Als Val zu sich kam, war ihr, als hätte sie ein Sattelschlepper überrollt. Sie fühlte sich völlig zermatscht, wie ausgekotzt und mit einem mörderischen Kater gestraft. Alles Dinge, die sie sich eigentlich nicht so recht erklären konnte, es sei denn …
„Alexey?“ Ihre Stimme klang schlimmer als die eines jeden Kettenrauchers.
„Ich bin hier.“ Eine große Hand schob sich vorsichtig in ihren Nacken und richtete sie ein kleines Stück auf. „Hier. Trink das, das wird dir helfen.“
Val war in einem derart desolaten Zustand, dass sie die Worte nicht im Geringsten hinterfragte, sondern gierig trank, was ihr angeboten wurde. Ihre trockene Kehle dankte es ihr, zudem hatte sie einen wahnsinnigen Durst zu löschen. Erst im Nachgang bemerkte sie, dass das mehr gewesen sein musste als reines Quellwasser.
Val riss die Augen auf und wich sofort vor Alexey zurück, als durch den allzu vertrauten Geschmack die Erinnerung mit voller Wucht wieder in ihren dröhnenden Schädel einschlug. Gehetzt sah sie sich im Raum um, da sie Alexey nicht wirklich ansehen konnte und auch nicht so recht wusste wohin mit sich und ihren verfluchten Händen. Erst musste sie sich wieder ein wenig beruhigen und sammeln.
Alexeys Kammer sah aufgeräumter aus als beim letzten Mal. Die ganzen Trümmer waren nun sorgfältig auf einer Seite des Raumes gestapelt, während neben der Matratze, auf der Val saß, die letzten verbliebenen und noch heilen Sachen von Alexey feinsäuberlich aufgereiht auf dem Boden lagen. Viel war von seinen Habseligkeiten nicht mehr übrig geblieben.
Val schluckte hart und zog die Decke enger um ihre Schultern, ehe sie Alexey und den Becher in seiner Hand dann doch ein wenig vorwurfsvoll ansah, obwohl die Kopfschmerzen bereits nachließen. „War da drin dein –?“
„Blut? Ja. Aber nur zwei Tropfen. Die werden dich nicht berauschen, aber dir etwas von deiner Kraft zurückgeben. Du hast dich viel zu sehr verausgabt und dir bleibt nicht mehr viel Zeit, um dich zu erholen.“
„Wie spät ist es denn?“
„Etwa eine Stunde bis zum Morgengrauen.“ Alexey stellte den Becher zur Seite und setzte sich zu Val auf die Matratze.
Val kam sich selbst ziemlich dumm dabei vor, doch sie rutschte noch ein gutes Stück von ihm weg, um ihn bloß nicht zu berühren. Dabei fiel ihr auf, dass sie nicht nur nackt unter der Decke war, sondern auch ziemlich sauber.
„Hast du mich gewaschen?“ Dieses Mal klang kein Vorwurf in ihrer Stimme mit. Viel mehr tat ihr leid, dass er zu solchen Maßnahmen gezwungen war.
„Ja. Ich wollte nicht, dass du aufwachst und immer noch das ganze Blut an dir hast.“ Er rieb sich angespannt den Nacken. „Außerdem gibt es an dir nichts, das ich nicht schon gesehen hätte.“
„Ich weiß. Es … stört mich auch nicht. Danke, dass du mir den Anblick erspart hast“, versicherte sie leise. Es fühlte sich irgendwie komisch zwischen ihnen beiden an. Verdammt komisch sogar. Als würde all das Unausgesprochene zwischen ihnen eine gigantische Mauer bilden, die keiner von ihnen beiden so wirklich einreißen wollte, schließlich redeten sie gerade um den sprichwörtlichen heißen Brei herum, anstatt darüber zu reden, was hier passiert war und was Val mit Alexey in ihrem Lustrausch angestellt hatte. Doch das mussten sie. Dringend sogar!
„Alexey …“
„Valeria …“
Sie verstummten beide und Val entkam ein freudloses Lachen, als ihr klar wurde, dass sie wohl doch entschlossen waren, es zu versuchen. Da Alexey jedoch nicht weitersprach, drehte sie sich ihm voll und ganz zu und sah ihn fragend an. „Erzählst du mir, was hier passiert ist? Du … warst in einem beängstigenden Zustand, als ich dich fand.“ Den Anblick würde sie wohl für eine ganze Weile nicht mehr vergessen. Er den ihren vermutlich auch nicht.
