu zittern begann und nur noch stoßweise durch die Nase atmen konnte.
Erst da offenbarte sich das volle Ausmaß seiner Auflehnung vor Hedera.
„Wer war es?!“, fuhr sie ihn beinahe an.
Sich immer noch ihrer Macht über ihn sicher, legte sie ihre ganze Hand flach auf seine Brust und sandte noch mehr Magie in ihn, bis er zu wanken begann. Nicht in seinem Entschluss, jedoch was seinen gepeinigten Körper anging.
Alexey ging in die Knie. Seine Hände zu Fäusten geballt. Seine Lippen so fest aufeinandergepresst, dass sie taub wurden.
Er konnte kaum noch atmen.
Finger legten sich wie Klauen um seinen Hals und Hedera beugte sich so weit zu ihm herab, dass er nur noch ihre kalt funkelnden Augen sehen könnte, wenn er denn hinsehen würde, doch es war noch hellster Tag.
„Was versuchst du, vor mir zu verbergen? Antworte!“, verlangte sie erneut von ihm zu wissen.
Seine Lippen wollten dem Befehl nachkommen und sich ein Stück weit öffnen, kaum genug, um nach Atem zu ringen, doch schon bohrten sich seine scharfen Fänge tief in sie hinein und versiegelten sie von Neuem.
Nein, er würde nichts verraten. Eher biss er sich die Zunge ab!
Als Blut ihre Finger benetzte, zog Hedera ihre Hand weg und der Geruch ihrer Wut wurde so intensiv, dass er in Alexeys Nase brannte. Doch anstatt ihm noch einmal einen Befehl zu erteilen, wandte sie sich an Briseis.
„Geht raus! Alle beide, und sorg dafür, dass ich nicht gestört werde, bis ich euch rufe.“
„Ja, Domina.“
Alexey hatte zu viel mit Hederas mächtigem Zwang zu tun, so dass er nur am Rande wahrnahm, wie Valeria zusammen mit Briseis den Raum verließ.
Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, riss Hedera ihm den Helm vom Kopf.
„Ich bin deinen andauernden Widerstand so leid, dass ich dir am Liebsten noch mal die Haut abziehen würde!“, fauchte sie ihn wütend an, bevor sie ihm so fest mit ihrer Magie ins Gesicht schlug, dass er zur Seite fiel.
Blut schoss in Strömen aus seiner Nase, womit er endgültig keine Luft mehr bekam.
Alexey blieb keine andere Wahl. Entweder er öffnete den Mund, um zu atmen, oder er erstickte daran.
Nichts wäre ihm willkommener gewesen als dieser verlockende Tod, doch der Drang zu überleben, war nicht nur tief in seinem Wesen verwurzelt, sondern wurde auch noch von Hederas Bann verstärkt.
Nach Atem ringend riss Alexey schließlich den Mund auf.
Kaum, dass sich seine Lungen ausreichend mit Luft gefüllt hatten, um einen Satz hervorbringen zu können, wollten die erzwungenen Worte auch schon über seine blutenden Lippen entfliehen.
Alexey biss sich beinahe die Zunge ab, um sie daran zu hindern.
Gurgelnd und röchelnd wand er sich auf dem Boden wie ein verwundetes Tier in der Falle, kämpfte dabei mit all seiner Macht um Kontrolle, bis dieser vernichtende Zwang, Hedera die Wahrheit zu sagen, plötzlich von ihm abließ und er vor Erleichterung fast endgültig zusammengesunken wäre.
„Gut, dann behalte dein Geheimnis eben für dich. Ich werde es schon noch herausfinden.“
Hederas Tonfall war trügerisch ruhig, beinahe gelangweilt, doch Alexey konnte immer noch die Wut dahinter spüren.
Sich der drohenden Gefahr immer noch bewusst, gelang es ihm dennoch nicht, ein langsam aufkeimendes Gefühl von Triumph zu unterdrücken, nun, da er so unerwartet einen Sieg errungen hatte nach Jahrzehnten des Scheiterns.
