Sie träumte von Eis und Kälte. Von Frost, der ihre Haut überzog, in ihren Körper eindrang und selbst ihre Knochen umhüllte. Sie fror so wahnsinnig, wie schon lange nicht mehr. Alle Wärme schien verschwunden.
Val hatte keine Kraft mehr. Weder um sich aus dem kalten Gefängnis zu befreien, noch um ihre Augenlider zu öffnen. Sie war viel zu müde und erschöpft. Selbst ihr Geist war völlig ausgelaugt und begann langsam aber sicher abzudriften. Ihr Bewusstsein sank tiefer in die lockende Dunkelheit. Wollte endgültig aufgeben, doch da drang plötzlich Wärme zu ihr durch.
Immer noch war sie zu schwach, um ihre Augen zu öffnen, um sich zu bewegen oder zu sprechen. Sie konnte nur fühlen. Fühlte wohlige Wärme an ihrem Körper. An ihrer kalten Wange.
Ein fremder Herzschlag. Rhythmisch und beruhigend. Starke Arme, die sie hielten.
Träge lauschte sie dem melodischen Pochen an ihrem Ohr. Sank wieder tiefer in die Dunkelheit ...
Ihre Augenlider flatterten auf, als sie plötzlich von Kopf bis Fuß in flüssiges Feuer getaucht wurde. Ein gequälter Laut entkam ihren Lippen. Val wollte sich gegen die Hände wehren, die sie an Ort und Stelle festhielten; die über ihren nackten Körper fuhren. Stellen berührten, die niemand ohne ihre Erlaubnis berühren durfte, doch wieder war sie zu schwach. Ihre Arme und Beine hingen lose an ihr. Ihre Finger kaum zu einem Zucken fähig. Ihr Kopf rollte haltlos hin und her; musste gestützt werden, damit sie nicht in dem flüssigen Feuer ertrank.
Wieder flatterten ihre Augenlider auf, eine Sekunde länger als zuvor.
Rot – da war so viel Rot, eingerahmt von einem dunklen Schatten, der vor ihren Augen verschwamm, ehe sie ein weiteres Mal das Bewusstsein verlor.
Als Val erneut zu sich kam, dröhnte zwar ihr Kopf wie verrückt, aber zumindest war sie nun tatsächlich wach. Abermals fror sie so erbärmlich, dass sie sich mühsam zur Seite drehte und zu einem kleinen Ball zusammenrollte, um sich irgendwie aufzuwärmen.
Ihre Nase tief im Stoff ihrer Decke vergraben versuchte sie weiterzuschlafen, da sie immer noch so unendlich müde war, wie schon sehr lange nicht mehr. Sie fühlte sich total erschöpft, restlos ausgepowert und dabei wollte ihr partout nicht einfallen, warum das überhaupt so war.
Es dauerte eine Weile, bis Val dabei registrierte, dass nicht ihr Geruch in dem dünnen Leinen hing, sondern der von jemand anderem. Er war zwar absolut nicht unangenehm aber von unbestreitbar männlicher Natur – und nach letzter Nacht kannte sie ihn inzwischen ziemlich gut.
Mit einem Schlag hellwach riss Val ihre Augenlider auf, nur um sie kurz darauf wieder fest zusammenzupressen, als der Schein von brennenden Holzscheiten in einer Schale direkt vor ihr sie schmerzhaft blendete.
Obwohl ihre Kopfschmerzen von dem grellen Licht völlig neue Dimensionen erreichten, zwang sie sich dazu, solange dagegen anzublinzeln, bis sie endlich etwas von der fremden Umgebung erkennen konnte.
Ihr Herzschlag verdreifachte sich, während ihr träger Verstand das Gesehene noch zu verarbeiten versuchte. Sie befand sich ganz offensichtlich nicht in der Kammer, in der sie mit Ceara schlief. Sie lag auch nicht auf ihrem schlichten Strohbett, sondern auf einer Bettstatt, die tatsächlich einen Rahmen aus Holz besaß und auf der sie beinahe verloren ging, so riesig, wie sie war. Definitiv für jemand sehr viel Größeren erbaut als sie selbst. Besser gesagt für einen Riesen von einem Mann, wenn sie mit ihrer Vermutung richtig lag.
Dazu kamen deutlich mehr Möbel, als sie in ihrer bescheidenen Kammer hatten. Da war eine riesige Truhe am Kopfende des Bettes. Noch eine stand am anderen Ende des Raumes neben der Tür. Ein ramponierter Holztisch daneben. Ein hölzernes Gestell mit einer antiken Rüstung lehnte in der Ecke und in der Mitte des Raumes, direkt hinter der Feuerschale, welche ihr den größten Teil der Sicht versperrte, stand ein ... Badezuber?
Val versuchte sich ein Stück weit aufzurichten, um besser sehen zu können und ließ sich sogleich wieder fallen, als sie mit einem Schlag erkannte, dass sie nicht allein im Raum war.
Ein schwarzer Haarschopf, der ihr nur allzu vertraut war, ragte über den Rand des Zubers hervor, dessen Wasser die Farbe von Blut angenommen hatte. So schwach sie im Moment auch war, der Anblick glich so sehr einer Szene aus einem Horrorfilm, dass Val geradezu von Adrenalin überschüttet wurde. Es verhalf ihr zu der nötigen Kraft, um sich noch einmal ein Stück weit aufzurichten und an sich hinabsehen zu können, in der Befürchtung, dass ... Ja, was eigentlich?
Dass es ihr Blut war, das er da gerade von sich abwusch und sie bei der beachtlichen Menge, die das Wasser eingefärbt hatte, eigentlich tot sein müsste?
Ihre Gedanken waren irrational, das wusste sie, dennoch schlug Val die dünne Decke zur Seite, um zu sehen, was für Gräueltaten sich womöglich darunter verbargen.
Sie war zwar immer noch nackt, doch zu ihrer eigenen Überraschung fehlte nicht nur jedes Anzeichen von Blut – selbst zwischen ihren Schenkeln – sondern auch die aufgemalten Zeichen auf ihrer Haut waren verschwunden. Sie war vollkommen sauber – ihr Haar sogar noch feucht – und dem Anschein nach auch ... unversehrt.
Ein Umstand, der sie eigentlich beruhigen sollte, oder etwa nicht? Warum hatte sie dann plötzlich das Gefühl, dass ihr Magen ihre Speiseröhre hochzukriechen versuchte?
Die Übelkeit mit aller Macht unterdrückend zog Val die dünne Decke wie einen schützenden Kokon eng um sich, während ihre Erinnerungen an die vergangenen Ereignisse schlagartig zurückkehrten.
Vor allem die letzten Minuten, bevor sie vor Schwäche ohnmächtig geworden war, drängten sich ihr erbarmungslos auf und ließen das Bild der Flammen vor ihren Augen immer mehr verschwimmen.