Alexey zögerte kurz, dann setzte er sich ein wenig bequemer hin, indem er ein Bein lang vor sich ausstreckte und das andere vor seine Brust zog, während er sich schwer mit dem Rücken gegen die Wand lehnte und an die Decke starrte. Er stieß ein tiefes Seufzen aus, ehe er sie mit ernstem Blick ansah.
„Ich wusste nicht, wohin mit … mit allem. Normalerweise verbiete ich mir, zu lauschen, um am Ende nicht Gefahr zu laufen, unsere Situation noch weiter zu verschlimmern. Ich kann diesem Bastard Vorenus nichts antun, aber du ahnst nicht, wie oft ich ihn allein in den letzten Stunden auf alle erdenklichen Arten töten wollte.“ Alexey brach den Blickkontakt ab und starrte stattdessen auf seine Hände, die inzwischen nach diesem Möbelmassaker wieder vollkommen geheilt waren mit Ausnahme des kleinen Stummel, der mit etwas Zeit noch sein rechter kleiner Finger werden würde.
„Heute konnte ich jedoch nicht weghören, als du … Ich konnte dich vor Schmerzen schreien hören und da … habe ich die Kontrolle verloren … Zu wissen, dass er dir schadet … und dann ist da auch noch das Baby …“
Alexey begann zu zittern und noch während er sprach, konnte Val genau erkennen, wie sich seine Fänge bedrohlich verlängerten.
Sie wollte ihm beruhigend die Hand aufs Knie legen, zog diese jedoch hastig wieder zurück. Zum Glück blieb Alexey auch ohne ihre Unterstützung ruhig sitzen. Dafür hatte sie wieder seine volle Aufmerksamkeit.
„Was ist mit dir? Wieso weichst du vor mir zurück, als könntest du dich an mir verbrennen?“ Er klang beinahe verletzt.
Val schüttelte hastig den Kopf. „Nein, das ist es nicht! Aber …“ Sie begann ein Loch in die ohnehin schon ramponierte Matratze zu starren. So wenig sie es selbst glauben konnte, konnte sie sich dennoch zu gut daran erinnern, was sie in den Räumen des Perversen gesehen und erlebt hatte. Leugnen war also dieses Mal keine Option. Nicht, nachdem sie danach auch noch diesen beschissenen Fluch auf Alexey zum Leuchten gebracht hatte!
„Ich glaube, ich war heute kurz davor … diesen verdammten Hurensohn umzubringen …“ Val schaute hoch und hoffte, Alexey verstand, was sie damit sagen wollte, doch er sah sie nur an, als warte er darauf, dass sie weitersprach. Also tat sie schließlich genau das, nachdem sie ebenfalls einen tiefen Seufzer ausgestoßen hatte.
„Ich meine … mit meiner Gabe. Ich weiß nicht, wie ich es getan habe, aber plötzlich ist er krampfend über mir zusammengebrochen und hatte Blutungen, die so aussahen, als hätte sein Gehirn Schaden genommen. Er … hat aber noch gelebt. Ganz sicher sogar!“ Der Schaden, den sie angerichtet hatte, ließ sich dennoch nicht schön reden.
Die Angst brach sich plötzlich in ihr Bahn, obwohl sie sie schon die ganze Zeit zu unterdrücken versuchte, seit sie aufgewacht war. Val sprang hastig auf und lief die wenigen Schritte, die sie im Raum beschreiten konnte, aufgebracht auf und ab, während sie die Decke so fest und verzweifelt um sich umklammert hielt, als wäre sie ihr einziger Schutz vor dieser neuen Erkenntnis.