Vielleicht wurde die Magie, die Hedera über ihn verhängt hatte, tatsächlich langsam schwächer. Doch lange würde er sich nicht an dem Wissen erfreuen können. Die Nacht der Mondfinsternis rückte mit jedem weiteren Tag näher und damit auch eine weitere Gelegenheit für sie, ihn noch weiter zu unterwerfen.
Alexey knurrte, als Hedera sich zu ihm herabbeugte, ihre Finger brutal in sein Haar krallte und daran seinen Kopf zurückriss. „Denk nicht, nun, da du diesen kleinen Sieg über mich errungen hast, dass ich dich so einfach damit davonkommen lasse.“
Das wäre ihm niemals in den Sinn gekommen.
Immer noch atmete Alexey schwer durch die Nase, aus der inzwischen kaum noch Blut kam, während er wohlweislich auch weiterhin seine Zähne fest aufeinanderbiss, um keinen Laut über seine Lippen entkommen zu lassen. Er wartete nur darauf, dass sie zum Gegenschlag ausholte.
„Sieh mich an!“ Ihre Worte trafen ihn härter, als es je ein körperlicher Angriff hätte tun können.
Vom erbitterten Kampf zuvor noch viel zu sehr geschwächt war es Alexey unmöglich, sich gegen ihren neuen Befehl zu widersetzen.
Selbst mit dem Wissen, was passieren würde und dem verzweifelten Verlangen, es nicht zu tun, öffnete er am Ende die bis dahin fest verschlossenen Augen.
Für einen kaum wahrnehmbaren Augenblick lang konnte er Hederas selbstgefälliges Lächeln auf den Lippen erkennen, bevor ihre Gestalt, und alles um sie herum von einer Explosion aus gleißendem Licht verschluckt wurde, das sich so unbarmherzig in seine Augen brannte, als würde man ihm glühendes Eisen durch seine Augenhöhlen hindurch in seinen Schädel rammen.
Der unbeschreibliche Schmerz war ihm nicht fremd jedoch außergewöhnlich grausam.
Alexey ertrug ihn nur wenige Sekunden lang.
***
Val zuckte gleichzeitig mit Briseis zusammen, als ein bestialischer Schrei, wie sie ihn noch nie zuvor gehört hatte, durch die Tür drang, welche sie gerade erst vor wenigen Minuten noch hinter sich geschlossen hatten.
Ihr Herz machte einen gewaltigen Satz, ehe es panisch weiterschlug, während ihr Körper von Adrenalin überflutet wurde.
Vals Hände begannen zu zittern und jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht.
Sie wusste nicht, was die Eiskönigin mit ihrem Wachhund anstellte, doch es musste unglaublich schmerzhaft für ihn sein, wenn sie ihm einen so markerschütternden Schrei entlocken konnte, während ihr selbst das gestern nicht einmal im Ansatz gelungen war.
Sie hatte ihn geschnitten und eine Klinge in seinen Bauch gebohrt, und ihm war nicht der kleinste Laut über die Lippen gekommen, während die Eiskönigin ihren Wachhund auch jetzt noch immer lauter zum Brüllen brachte.
Es war Vals Schuld.
Zwar wusste sie nicht, wie es möglich sein konnte, dass seine Verletzungen innerhalb weniger Stunden hatten heilen können, immerhin war von den Schnitten selbst nicht einmal ansatzweise etwas übrig geblieben, aber einmal davon abgesehen, hatte es der Eiskönigin überhaupt nicht gefallen, dass ihr Wachhund verletzt worden war.
Kein Wunder also, dass sie ihn mit allen Mitteln dazu bringen wollte, ihr zu sagen, wer es getan hatte. Umso mehr wunderte es Val hingegen, dass er sich immer noch weigerte, ihren Namen zu verraten.
Den Schmerz, den er in diesem Augenblick erfuhr, nahm er für Val auf sich und das war etwas, das sie am Allerwenigsten erwartet hätte. Immerhin schien die Loyalität des Hünen gegenüber seiner Herrin endlos zu sein.
Ein großer Irrtum, wie sich nun zeigte.