Es war schlimm genug, dass sie ein weiteres Mal vergewaltigt worden war und sich dabei nicht einmal hatte wehren dürfen, aber ihr Verhalten am Ende ...
Val konnte sich zwar noch genau daran erinnern, wie stark Alexeys verdammter Duft auf sie gewirkt hatte, doch jetzt, da die Wirkung vollkommen verflogen war, fühlte es sich ... wie gewollt und somit nach Verrat an. Die Erinnerung daran, wie ihr Körper ... wie sie reagiert hatte, machte sie vollkommen fertig. Denn obwohl sie dem Anschein nach vollkommen sauber war, fühlte sie sich mit einem Mal unglaublich schmutzig.
Val wusste nicht, ob sie heulen oder schreiend um sich schlagen sollte. Beides wäre durchaus angebracht gewesen, doch ihr fehlte die Kraft dazu. Nicht jedoch, um sich vor Wut grob die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, welche nur die Schwäche zeigten, der sie sich dieses Mal nicht einfach so hingeben konnte. Nicht, nach dem, was sie getan oder besser gesagt, nicht getan hatte.
Immerhin hätte sie sich viel stärker wehren müssen. Zumindest, was Alexeys Duft und seine einnehmende Art anging. Sie hätte sich davor verschließen und es einfach weiter ertragen müssen. Ganz egal, was sonst noch mit ihr während dieses Rituals geschehen war. Aber auf gar keinen Fall hätte sie einen Orgasmus haben dürfen!
Auch ohne ihren ungewollten Höhepunkt war diese Nacht und alles, was während dieses abscheulichen Rituals mit ihr geschehen war, einfach nur krank und abstoßend gewesen. Nichts davon war wirklich freiwillig geschehen und dennoch konnte sie sich gerade diesen einen kurzen Moment der Schwäche nicht verzeihen. Als sie sich geradezu nach der trügerischen Geborgenheit von Alexeys Nähe gesehnt hatte.
All die beschissenen Male, bei denen sie von ihrem Stiefvater missbraucht worden war, hatte Val nie auch nur den Hauch von einem angenehmen Gefühl empfunden. Sie hatte stattdessen gegen ihn angekämpft und es, so gut es eben ging, überstanden, während das Wissen, dass er sie am Ende nicht gebrochen hatte, sie aufrecht hielt. Doch Alexey, dieser verdammte Mistkerl, hatte sie einen kurzen Moment lang vergessen lassen, dass sie es ... dass sie ihn gar nicht wollte und sie dazu gebracht, die Intimität zwischen ihnen beiden sogar zu genießen.
Selbst jetzt ließ die lebhafte Erinnerung an die Wärme seines Körpers Val nur noch mehr vor Kälte frösteln, obwohl sie die Hitze der Feuerschale auf ihrem Gesicht ebenso deutlich spüren konnte, wie sie ihn gefühlt hatte.
Warum war sie überhaupt hier und lag in seinem Bett? Hatte Alexey sie hergebracht?
War er es auch gewesen, der sie gewaschen ... vielleicht sogar in diesem antiken Zuber gebadet hatte, in dem er nun selbst saß?
Und warum fühlte sie sich so verdammt schwach, dass sie nicht einmal aufstehen, geschweige denn abhauen konnte?
Val schaffte es noch nicht einmal, sich gerade aufzusetzen, obwohl sie es mit aller Macht versuchte. Es gelang ihr lediglich, sich so weit bis zum Ende der riesigen Bettstatt vorzuarbeiten, dass sie an dem Metallgestell mit dem Feuer vorbei einen Blick auf den Badezuber werfen konnte, bevor sie wie erschlagen zurück auf die harte Matratze sank.
In ihrem Kopf hämmerte es so heftig, dass Alexey es eigentlich hören müsste, doch noch schien er nicht bemerkt zu haben, dass Val aufgewacht war.
Schweigend starrte sie seinen Hinterkopf an, zu erschöpft, um sich noch länger ihrer Wut hinzugeben, oder dem Schuldgefühl, das sie innerlich auffraß, stattdessen sah sie dem lautlosen Spiel der Dampfwölkchen zu, die sich über dem Badezuber kräuselten, und rieb sich mehr unbewusst als wirklich bewusst, über die Stelle an ihrem Hals, wo Alexey sie gebissen hatte.
Eigentlich hätte Val dort ein paar Zahnabdrücke erwartet, so fest, wie sein Biss gewesen war, doch obwohl sie den Knutschfleck ihres Lebens hätte haben müssen, fühlte sie nichts. Keinen Druckschmerz. Keinen Schorf. Einfach gar nichts.
Ergab hier überhaupt noch irgendetwas Sinn?
Wahrscheinlich nicht, ansonsten wäre sie schon lange tot und nicht erst in dieser antiken Version einer Hölle aufgewacht, um sich einer notgeilen Wahnsinnigen zu beugen, die mit Vorliebe Satan oder wen auch immer anbetete und Jungfrauenopfer darbrachte.
Was hatte sie eigentlich damit bezwecken wollen?
Nicht, dass Val leugnen könnte, dieses Ritual hätte keine Wirkung auf sie gezeigt, denn das hatte es auf jeden Fall, obwohl sie an dieses Zeug eigentlich gar nicht glaubte. Aber was hatte die Eiskönigin davon gehabt?
So ganz konnte sich Val darauf noch keinen Reim machen. Womöglich würde sie das auch niemals können. Es würde sie aber zumindest nicht wundern, wenn es einfach nur aus purem Vergnügen an solchen kranken Vorstellungen geschehen wäre. Das wäre sogar ziemlich genau nach dem Geschmack dieses irren Miststücks gewesen.
Val schreckte unvermittelt aus ihren Gedanken hoch, als Alexey sich plötzlich in dem Badezuber bewegte.
Für einen Moment hatte sie ihn vollkommen ausgeblendet, obwohl sie sich besser mit ihm beschäftigen sollte, anstatt mit Dingen, die sie ohnehin nicht mehr ändern konnte. Immerhin wusste sie nicht, was er noch mit ihr vorhatte, nachdem er sie nicht einfach in ihre eigene Kammer zurückgetragen, sondern stattdessen an diesen für ihn sehr persönlichen Ort gebracht hatte. Es musste einfach einen Grund dafür geben.
Bisher war Alexey sehr still gewesen. Er hatte einfach nur dagesessen und sich nicht weiter gerührt, doch nun verschwand sein schwarzer Haarschopf vollkommen unter Wasser, dafür schob sich ein Gutteil seiner Knie durch die rötlich gefärbte Oberfläche, sodass Val sie selbst in ihrer Position über den Rand des Zubers hinweg sehen konnte.
Hatte er sich geschnitten?
Sie glaubte, ein paar rote Linien auf seiner Haut erkennen zu können, auch, wenn das nicht wirklich relevant war. Val sollte eher daran denken, von hier zu verschwinden, bevor er mit dem Bad fertig war und sich im Anschluss noch eingehender um sie kümmern konnte.