„Was, wenn du dich geirrt hast und nicht das Heilen meine Gabe ist, sondern das Töten? Was, wenn ich die Leute unheilbar krank mache, einfach nur, indem ich sie berühre? Was, wenn ich dich bereits unheilbar krank gemacht habe? Immerhin haben diese seltsamen Zeichen auf dir geglüht!“
Alexey stand ihr so plötzlich im Weg, dass sie beinahe gegen seine Brust gelaufen wäre. Als er auch noch versuchte, sie zu berühren, wich sie hastig vor ihm zurück. „Nein, fass mich nicht an! Hast du nicht zugehört?!“
„Ich habe zugehört.“ Er ließ seine Arme sinken. „Und ich glaube dir, dass genau das passiert ist, was du sagst, bis auf eine Sache: MICH hast du sicher nicht krank gemacht. Im Gegenteil. Ich fühle mich so gut wie schon seit sehr, sehr langer Zeit nicht mehr.“
„Woher willst du das wissen? Woher willst du wissen, dass ich dir in diesem irren Rausch nicht irgendeine Krankheit eingepflanzt habe, die erst später ausbricht?“
„Ich weiß es einfach. Du würdest mir niemals schaden und ich habe dir auch keinen Grund dazu gegeben. Ganz im Gegensatz zu diesem Bastard. Er hat dich verletzt und dir davor schon tausend Gründe geben, ihn zu hassen und ihn verletzen zu wollen. Denkst du nicht, dass das sogar eine sehr wichtige Rolle bei deiner Gabe spielt? Ich weiß zwar kaum etwas von deiner Vergangenheit, aber ich weiß, dass du dich mit Körpern auskennst. Vermutlich auch mit dem Heilen, so wie dieser Medicus es tut. Also müsstest du doch wissen, dass etwas, das einen zum Beispiel in geringer Dosis heilen kann, in rauen Mengen genauso gut töten könnte?“
„D-du meinst, die Dosis macht das Gift?“, fragte Val zögerlich, während sie der Logik in Alexeys Worten zu folgen versuchte. Denn sie waren wie ein Rettungsring, der sie vorm Ertrinken bewahren könnte.
„So etwas in der Art. Weder du noch ich verstehen, wie deine Fähigkeit wirklich funktioniert, obwohl ich denke, dass sie sehr viel mit deinen Gefühlen zu tun hat. Was ich aber mit absoluter Sicherheit sagen kann, ist, dass du mir noch nie geschadet hast. Im Gegenteil. Damals, nach diesem beschissenen Ritual, als du meine Lippen genäht hast, musst du in geringer Dosis ebenfalls deine Kraft an mir gewirkt habe, ansonsten wäre es mir unmöglich gewesen, Hedera danach anzulügen. Davor musste ich mir fast die Zunge abbeißen, um die Sache mit meinem versuchten Selbstmord in der Küche nicht zu verraten. Doch ab diesem Zeitpunkt … ist es so leicht wie atmen für mich, sie anzulügen.“
Alexey versuchte sich an einem Lächeln, obwohl es kläglich scheiterte. Sowas an ihm zu sehen, war einfach seltsam, doch Val schätzte die Geste, dass er sie damit beruhigen wollte und ließ sogar zu, dass er wieder näher kam, obwohl sie sich verkrampfte, als er seine Hände über der Decke auf ihre Schultern legte.
„Warum haben dann diese Zeichen … geleuchtet?“ Sie klang inzwischen sehr kleinlaut. Sie wollte Alexey ja glauben, aber genauso sehr wollte sie einfach kein wandelnder Pesthauch auf zwei Beinen sein.
„Ich kann es dir nicht genau sagen, aber ich vermute, das lag daran, dass du sehr viel von deiner Kraft in den Fluch abgegeben hast. Nicht, um ihn zu verschlimmern!“, fügte er hastig hinzu, als Val auf seine Worte hin kreidebleich wurde. „Ich denke eher, das Gegenteil war der Fall. Ich habe das Gefühl, freier atmen zu können. Als wäre ein unglaublich schweres Gewicht von meinen Schultern genommen worden.“
„Was willst du mir damit sagen? Dass ich die Kontrolle, die dieses Miststück über dich hat, etwas gelockert haben könnte?“ Wenn ihr das doch nur möglich wäre!
Alexey schien selbst nicht daran zu glauben, denn plötzlich wich er ihrem Blick aus. „Ich würde es mir wünschen, aber … ich weiß es nicht.“
Er ließ sie los und wandte sich von ihr ab, doch jede Warnung zum Trotz folgte Val ihrem Instinkt und ergriff seine Hand, um sie zu halten. Sie brauchte das ebenso sehr wie Alexey, auch wenn sie darauf gefasst war, sofort loszulassen, sollte es ihm plötzlich schlechter gehen.