Worin Val sich wohl noch geirrt hatte?
Der Schrei riss unvermittelt ab.
Die darauffolgende Stille war sogar noch sehr viel schwerer zu ertragen.
Val wagte kaum zu atmen, während sie angestrengt lauschte, was im Schlafzimmer hinter der Tür vor sich ging, doch bis auf Briseis' leises Atmen blieb alles still.
Erst nachdem weitere qualvolle Minuten vergangen waren, in denen Val eine neue Art der Angst kennenlernte, da sie nicht wusste, ob der Hüne sie am Ende doch noch verraten hatte oder nicht, öffnete sich leise die Tür und die Eiskönigin trat völlig gelassen hindurch.
Ohne sie weiter zu beachten, so wie sie es eigentlich immer tat, ging sie einfach an Val vorbei und Briseis folgte ihr ohne Zögern mit einem so ruhigen Gesichtsausdruck, als wäre sie nicht gerade Ohrenzeugin einer grausamen Folter geworden.
Vom Hünen selbst fehlte jede Spur.
Val wagte nicht, einen Blick durch die leicht geöffnete Tür zu riskieren, um zu erfahren, was mit ihm geschehen war, sondern beeilte sich, der Queen zu folgen, während ein Grauen sie erfüllte, das sie so absolut nicht erwartet hätte.
Das Schicksal des Hünen sollte sie eigentlich nicht weiter kümmern, immerhin war er der Mörder ihrer Freundin, doch langsam begann Val zu begreifen, dass es so einfach nicht war.
Er mochte Vanadis den Kopf abgeschlagen haben, das ließ sich nicht bestreiten, doch gerade eben hatte er unvorstellbare Qualen auf sich genommen, um sie vor der Queen zu beschützen.
Eigentlich, wenn man es im richtigen Lichte betrachtete, war die Eiskönigin das wahre Übel in diesem Haus.
Immerhin war sie es gewesen, die dem Hünen Vanadis' Tod befohlen und Val dazu gezwungen hatte, dabei zuzusehen. Die verlangt hatte, dass man sie auspeitschte. Die sie dazu gezwungen hatte, diese seltsame Flüssigkeit zu trinken, während der Hüne Kore bedrohen sollte. Die nicht einmal davor zurückschreckte, einem Mann, der ihr dem Anschein nach die meiste Zeit über treu ergeben war, Schmerzen zuzufügen.
Warum der Hüne bei dem Ganzen mitmachte, verstand Val auch jetzt nicht. Doch sie begann langsam zu begreifen, dass er nicht Vanadis' Mörder war, sondern lediglich ein Werkzeug der Eiskönigin.
Ihr Wille – seine Hände.
Nun, da Val Zeuge davon geworden war, was passierte, wenn er diesem Willen einmal nicht gehorchte, fragte sie sich zwangsläufig, ob sie den Hünen nicht zu vorschnell verurteilt hatte.
Wenn er für Ungehorsam genauso hart bestraft wurde wie Val, wie konnte sie dann das verurteilen, was man ihm zu tun aufgetragen hatte?
Was würde denn geschehen, wenn man von ihr eines Tages verlangen sollte, ein Leben zu nehmen im Austausch für das eines ihrer Freundinnen?
Val wusste es nicht. Insofern könnte sie die Beweggründe des Hünen sogar nachvollziehen. Doch es gab eine Sache, an der sie immer noch festhielt und die all ihre guten Argumente für ihn zunichtemachte: Im Gegensatz zu ihr hatte er nicht nur die Waffen und sein außergewöhnliches Geschick damit, sondern auch die Wahl, dem Regime der Eiskönigin ein Ende zu bereiten.
Genau das war letztendlich auch der Punkt, weshalb sie ihm trotz seines Schweigens heute nicht einfach vergeben konnte.
Wenn er wirklich den Willen dazu hätte, könnte er spielend leicht mit der Eiskönigin und ihrem Gefolge fertig werden.
Doch er hielt sie nicht auf, sondern beschützte sie auch noch.
In Vals Augen machte ihn das um kein Stück besser als seine Herrin.