Zwar gab es nach dieser verdammt beschissenen Nacht kaum noch etwas, das ihr in seiner Gegenwart wirklich Angst machen konnte, doch in Sachen Grausamkeit war seine Herrin nicht zu übertreffen. Es war also nicht gerade beruhigend, zu wissen, dass Alexey alles tat, was die Eiskönigin ihm befahl, ob er es nun wollte oder nicht. Selbst wenn es sich um Mord oder Vergewaltigung handelte. Am Ende hatte sie ihm vielleicht sogar befohlen, Val endgültig loszuwerden, nachdem er ihre Jungfräulichkeit geopfert hatte.
Mehr Ansporn sollte sie eigentlich nicht benötigen, um aus Alexeys Bett zu kommen und trotzdem reichte ihre Kraft kaum aus, sich über den hölzernen Rahmen zu schieben, hinter dem es überraschend tief runter ging.
Val reagierte zu spät, schaffte es nicht, ihre Füße rechtzeitig aus dem dünnen Laken zu befreien, ehe sie von ihrem eigenen Gewicht auch schon erbarmungslos in Richtung Steinboden gedrängt wurde.
Ihre rechte Hand, die ungefähr die Tragfähigkeit von Geliermasse besaß, kam zuerst auf. Dementsprechend wurde ihr Schwung nicht im Mindesten gebremst, sodass ihr Gesicht eine volle Bruchlandung auf dem festen Untergrund hinlegte.
Für einen Moment sah Val nur noch bunte Lichter vor ihren Augen tanzen, als ihre Stirn hart aufschlug, bevor der Rest ihres Körpers folgte, dabei gegen das Metallgestell mit der Feuerschale stieß und das Ganze bedrohlich ins Schwanken geriet.
Bevor sie jedoch von brennenden Holzscheiten und heißer Glut geröstet werden konnte, schoss eine Hand über den Rand des Badezubers hinweg und brachte das Gestell wieder ins Gleichgewicht, ehe ein nacktes Bein nach dem anderen vor ihren Augen auftauchte.
Sie waren ebenso zerschnitten wie schon die Knie zuvor, und nachdem Val wieder etwas klarer sehen konnte, erkannte sie auch das Muster darin. Es waren die Symbole auf Alexeys Haut, die in der Nacht zuvor noch so unheimlich geleuchtet hatten!
Gerade wollte sie weiter seinen Körper hinaufblicken, um zu sehen, ob auch der Rest davon so aussah, als hätte man ihm die Zeichen in die Haut geschnitten, da klatschten ihr ein paar von Alexeys nassen Haarsträhnen ins Gesicht, kurz bevor sie schwungvoll vom Boden hochgehoben und wieder zurück auf das harte Bett verfrachtet wurde.
Die ganze Aktion mit ihrem kläglich gescheiterten Fluchtversuch, ihrem Sturz und seinem Eingreifen ging so schnell, dass ihr davon nicht nur verdammt schwindelig wurde, sondern ihre Übelkeit auch noch überhandnahm.
Noch bevor Val irgendetwas sagen konnte, wurde ihr auch schon ein – zum Glück unbenutzter – Nachttopf untergehalten. Keine Sekunde zu früh, denn schon musste sie sich heftig würgend übergeben, während Alexey ihr dabei half, sich aufrecht zu halten, da ihr sogar dazu die Kraft fehlte.
Würde sie sich nicht gerade die Seele aus dem Leib kotzen, sie wäre trotz ihrer Schwäche von ihm abgerückt, um jeden weiteren körperlichen Kontakt mit ihm zu vermeiden und nicht noch einmal Gefahr zu laufen, von seinem verdammten Duft verführt zu werden.
Zugegeben, dafür standen die Chancen gerade ziemlich schlecht, dennoch war es Val extrem unangenehm, Alexey so nahe bei sich zu wissen, während sich gerade ihr Innerstes nach außen kehrte und sie ihm völlig hilflos ausgeliefert war. Erst recht, nachdem der Würgereflex sie nicht länger durch die Mangel drehte und sie schwer atmend in sich zusammensank. Ihr Schädel drohte jeden Augenblick zu explodieren, egal, wie vorsichtig sie wieder zurück auf das unbequeme Kissen gelegt wurde. Sofort rollte Val sich wieder zu einem kleinen Ball puren Elends zusammen, presste dabei ihre Hand gegen die Stirn und fuhr sich mit der anderen über die Stelle, auf der sie eine Bruchlandung hingelegt hatte.
Sie spürte klebrige Feuchtigkeit, die ihr bereits über die Schläfe bis zum Kinn gelaufen war, und wollte gerade mit den Fingern überprüfen, wie schlimm sie sich verletzt hatte, als sie von einem geknurrten „Nicht“ aufgehalten wurde, das ihr einen nur allzu vertrauten Schauer den Rücken hinabjagte. Alexey zog ihre Hand weg und drückte stattdessen ein Stück Stoff auf die Wunde, vermutlich um die Blutung zu stoppen. Zahlreiche Tropfen trafen sie dabei, benetzten das dünne Laken, das sie kaum noch bedeckte, mit Feuchtigkeit und ließen Val so stark frösteln, dass sie mit den Zähnen zu klappern begann. Es schien ganz so, als würde die Wärme des Raumes überhaupt nicht bis in das Innere ihres Körpers vordringen.
Es war ihre eigene Schuld, dass Alexey sie volltropfte, nachdem er nicht einmal die Zeit gehabt hatte, sich abzutrocknen, ganz zu schweigen davon, dass er immer noch vollkommen nackt war.
Zwar konnte Val nicht allzu viel zwischen den schmalen Schlitzen ihrer verkrampften Augenlider hindurch erkennen, doch das, was sie sah, war einfach nur erschreckend.
Was hatten diese Wahnsinnigen ihm angetan?
Damit erklärte sich wohl auch das stark rötlich gefärbte Badewasser. Vor allem, da ein paar der Schnitte immer noch leicht bluteten.
Trotz ihrer wahnsinnigen Kopfschmerzen wollte Val sich ihm zuwenden ... etwas zu der ganzen Scheiße sagen, die da passiert war, doch kaum, dass sie ihren Kopf ein Stück weit zu drehen versuchte, legte Alexey ihr seine Hand über die Augen, ohne sie dabei zu berühren und knurrte leise: „Sieh mich nicht an!“
Vals Herz machte einen unerklärlichen Hüpfer, bevor sie hart schluckte. Sie musste noch nicht einmal die unterdrückte Wut in seiner Stimme hören, um sie bis ins Mark spüren zu können.
War er tatsächlich wütend auf sie, nach allem was sie beide hatten durchmachen müssen? Nach den Schmerzen, die er ihr zugefügt hatte? Oder, nachdem er sie sogar gebissen hatte?