Betroffenes Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, während er den Druck ihrer Finger erwiderte. Sie beide wagten nicht zu hoffen. Eine Lockerung des Zwangs, der auf Alexey lag, würde schließlich bedeuten, dass sie eine realistische Chance hätten, von hier zu fliehen. Ein Gedanke, der davor so unmöglich war, dass sie ihn nicht einmal ausgesprochen hatten. Immerhin könnte Val Alexey niemals zurücklassen, der schließlich nicht so einfach von hier davon spazieren konnte. Und bevor sie gelernt hatte, so für ihn zu empfinden, hatte ein anderer Grund sie davon abgehalten, einfach zu fliehen. Immerhin hatte Val keine Ahnung, wie sie in dieser Zeit und in dieser Welt dort draußen alleine überleben sollte. Selbst mit Cearas Hilfe nicht. Schließlich war sie keine Stunde hier gewesen, da war sie schon in die Hände eines beschissenen Sklavenhändlers gefallen. Val konnte nicht erwarten, dass zwei Frauen vollkommen auf sich gestellt, bessere Chancen hätten. Doch mit Alexey zusammen …
Vals Gedanken sprangen wild in ihrem Kopf hin und her, während sich Zweifel und Hoffnung in ihr die Waage hielten. Sie ging noch einmal durch, was sie über den Fluch, der auf Alexey lastete, wusste. Was alles zwischen ihnen geschehen war und die offensichtlichen Veränderungen, die sie an ihm gewirkt haben könnte. Es war nicht viel und Val begriff selbst jetzt noch nicht das wahre Ausmaß der Kontrolle, welche die Eiskönigin über Alexey besaß, doch eine Kleinigkeit kam ihr dann doch in den Sinn. Wahrscheinlich war es nicht weiter von Bedeutung, aber was, wenn doch?
„Denkst du … es hat etwas zu bedeuten, dass du … Ich meine, ich musste dir gestern mit einer Nadel in den Finger stechen, damit du Ceara etwas von deinem Blut geben konntest und heute hättest du dir beinahe den halben Daumen abgebissen, um mir dein Blut zu geben. Ist das irgendwie von Bedeutung, oder lag das einfach an irgendeinem … was weiß ich … Adrenalinschub oder etwas in der Art, weil ich so schlimm verletzt war?“ Durch die Angst um geliebte Menschen konnte man immerhin ungeahnte Kräfte entwickeln. Warum sollte das bei einem Vampir anders sein?
Alexey drehte sich langsam zu ihr herum. Zu ihrem eigenen Erstaunen sah er sie mit einen Blick an, den sie so noch nie an ihm gesehen hatte. Als wäre sie plötzlich ein absolutes Wunder für ihn oder eine göttliche Erscheinung. Auf jeden Fall etwas, das er mit Sicherheit nicht alle Tage sah.
Völlig unerwartet erfasste er mit beiden Händen ihr Gesicht, küsste sie stürmisch auf den Mund und hauchte anschließend leise mit bebenden Lippen und unverhohlenem Tatendrang dagegen: „Lass es uns herausfinden!“
Alexey ließ sie wieder los, sah sich kurz suchend im Raum um und bückte sich anschließend nach einem seiner beiden Schwertern. In seinem Blick lag absolute Entschlossenheit, sodass Val es nun endgültig mit der Angst zu tun bekam, als er es aus der Scheide zog und die scharfe Klinge gefährlich nahe an seinen Hals brachte.
Hastig stürzte Val sich auf den Arm, der das Schwert hielt und zog entsetzt daran. „Was hast du vor? Willst du dir selbst die Kehle aufschlitzen, um zu testen, ob du es nun schaffst, dich umzubringen?!“
Dieses Mal lächelte Alexey tatsächlich, was fast noch unheimlicher war. „Nein. Nichts dergleichen. Vertrau mir. Es wird kein Blut fließen.“
Val traute ihm in diesem Augenblick eigentlich überhaupt nicht. Doch dieses Lächeln … Verfluchte Scheiße, wann hatte er je überhaupt einmal gelächelt?