Es schien ganz so zu sein, denn das Schweigen zwischen ihnen beiden war frostiger als die Kälte in ihren Knochen, während Alexey ihr das Blut aus dem Gesicht wischte und sich um ihre Wunde kümmerte.
Was auch immer er tat, es linderte den Schmerz innerhalb kürzester Zeit enorm, sodass Val nicht länger das Gefühl hatte, ihr Kopf würde jeden Moment explodieren. Das war aber auch schon der einzige Grund, weshalb sie stillhielt und seinen Wunsch für den Moment respektierte.
Ihr selbst hätte es auch besser gefallen, wenn sie nicht immer noch halbnackt unter ihm liegen würde, doch zumindest half er ihr dabei, das dünne Laken wieder bis über ihre Schulter hochzuziehen und breitete sogar eine zweite Decke über ihr aus, nachdem er mit ihrer Stirn fertig war.
Val untersuchte verstohlen die Wunde an ihrem Kopf, während sie Alexey heimlich dabei beobachtete, wie er sich durch den kleinen Raum bewegte, um den Badezuber herumging und noch einmal mit einem sauberen Tuch das frische Blut von sich wusch, bevor er sich gründlich abtrocknete.
Er stand mit dem Rücken zu ihr, sein Gesicht, wie nicht anders zu erwarten, von ihr abgewandt und ...
Val stutzte. Tastete noch einmal genauer im Ansatz ihrer Haare herum, doch sie konnte nicht genau sagen, wo sich die Platzwunde befand, die gerade eben noch eindeutig geblutet hatte. Alles, was sie fühlen konnte, war eine kleine wulstige Erhebung wie von einer frischen Narbe. Dementsprechend gering war auch der Schmerz, als sie fester dagegendrückte.
„Wie hast du ...?“ Die Frage war raus, noch bevor Val genauer darüber nachdenken konnte. Es gab hier eindeutig zu viele Dinge, die sie einfach nicht auf die Reihe brachte. Zu erwarten, dass ausgerechnet Mr. Schweigsam und Wütend ihre vielen Fragen beantwortete, war jedoch geradezu lächerlich.
Tatsächlich hielt Alexey nur kurz inne, ohne sich umzudrehen und gab ein verächtliches Schnauben von sich. Eindeutig noch wütender als ohnehin schon rieb er sich die Haare weitestgehend trocken, ehe er sie grob mit den Fingern durchfrisierte und wieder zu einem strengen Knoten im Nacken zusammenband, sodass Val einen noch besseren Ausblick auf das Massaker auf seinem Rücken bekam.
Genau genommen betraf dieses Massaker seinen gesamten Körper überall dort, wo zuvor auch die leuchtenden Symbole auf seiner Haut gewesen waren. Demzufolge musste auch sein Gesicht ...
Plötzlich erschien Val ihre Frage gar nicht mehr so wichtig. Stattdessen drängte sich ihr eine ganz andere auf, deren Antwort sie sehr viel brennender interessierte.
„Warum?“ Sie versuchte sich wieder etwas weiter aufzurichten, doch trotz der nachlassenden Kopfschmerzen fehlte ihr immer noch jegliche Kraft im Körper, sodass sie schließlich aufgab und ihren Kopf so gut es eben ging, auf dem harten, umbequemen Kissen bettete, während sie Alexey keine Sekunde lang aus den Augen ließ.
Warum haben sie dir das angetan?
Natürlich bekam sie keine Antwort. Stattdessen ging er stumm vor sich hinbrütend zu der großen Holztruhe neben der Tür, öffnete sie und begann darin herumzuwühlen, bis er etwas fand, das er anziehen konnte.
Für gewöhnlich trug er so eine Art Lederrock für Männer, da hier von Hosen noch niemand etwas gehört hatte, doch heute entschied Alexey sich, ganz entgegen seiner Gewohnheit, für eine wollene Tunika in einem erdigen Farbton, über die er sich einen Umhang in ähnlicher Farbe warf, sodass nur noch zum Teil an Armen und Beinen die Verletzungen auf seiner Haut zu sehen waren. Zuletzt griff er nach dem Helm, der zusammen mit seinen beiden Schwertern und diversen Alltagsgegenständen neben der Truhe auf dem einfachen Tisch lag.
„Nein!“ Val sträubten sich bei dem verhassten Anblick die Nackenhaare, weshalb sie Alexey regelrecht anfuhr, damit er sich dieses verdammte Ding nicht wieder aufsetzte und somit alles vor ihr verbergen konnte, was ihn momentan bewegte. Gerade jetzt wäre es wichtiger denn je, einmal in seinem Gesicht seine Gedanken oder Gefühle lesen zu können! Ganz zu schweigen davon, dass sie verdammt noch mal endlich das Gesicht des Mannes sehen wollte, mit dem sie eine ziemlich miese Nacht hinter sich gebracht hatte, und der sogar in ihr gewesen war!
War das denn wirklich zu viel verlangt?
Alexey war eindeutig anderer Meinung als sie, denn nachdem er zumindest einen Moment gezögert hatte, setzte er sich seinen Helm dafür umso entschlossener auf, bevor er sich zu Val herumdrehte und demonstrativ die Arme vor der Brust verschränkte.
Es war genau diese kleine Geste, die alles in ihr zum Überlaufen brachte.
Val saß aufrecht, noch bevor sie sich darüber im Klaren war, woher sie überhaupt die Kraft dafür nahm. Im Gegensatz zu Alexey zeigte sich dabei ganz offen in ihrem Gesicht, was sie von seiner Geste hielt. Selbst ihre rasende Wut ließ sie voll und ganz in ihre Stimme mit einfließen, als sie mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf das metallene Unding zeigte und auf Englisch fauchte: „Nimm. Dieses. Verdammte. Ding. Ab!“
Sie hatte einfach nicht mehr die Nerven, um sich mit schwammigen Übersetzungen und sprachlichen Barrieren herumzuschlagen, zumal ihre Geste kaum eindeutiger sein könnte.
Alexeys Haltung versteifte sich daraufhin erheblich, ehe er leise, aber nicht weniger wütend als sie seine Erwiderung knurrte: „Nein!“
Das konnte doch einfach nicht ...
„NIMM IHN AB!“ Sie fuhr ihn noch lauter an und drohte dabei erneut aus dem Bett zu fallen, wäre Alexey nicht plötzlich von einem Wimpernschlag auf den anderen direkt vor ihr erschienen.
„Nein!“ Sein Fauchen drang kaum durch den Helm hindurch, ließ Val jedoch wie sein überraschendes Auftauchen völlig perplex zurückzucken, bevor sie instinktiv rückwärts von ihm wegzurutschen versuchte, bis sie von der kalten Mauer in ihrem Rücken aufgehalten wurde und nicht mehr weiter konnte.
Alexey folgte ihr ohne Zögern, kam ihr bedrohlich nahe und versuchte sie mit seiner bloßen Masse einzuschüchtern, doch Val ließ sich davon nicht unterkriegen. Stattdessen reckte sie entschlossen ihr Kinn in die Höhe, sobald sie sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, und wollte gerade dazu ansetzen, ihm so richtig ihre Meinung zu geigen, als er ihr mit seinem nächsten Satz nicht nur zuvor kam, sondern ihr auch noch völlig den Wind aus den Segeln nahm.
„Keine ... Befehle ...“
Es war weniger die Wahl seiner Worte, als vielmehr die Art, wie er sie gesagt hatte, die Val aufhorchen ließ. Zwar hatte immer noch deutlich Wut darin mitgeschwungen, doch auch noch etwas ganz anderes. Beinahe so, als ob ...
Keine Befehle ...
Val fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen, als sie begriff, worum es hier wirklich ging. Nicht etwa darum, dass Alexey diesen beschissenen Helm um jeden Preis aufbehalten wollte und sich deshalb so vehement weigerte, nein, er ...
Ihr Blick glitt an dem Metall hinab und fiel auf den Flecken nackter Haut an seinem Hals, über den gerade ein kleines Rinnsal frischen Blutes lief, das von dem groben Leinenstoff aufgefangen wurde, als es Alexeys Halsausschnitt erreichte.
So schnell, wie ihre Wut gekommen war, war sie auch wieder verraucht.
Val hatte zwar ebenso viel Grund, wütend zu sein, aber nicht unweigerlich auf Alexey und schon gar nicht wegen etwas, das schon immer zwischen ihnen beiden gestanden hatte, aus Gründen, die sie ganz bestimmt nicht mit der Holzhammermethode aus ihm rauskriegen würde. Noch dazu war er verletzt. Mehr musste sie im Moment auch gar nicht wissen, um ihre eigenen Gefühle im Zaum zu halten.
Alexey hatte ihr außerdem gerade einen bedeutenden Hinweis gegeben, was seine sonst so wohl gehüteten Gefühle anging. Einen Wink mit dem Zaunpfahl sozusagen und zugleich schien dahinter auch noch eine sehr viel tiefere Bedeutung zu stecken.
Val wollte unbedingt wissen, welche das war, doch vorrangig keimte das Bedürfnis in ihr auf, ihm helfen zu wollen. So wie er ihr auf seine Weise durch diese beschissene Nacht geholfen hatte, in der sie zu etwas gezwungen worden waren, das sie beide nicht gewollt hatten.
Er hätte auch ganz anders mit ihr umgehen können ...
„Es tut mir leid, Alexey“, entschuldigte sie sich aufrichtig und so sanft wie möglich für ihr aufbrausendes Verhalten.
Ganz bestimmt hatte sie ihm keine Befehle geben wollen, obwohl sie natürlich genau das getan hatte. Sie hatte ihn nicht mit ihren Worten und dem scharfen Tonfall an die Eiskönigin erinnern wollen. Denn das war doch genau der Grund gewesen, warum er seine Gedanken auf diese Weise in Worte gefasst hatte, oder etwa nicht?
„Du ... verletzt.“ Sie deutete auf das Blut an seiner Kehle, nachdem er nicht weiter auf ihre Entschuldigung reagiert hatte. „Darf ich ... sehen?“
„Nein.“
Er wich ein Stück vor ihr zurück, stand jedoch nicht vom Bett auf, was vielleicht ein gutes Zeichen war oder eben auch nicht. Val konnte seine momentane Gefühlslage unmöglich einschätzen. Schon gar nicht mit diesem beschissenen Ding, das er aufhatte.
„Bitte ... Ich kann ... dir helfen.“
Konnte sie das? Val war sich da nicht so sicher. Es kam vor allem auf Alexey an, inwieweit er sie an sich heranließ, und ob er überhaupt dazu bereit war, seinen Helm abzunehmen.
Eigentlich hatte sie nur wenig Hoffnung, was das anging, doch das blutige Rinnsal an Alexeys Hals, das noch immer an Größe zunahm, ließ sie hartnäckig bleiben.
„Das ...“, sie deutete auf ihre eigenen Lippen, obwohl das ein absoluter Schuss ins Blaue sein könnte, „... muss nähen, bevor weiter ... bluten.“
Er sah sie an. Sah sie lange an, ohne sich zu rühren, doch zumindest hatte er nicht sofort wieder abgelehnt. Vals Hoffnung wuchs und zerschellte im nächsten Moment in tausend Stücke, als Alexey sich schließlich vollkommen von ihr abwandte und vom Bett aufstand.
Sie wollte enttäuscht aufgeben. Es einfach hinnehmen, dass sie nicht zu ihm durchdringen konnte, selbst nach allem, was sie inzwischen gemeinsam durchgemacht hatten. Nach all dem Mut und der Kraft, die es sie selbst kostete, das Geschehene für den Moment zur Seite zu schieben, um sich Sorgen um einen Mann zu machen, der ihr in dieser Nacht nicht nur verdammt wehgetan, sondern sie auch noch ganz andere Dinge hatte fühlen lassen.
Doch er ließ sie einfach nicht an sich heran, stattdessen ... goss er frisches Wasser aus einem Eimer in eine Schüssel, nahm auch noch frische Tücher und einen kleinen ledernen Beutel an sich und ... trug alles zu ihr herüber?
Alexey legte die Sachen vorsichtig neben ihr auf der Truhe ab, die ihm wohl auch als Nachttisch diente, und breitete sie so vor ihr aus, das Val alles leicht erreichen konnte.
Zuletzt öffnete er den kleinen Lederbeutel und nahm zu ihrer noch größeren Überraschung ein kleines Briefchen heraus, in dem sich eine gebogene Nadel befand, an der er geschickt einen Faden befestigte, der in Farbe und Stärke sehr stark dem ähnelte, was auch Rashad bei ihrem Rücken benutzt hatte. Sorgfältig legte er beides zusammen mit einem winzigen Dolch auf einem der frischen Leinentücher ab, ehe er sich noch einmal von ihr abwandte.
Val blickte Alexey beinahe fassungslos hinterher, als er durch den Raum ging, um unter dem schlichten Holztisch auch noch einen kleinen Hocker hervorzuholen und ihn zu ihr herüberzutragen. Er stellte ihn so vor dem Bett ab, dass das Licht der Feuerschale ihn weitestgehend von vorne traf, als er sich darauf niederließ. Das Holz ächzte protestierend unter dem Gewicht seiner riesigen Gestalt, schien ihm jedoch standhalten zu können.
Inzwischen schlug Val das Herz vor Aufregung bis zum Hals, nachdem Alexey ihr nicht deutlicher hätte klarmachen können, dass er schließlich doch noch mit ihrer Hilfe einverstanden war. Dennoch, so richtig außer Kontrolle brachte er es erst genau in jenem Moment, als er seine Hände an das scheußliche Metallding legte.