Zögerlich und voller Skepsis löste Val ihre verkrampften Finger von Alexeys Oberarm und trat nur ungern einen Schritt zurück. Allerdings war sie jederzeit bereit, nach vorne zu stürzen, um ihn davon abzuhalten, sich selbst zu verletzen.
Alexey hatte jedoch nicht vor, sein Wort zu brechen. Stattdessen packte er seinen sorgfältig frisierten Haarknoten dicht am Hinterkopf und … schnitt ihn sich mit einem einzigen eleganten Streich seines Schwertes ab, sodass ihm die verbliebenen Haare lose ums Gesicht fielen.
Für einen Moment starrten Alexey und Val das abgeschnittene Haar in seiner Hand gleichermaßen ungläubig an. Offensichtlich aus verschiedenen Gründen, denn während Val einfach nur sprachlos ob dieser völlig unbedachten Handlung war, die Alexey seitens der Eiskönigin gewaltigen Ärger einbringen würde, fing Alexey selbst plötzlich zu lachen an. Laut. Tief. Volltönend und aus ganzem Herzen.
Eine Reaktion, die Val ebenso sehr erstaunte, wie sie sie verstörte. War er verrückt geworden? Wurde sie gerade völlig verrückt und bildete sich das alles nur ein? Alexey und ein heiteres Lachen waren wie zwei völlig verschiedene Welten, die gerade vor ihren Augen miteinander kollidierten.
Unter anderen Umständen hätte ihr Alexeys herzliches Lachen sogar ausnehmend gut gefallen, doch im Moment bekam sie es dadurch viel mehr mit der nackten Angst zu tun. Hatte Val vielleicht keine körperliche Krankheit in Alexey gepflanzt, sondern in ihm irgendeine Form des Wahnsinns geweckt?
Alexey störte sich nicht an Vals stillem Zweifel. Stattdessen warf er den abgeschnittenen Haarknoten und sein Schwert einfach zur Seite und hob sie völlig ohne Vorwarnung mühelos hoch, um sie immer noch lachend und vor Freude strahlend im Kreis herumzuwirbeln.
„Du bist unglaublich!“, brach es dabei aus ihm heraus. „Einfach … unglaublich …“
Alexey entging Vals Reaktion nicht. Oder besser gesagt, das Fehlen einer solchen. Langsam kam er wieder zum Stehen und setzte Val vorsichtig auf ihren Füßen ab, ohne sie jedoch loszulassen. Stattdessen wurde sie in eine innige Umarmung gezogen, sodass sie das heftige Beben seines Körpers nur zu deutlich am eigenen Leib spüren konnte. Er erdrückte sie beinahe in seinem Überschwang.
„Verstehst du nicht, was das bedeutet?“
Nein, wie könnte sie auch? Was hatte das Abschneiden von Haaren mit ihrer beschissenen Lage oder Vals Fähigkeiten zu tun? Die Konsequenz daraus war vielmehr, dass Alexey gewaltigen Ärger mit der Eiskönigin bekommen würde, nachdem er seine Frisur ohne ihr Einverständnis so radikal verschandelt hatte. Da hätte er der Schlampe gleich ins Gesicht spucken und anschließend den Stinkefinger zeigen können.
Langsam löste Alexey sich von ihr, um Val in die Augen sehen zu können, nachdem sie nicht geantwortet hatte.
War ihm eigentlich bewusst, dass ihm inzwischen Tränen über die Wangen liefen, obwohl er sie immer noch so überglücklich anstrahlte, dass es beinahe blendete?
„Valeria, versteh doch, es sollte mir nicht möglich sein, mir selbst die Haare abzuschneiden. Mir in den Finger zu beißen ist NICHTS dagegen!“
Was das für einen gewaltigen Unterschied machen sollte, verstand Val nicht. Sich selbst die Haare abzuschneiden war doch wohl weit weniger schlimm, als sich selbst zu verletzten, auch wenn die Konsequenzen sehr viel unangenehmer sein würden als ein kleiner Schnitt in den Finger, der kurz darauf ohnehin wieder verschwand. Val bezweifelte, dass Alexeys Haare so schnell nachwuchsen, wie seine Wunden heilten.
Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, also schwieg sie auch weiterhin. Alexeys heftiger Gefühlsausbruch verunsicherte Val viel mehr, als dass er sie beruhigte, da es sie wirklich stark an seine PTBS erinnerte und ihr somit die Hoffnung nahm, etwas könnte sich vielleicht doch einmal zum Positiven verändert haben.
Der immer größer werdende Knoten in ihrem Hals ließ ohnehin keine Antwort zu, also nahm sie lieber schweigend ein Stück der Decke zur Hand und trocknete damit zärtlich Alexeys Tränen. Er bemerkte tatsächlich nicht, dass er weinte.
„Valeria …“ Alexey schob sanft ihre Hand zur Seite und umfasste stattdessen ihr Gesicht, um ihre volle Aufmerksamkeit zu erlangen. In seinen feuchten Augen spiegelten sich so unendlich viele Emotionen wider, doch keine davon war negativ. Alexey zitterte immer noch. Heftig sogar. Doch offenbar vor Freude.
Er musste ihr tatsächlich erklären, was hier vor sich ging, da Val gerade absolut überfordert war mit seiner völlig unerwarteten Reaktion. Was Alexey schließlich auch tat, nachdem er einmal tief Luft geholt hatte.
Sehr viel ruhiger begann er zu erklären: „Meine Haare sind ihr unglaublich wichtig. Sie liebt sie. Genau deswegen habe ich sie mir anfangs bis auf die Kopfhaut abrasiert, damit dieses Weibstück sich nicht länger daran erfreuen kann. Was Hedera sehr schnell unterbunden hat. Mit Gewalt und einer großen Menge ihres Zwangs. Trotzdem habe ich in den letzten zweihundert Jahren unzählige Male versucht, mir die Haare abzuschneiden, mein Gesicht zu zerstören oder mein Aussehen sonst wie zu verunstalten, damit sie mich nicht länger begehrt. Nie ist es mir auch nur ansatzweise gelungen … bis gerade eben.“
Alexey lächelte unglaublich warm und strich ihr zärtlich über die Wange. „Dank dir, Valeria. Du hast mich von ihrem Zwang befreit!“
„Befreit?“
„Ja! Ich sagte doch, du hast mir nicht geschadet. Im Gegenteil! Dank dir kann ich mit einem Mal Dinge tun, die mir davor völlig unmöglich waren. Vielleicht kann ich sogar …“
Val folgte Alexeys sehnsüchtigem Blick in die Ferne, obwohl er im Grunde genommen nur die blanke Steinmauer seiner Kammer ansah.
In ihrem Herzen wollte sich ein zartes Gefühl der Hoffnung regen, doch noch wurde es von der wahnsinnigen Angst in den Boden gestampft, er könnte sich irren …
Es war auch wirklich nicht fassbar. In der einen Stunde brachte sie mit ihrer Gabe den Perversen fast um und in der anderen sollte sie mit der gleichen Gabe Alexey von seinen unsichtbaren Ketten befreit haben, während sie Sex hatten? Das klang doch zu verrückt, um es wirklich glauben zu können, obwohl genau das Alexey offenbar tat. Val blieb jedoch auch weiterhin skeptisch.
„Gibt es noch eine andere Möglichkeit, um herauszufinden, ob du recht hast?“ Es tat ihr wirklich leid, dass sie Alexeys seltene wie kostbare gute Laune so drückte, oder es zumindest ungewollt versuchte, denn nachdem er sich kurz mit dem Handrücken über die Augen gewischt hatte, sah er sie auch weiterhin mit heiterer Miene und einem ehrlichen Lächeln auf den Lippen an. „Eigentlich nur eine, die dafür aber absolut sicher ist. Ich muss zur Grenze meines unsichtbaren Gefängnisses und sehen, ob ich sie überwinden kann.“
„Das heißt?“
„Ich muss die Villa verlassen und nachsehen, wie weit ich mich von ihr entfernen kann, bevor … Unannehmlichkeiten auftreten.“
„Unannehmlichkeiten?“
Nun verging Alexey das Lächeln doch noch. Dann hatte Val es also endlich geschafft, ihm die überraschend gute Laune zu verhageln, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollte.