Zwar schien es ihm sichtlich schwerzufallen, was nicht zuletzt sein Zögern, sondern auch seine schwere Atmung verriet, aber am Ende zog Alexey sich doch noch den Helm vom Kopf.
Dieses Mal gab es keine Finsternis, kein Zwielicht, das sein Gesicht vor ihr verbergen könnte. Zum ersten Mal konnte Val es im vollen Lichte und unverhüllt betrachten.
Ihr blieb sprichwörtlich der Mund offen stehen, während ihre Augen nicht wussten, worauf sie sich zuerst fokussieren sollten.
Der Anblick seines völlig zerschnittenen Gesichts war schlimmer als erwartet. Vor allem seine geschwollenen Lippen sahen wirklich grauenvoll aus und mussten tatsächlich dringend an mehrfacher Stelle genäht werden, da die Wundränder richtiggehend auseinanderklafften und von daher das viele Blut kam, das inzwischen nicht nur sein ganzes Kinn bedeckte, sondern auch einen Gutteil seines Halses.
Gerade an dieser sensiblen Stelle mussten die Schnitte Alexey höllische Schmerzen bereiten, erst recht, wenn er sprach, und dennoch waren seine Gesichtszüge glatt und unbewegt. Sein Blick gesenkt.
Er wollte sie scheinbar nicht ansehen. Dass er es jedoch könnte, wenn er gewollt hätte, und das ohne jegliche Einschränkungen, war die nächste Überraschung für Val.
Damals in der Küche hatte sie geglaubt, seine Pupillen wären getrübt, und dass er dadurch enorme Probleme beim Sehen haben müsste, doch jetzt waren seine Augen klar, seine Pupillen zeichneten sich stechend scharf von seinen Iriden ab, deren Farbe von einem unheimlichen Blau war, wie sie es eigentlich noch nie persönlich bei einem Menschen gesehen hatte. Hinzu kam auch noch ein markanter schwarzer Ring um seine Iris, welcher die ungewöhnliche Farbe seiner Augen wie ein Juwel einfasste. Vermischt mit seinem eher dunklen Teint war das ein Blickfang, wie man ihm nur selten begegnete.
Kein Wunder, dass er ständig diesen Helm trug. Allein mit seiner Statur fiel er bereits auf wie ein bunter Hund. Wenn man dann auch noch seine eindrucksvollen Augen hinzunahm ...
Val musste sich in Gedanken wieder zur Ordnung rufen, da ihr keineswegs entgangen war, wie fest sich Alexeys Hände inzwischen um den Helm in seinem Schoß klammerten und wie angespannt er seine Kiefer aufeinanderpresste. Er hatte ihn abgenommen, damit sie seine Wunden versorgen konnte, nicht, um ihn besser anstarren zu können!
Die Scham trieb Val die Röte in die Wangen, kurz bevor sie ihren Blick abwandte und rasch nach der Nadel und dem Faden griff.
Sie hatte nicht vor, gleich mit dem Nähen zu beginnen. Zuerst musste sie noch vorsichtig den größten Teil des frischen Blutes entfernen, um besser das Ausmaß der Verletzungen einschätzen zu können, doch was Val wirklich zögern ließ, war viel mehr die Frage, wie sie Nadel und Faden am besten steril machen konnte.
Sie waren hier im beschissenen Mittelalter! Schlimmer noch, vermutlich noch einige hundert Jahre früher, so lächerlich der Gedanke auch war, weshalb eine fehlende Betäubung und schlimme Narben Alexeys kleinstes Problem darstellten. Die beste chirurgische Nähkunst war vollkommen sinnlos, wenn ihn am Ende eine Sepsis dahinraffte. Falls es dafür nicht ohnehin schon zu spät war, so viele Verletzungen, wie ihm am ganzen Körper zugefügt worden waren.
Gott, was gäbe sie im Augenblick nicht alles für eine einzige Ampulle Penicillin!
Bevor Alexey die Geduld mit ihr verlieren konnte, berührte Val ihn kaum merklich am Arm, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, da er sie noch immer nicht ansah.
„Bitte, bleib“, bat sie ihn vollkommen bedacht darauf, es nicht nach einer Forderung klingen zu lassen, ehe sie mit einer Hand den Stoff der Decke, in die sie gehüllt war, vor ihrer Brust umklammerte, um sie festzuhalten, bevor sie auf verdammt wackeligen Beinen aus dem Bett stieg und wie ein neugeborenes Fohlen durch den Raum stakste, um zu sehen, ob in dem metallenen Eimer noch etwas frisches Wasser war.
Es befand sich sogar schon fast zu viel Wasser darin, sodass Val Mühe hatte, ihn mit ihren kaum vorhandenen Kräften hochzuheben, nachdem sie Nadel und Faden darin versenkt hatte.
Sie musste noch nicht einmal hochsehen, um zu wissen, dass Alexey sie aufmerksam musterte und sich wahrscheinlich gerade fragte, was sie da eigentlich machte. Doch selbst ihm entging nicht, was sie vorhatte, als sie mehrmals versuchte, den Eimer hoch genug zu heben, um ihn vorsichtig inmitten der Glut des immer noch fröhlich vor sich hinknisternden Feuers in der Metallschale abzustellen.
Nach ihrem dritten Versuch erlöste Alexey sie endlich von ihren peinlichen Bemühungen und nahm ihr den Eimer ab, sodass Val völlig geschafft zurück auf das Bett klettern und erst einmal tief durchatmen konnte.
Danach band sie die Decke vor ihrer Brust richtig zusammen, damit sie sie nicht mehr mit den Händen halten musste, bevor sie sich daran machte, Alexey vorsichtig das Blut abzuwischen.
Zunächst zuckte er noch vor ihrer Hand und dem angefeuchteten Tuch zurück, doch schließlich hob er sogar sein Kinn etwas an, damit sie besser an seinen Hals herankam.
Immer wieder versuchte Val dabei Blickkontakt herzustellen, doch Alexey weigerte sich weiterhin beharrlich, ihr in die Augen zu sehen und wich ihr immer wieder zur Seite aus. Meistens schien er dabei den Flammen in der Feuerschale zuzusehen, doch ab und an wirkte es so, als ginge sein Blick sehr viel weiter in die Ferne, während er steif und angespannt ihre Behandlung über sich ergehen ließ.
Val graute davor, wie es erst werden würde, sobald sie zu nähen anfing und das ganz ohne Betäubung!
Für ihren Geschmack viel zu schnell begann das Wasser im Eimer zu kochen, und auch wenn Val es länger als nötig sprudeln ließ, kam irgendwann der Zeitpunkt, an dem sie sich nicht mehr länger vor dem Unvermeidlichen drücken konnte. Schließlich hatte sie Alexey ihre Hilfe angeboten, und obwohl diese Tatsache sie immer noch über die Maßen erstaunte, hatte er sie sogar angenommen. Sie konnte also gar nicht mehr kneifen.
Im Grunde genommen wollte sie das auch gar nicht, doch sie hätte ihm gerne die kommenden Schmerzen erspart, wenn es ihr möglich gewesen wäre.
Während sie den feuchten Faden mit einem weiteren sauberen Leinentuch trockenlegte, versuchte Val daher, Alexey einen Vorschlag zu unterbreiten, von dem sie sehr wohl wusste, dass er ihn ohne nachzudenken ablehnen würde. Sie musste es dennoch versuchen.
„Kannst du ... gehen zu Rashad? Wegen ... Schmerzen? Er dir bestimmt ... helfen ...“
Als hätten ihre Worte ihn zutiefst beleidigt, schloss Alexey nun eindeutig wütend die Augen, holte einmal tief Luft und sah sie dann direkt an.
„Nein.“
Sein Blick war von solcher Intensität, dass Val nicht einmal auf den Gedanken kam, ihm auszuweichen und dennoch spürte sie, wie ihr ganzer Körper darauf reagierte.
Wäre sie nicht schon vollkommen durchgefroren, Alexeys eisiger Blick hätte sie endgültig frösteln lassen, während sie sich zugleich fragte, womit sie die stählerne Härte darin überhaupt verdient hatte. Alles, was sie schließlich wollte, war ihm zu helfen.
Als Val nichts weiter tat, als darum zu kämpfen, diesem intensiven Blick standzuhalten, gab Alexey schließlich ein Schnauben von sich und wollte nach der Nadel in ihrer Hand greifen, doch ausnahmsweise war sie schneller und schaffte es, sie rechtzeitig vor ihm in Sicherheit zu bringen.
Da der Blickkontakt dadurch abbrach und der Bann damit gebrochen war, drückte Val ihm stattdessen entschlossen das Tuch in die Hand, mit dem sie ihm bereits den größten Teil des Blutes abgewischt hatte, und brachte ihn dazu, es sich selbst unters Kinn zu halten.
„Also gut. Halte fest und ... nicht bewegen!“ Auch ihr Tonfall konnte frostig sein, vor allem, wenn es um sture Patienten ging, die sich nicht zu ihrem eigenen Wohl fügen wollten.
Er wollte keine Betäubung? Bitteschön. Konnte er haben.
Entschlossen rutschte Val näher an ihn heran, hob sein Kinn noch weiter dem Licht entgegen – das im Übrigen echt beschissen war, wenn es darum ging, Fleischwunden zu nähen – und fing ohne weitere Verzögerung an.
Val hatte sich schon, während sie vorsichtig die Wundränder gesäubert hatte, überlegt, wie sie am besten vorgehen sollte, wie viele Stiche für jeden Schnitt notwendig sein würden und an welchen Stellen sie besonders vorsichtig sein musste, weshalb sie jetzt auch schnell und akkurat zu nähen beginnen konnte, ohne noch weiter darüber nachdenken zu müssen.
Eigentlich hätte sie damit gerechnet, dass sie Alexeys Gesicht gerade beim ersten Stich besonders festhalten musste, doch zu ihrem wachsenden Erstaunen, rührte er sich kaum einen Millimeter. Sie konnte lediglich spüren, wie sein ganzer Körper sich versteifte, doch das war schon alles an Reaktion, die sie am Rande mitbekam, während sie sich vollkommen auf ihre Aufgabe konzentrierte.
Alexeys Unterlippe hatte es am schlimmsten erwischt, da sie von gleich drei Schnitten auf einmal durchzogen war, die noch ein gutes Stück über das Lippenrot hinausgingen, weshalb es sich als knifflig erwies, die Stiche richtig zu setzen und die Wundränder so zusammenzuziehen, dass die Narbenbildung so gering wie möglich sein würde.
Dazu musste sie immer wieder die Stellung seines Kopfes korrigieren, um besser sehen zu können, durfte Alexey dabei aber nicht dazu zwingen, sein eigenes Blut zu schlucken, indem sie ihn zu stark nach hinten bog. Auch so war das Tuch in seiner Hand ziemlich schnell von seinem Blut durchtränkt, weshalb Val für einen Moment unterbrechen musste, um ihm ein frisches in die Hand geben zu können.
Das alles war wirklich eine Herausforderung. Nicht nur für Alexey, was das Ertragen von Schmerzen anging, sondern auch für Val, die schon seit über einem Jahrzehnt keine Wunden mehr genäht hatte. Schon gar nicht mit bloßen Fingern!
Dennoch ging sie vollkommen in ihrer Aufgabe auf und dachte nicht länger an das, was vor kurzem noch zwischen Alexey und ihr geschehen war. Was er getan und wie sie darauf reagiert hatte.
Da gab es nur noch seine Verletzungen und die Herausforderung für Val, sich so gut wie irgend möglich darum zu kümmern.
Erst als sie mit Alexeys Unterlippe fertig war und sich ein kleines Stück zurücklehnte, um sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn zu wischen, während sie ihre bisherige Arbeit kritisch betrachtete, wurde Val bewusst, dass sie nicht länger fror, sondern ihr inzwischen sogar richtiggehend warm geworden war. Sie fühlte sich auch bei weitem nicht mehr so schwach wie noch zu Anfang, als sie mit dem Nähen begonnen hatte. Was nur gut sein konnte, denn sie war noch lange nicht fertig, wollte Alexey aber für den Moment eine Pause gönnen, da er inzwischen so laut mit den Zähnen knirschte, dass sie es nicht länger ignorieren konnte. Also besah sie sich stattdessen seine Stirn genauer, die ebenso zerschnitten worden war wie der Rest von ihm, nur, dass die Wunden dort noch ein gutes Stück tiefer zu gehen schienen.
Es war ihr schon vorhin aufgefallen. Da die Schnitte jedoch nicht mehr bluteten, hatte sie sich zuerst um Alexeys Mund kümmern wollen. Doch jetzt sah sie sich die Verletzungen genauer an, tupfte vorsichtig mit einem feuchten Tuch darüber und betrachtete skeptisch die Wundränder.
Noch gab es keine Anzeichen für eine Infektion, und dafür, dass die Schnitte noch relativ frisch waren, sahen sie auch schon ganz gut aus, obwohl sie ebenfalls genäht oder zumindest mit Wundnahtstreifen hätten behandelt werden müssen.
Nachdem Val aber schon einmal erlebt hatte, dass Schnitte dieser Art Alexey im Grunde genommen nicht allzu viel ausmachten – immerhin waren die von ihr zugefügten Verletzungen innerhalb eines Tages restlos verschwunden – zerbrach sie sich auch über diese neuen Wunden besser nicht zu sehr den Kopf. Wahrscheinlich war ohnehin schon bald nichts mehr davon zu sehen, auch wenn sie sich einfach nicht erklären konnte, wie das überhaupt möglich war.