„Sagen wir so, es bringt mich zwar nicht um, wenn ich die Grenzen meines Gefängnisses zu ignorieren versuche und sie trotz des heftigen Drangs, umzukehren, überschreite, aber es kann dafür sorgen, dass ich nicht sehr weit komme … und mich Hederas Handlanger später wieder einsammeln und zur Villa zurückbringen müssen. Wo ich für meinen Ungehorsam auf die eine oder andere sehr einprägsame Art bestraft werde.“
Alexey strich sich durch sein ungewohnt kurzes Haar und seufzte leise. „Ich habe es schon seit ein paar Jahren nicht mehr versucht.“
Val streckte ihre Finger ebenfalls nach Alexeys Haar aus und fuhr hindurch. Obwohl es im Augenblick absolut keine Rolle spielte, würden sie zu gegebener Zeit dennoch etwas mit seinen Haaren machen müssen. So konnten sie sie unmöglich lassen.
„Wirst du es erneut versuchen? Heute meine ich?“, wollte sie schließlich wissen und zog ihre Hand wieder zurück, obwohl sie dank Alexeys Reaktion schon etwas weniger Angst hatte, ihn anzufassen.
„Ja. Je früher wir herausfinden, ob ich von hier weg kann, umso besser für uns. Sollte ich tatsächlich gehen können, verlassen wir diesen verfluchten Ort noch morgen Nacht!“
„Hm …“ Val nickte nur wie benommen. Das alles fühlte sich so … seltsam an. Nicht greifbar. Als würde sie das alles bloß träumen und jeden Moment aufwachen. Doch selbst wenn alles real war, würde sie es wohl erst wirklich glauben können, wenn sie diesen beschissenen Ort tatsächlich hinter sich gelassen hatten.
Alexey sah ihr ihre Unsicherheit an. Also streichelte er über ihre Schultern und gab ihr einen zärtlichen Kuss. „Selbst wenn es im Moment noch nicht geht, bin ich dank dir zuversichtlich, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir von hier verschwinden können.“
Er nahm sie wieder in den Arm und hielt sie für eine ganze Weile warm an seine breite Brust gedrückt fest.
Als er sich anschließend von ihr löste, hatte sich der lächelnde Zug erneut auf seine Lippen geschlichen. „Ich muss jetzt aber los, wenn ich die Grenzen heute noch austesten soll. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, bis die Sonne aufgeht.“ Er wurde wieder ein wenig ernster. „Außerdem solltest du mit deiner Freundin reden. Ich konnte sie in der Nacht weinen hören.“
„Ceara hat geweint?“ So benommen sich Val bis eben noch gefühlt hatte, zu hören, dass ihre Freundin geweint hatte, war genau die verbale Ohrfeige, die sie gerade gut gebrauchen konnte.
„Warum?“ Flüchtig sah sie sich noch einmal in der Kammer um, konnte aber natürlich nichts finden, das sie sich überziehen konnte, immerhin war sie nackt angekommen. Doch wenigstens hatte sie die Decke und ihr Nachthemd wartete in ihrer eigenen Kammer auf sie.
„Ich weiß es nicht.“ Alexey zuckte mit den Schultern. Val sah ihm an, dass er mit den Gedanken eigentlich schon ganz wo anders war. Bei etwas, das sehr viel größer war als der Kummer eines weinenden Mädchens.
Val konnte ihn verstehen, doch so wenig sie seine Hoffnung auf eine Flucht im Moment teilen konnte, so sehr kümmerte es sie dafür, was mit ihrer Freundin los war. Wahrscheinlich war es sogar ganz gut, dass etwas sie davon abhielt, darüber nachzudenken, ob Alexey es schaffte, die Grenze seines unsichtbaren Gefängnisses zu überwinden. Sie würde es hoffentlich früh genug erfahren.
„Dann haben wir also einen Plan?“, fragte Val zur Sicherheit noch einmal nach, dieses Mal schon sehr viel entschlossener.
„Ja, wir haben einen Plan!“ Alexey nahm sie noch ein letztes Mal in die Arme und küsste sie innig, bevor sie beide loszogen. Val musste unbedingt herausfinden, warum Ceara geweint hatte, da ihre Freundin für gewöhnlich nicht allzu nah am Wasser gebaut war.