Sein Mund hingegen ... machte nicht unbedingt den Eindruck, als würde dort irgendwie so eine Art Wunderheilung stattfinden, wobei sich die Schnitte dort auch am schlimmsten äußerten und daher auch unbedingt genäht werden mussten.
Mit einem schweren Seufzen, das ganz allein Alexey galt, dem sie gleich wieder ordentlich Schmerzen zufügen würde, griff Val erneut nach Nadel und Faden und suchte seinen Blick.
Inzwischen konnte sie ihm sehr deutlich an den Augen ansehen, wie sehr ihm das ganze Prozedere zu schaffen machte, doch er hielt sich erstaunlich gut.
„Vier Stiche noch“, verkündete sie ihm auf Englisch, während sie vier ihrer Finger der freien Hand vor ihm hochhielt und zurück ins Latinum wechselte. „Dann ich bin ... Ende?“
Sie seufzte erneut. Nein, das war nicht das richtige Wort.
„Fertig.“
„Ja, fertig ... danke.“
Val war sich gar nicht bewusst, dass sie für einen Moment lächelte, ehe sie sich wieder auf ihre Aufgabe konzentrierte und sich an die prophezeiten vier Stiche ranwagte, die es nun tatsächlich schafften, dass Alexeys Augen tränten. Kein Wunder. Sie an seiner Stelle hätte spätestens bei diesen Stichen Rotz und Wasser geheult. Es war ja auch wirklich eine ziemlich gemeine Stelle.
Aber schließlich war auch das geschafft und Val räumte bewusst langsam die benutzten Sachen auf ihrem provisorischen Arbeitstisch zusammen, während sie Alexey Zeit gab, um sich wieder zu fangen.
Er war zwar nicht sofort von dem kleinen, ächzenden Hocker aufgesprungen, nachdem sie den letzten Faden mit dem winzigen Dolch abgeschnitten hatte, schien es aber dennoch eilig zu haben, wieder auf die Beine zu kommen.
Val war gerade dabei, die nun wieder saubere Nadel zurück in das kleine Papierbriefchen zu stecken, als Alexey mit seinem Helm in der Hand zur Tür ging und sich dort noch einmal halb zu ihr umdrehte.
„Nicht ... weggehen ...“, war alles, was er sagte, ehe er sich das metallene Scheißding wieder aufsetzte und auch schon verschwunden war.
Val starrte ihm hinterher, nicht sicher, ob sie auf ihn hören, oder nun doch besser von hier verschwinden sollte.
***
Als Alexey in seine Kammer zurückkehrte, waren die Flammen in der Feuerschale bereits heruntergebrannt. Lediglich die Glut darin verbreitete noch einen sanften Lichtschein.
Es war nicht seine Absicht gewesen, so lange fortzubleiben, und doch hatte er eine Weile gebraucht, um ... sich zu sammeln. Die Zeit hatte nicht ausgereicht. Nicht einmal annähernd. Alexey war immer noch aufgewühlt, bis ins Mark erschüttert und unsicher zugleich. Sein Verstand sagte ihm das Eine, sein Herz jedoch etwas ganz anderes. Er wusste nicht mehr, was er denken ... was er fühlen sollte. Ob er ihr vertrauen konnte oder misstrauen sollte, gerade weil die kleine Kriegerin nun einmal war, was sie eben war. Und doch ... zog eine unsichtbare Macht ihn stets zu ihr hin. Selbst jetzt noch. Selbst nach allem, was in dieser Nacht geschehen war, konnte er sich dieser Macht einfach nicht entziehen.
Alexey blieb vor seinem Bett stehen und blickte nachdenklich auf das zarte Geschöpf hinab, das sich dort niedergelassen hatte, um sich dem wohlverdienten Schlaf hinzugeben.
Valeria hatte ihn auf eine Weise an sich gebunden, die ihm nur allzu schmerzlich vertraut war. Die schlechte Erinnerungen weckte und doch hatte sie ihm auch bei etwas geholfen, vor dem Alexey jedes Mal aufs Neue graute. Zwar hatte er im Laufe der Jahre einiges an Geschick hinzugewonnen, was das Nähen seiner Wunden anging, doch blieb es stets eine üble Tortur, die ihm all seine Selbstbeherrschung abverlangte.
Wie sehr er Magie doch verabscheute, und doch brachte sein verräterisches Herz es nicht fertig, die kleine Kriegerin zu hassen!
Alexey ließ sich erschöpft auf den kleinen Hocker nieder, auf dem er zuvor schon gesessen hatte, bevor er das frische Kleid, das er bis jetzt vorsichtig in den Händen gehalten hatte, so neben Valeria arrangierte, dass sie es beim Aufwachen sofort finden würde. Danach nahm er seinen Helm ab und stellte ihn leise neben sich auf die Truhe.
Vorsichtig betastete er die frischen und überaus raffinierten Nähte in seinem Gesicht.
So geschickt er inzwischen mit Nadel und Faden auch sein mochte, an das Können der kleinen Kriegerin würde er noch lange nicht heranreichen, was viel über sie aussagte und ihn nicht zum ersten Mal zu dem Schluss führte, dass an Valeria mehr dran war, als das Auge sah. Sehr viel mehr sogar, wie er inzwischen wusste.
Die Erinnerung an den Moment, als er herausgefunden hatte, dass sie eine von Jenen war, bescherte ihm zwar immer noch einen heftigen Stich im Herzen, doch war seine Wut darüber inzwischen beinahe zur Gänze verraucht.
Valeria hatte nicht die Macht, über ihn zu befehlen. Zumindest nicht so, wie Hedera sie besaß. Denn für ein weiteres Lächeln von ihr würde er ihr freiwillig jeden Wunsch erfüllen, solange es sie glücklich machte.
Er war ein verdammter Narr! Alexey wusste es und doch war er nicht stark genug, um dagegen anzukämpfen. Stattdessen wurde er halb wahnsinnig bei dem Gedanken, was seiner kleinen Kriegerin schon bald widerfahren würde. Welch grauenvollen Dinge Vorenus ihr antun würde, während er nichts tun konnte, um sie davor zu beschützen!
Alexey ging vor ihr auf die Knie, um seinen Kopf bequemer auf seine Unterarme betten und zugleich Valerias schlafendes Gesicht besser betrachten zu können. Er war versucht, noch ein letztes Mal mit den Fingern durch ihr seidiges Haar zu streichen, doch wollte er ihren ruhigen Schlaf nicht stören. Stattdessen hielt er Wache.
Für den Moment war sie bei ihm sicher. Doch der Morgengrauen rückte unerbittlich näher und mit ihm ein schmerzvoller Abschied.
Alexey gab sich nicht der Hoffnung hin, dass seine kleine Kriegerin noch sehr viel länger unter diesem verfluchten Dach überleben würde. Nicht, nachdem Hedera von ihr bekommen hatte, was sie wollte ...