Es ergab nicht wirklich Sinn, doch je heftiger Valeria in seinen Armen weinte, umso ruhiger wurde Alexey.
Während er sie hielt, ihr durchs Haar und über den Rücken streichelte, legte sich allmählich sein innerer Aufruhr. Er fühlte sich nicht länger von seinen Emotionen hin- und hergerissen, oder sah sich außer Stande, ihnen Herr zu werden. Natürlich, die Wut, seine Angst und die Verzweiflung über das, was sich seiner Kontrolle entzog, waren immer noch da, jedoch im Moment deutlich in den Hintergrund gerückt, da er gebraucht wurde.
Es lag auch etwas seltsam Tröstliches in dem Wissen, dass jemand um ihn weinte. Nein, nicht irgendjemand, sondern Valeria. Obwohl es Alexey leidtat, dass sie seinetwegen litt, fühlte er sich gerade deshalb nicht länger alleine. Das tat er selten in ihrer Nähe, doch in diesem Moment war sie ihm so nahe, als hielte sie sein Herz in ihren Händen und zugleich ganz fest an ihre Brust gedrückt. Sein Leid wog so viel leichter, solange er es mit ihr teilte.
„Valeria …“ Er hauchte ihren Namen ganz leise in ihr Ohr, während sie immer noch von heftigen Beben geschüttelt wurde. Was genau Alexey sagen wollte, wusste er nicht. Er wollte ihr lediglich das Gefühl geben, dass er für sie da war. Dass sie bei ihm sicher war. Zumindest für den Moment.
Eine Aufgabe zu haben half ihm in der Tat, sich zusammenzureißen. Zudem ließ es ihn absolut nicht kalt, dass sie weinte. Im Gegenteil. Es zerriss ihn jedes Mal aufs Neue. Sie sollte nicht weinen. Sie sollte nicht leiden und schon gar nicht seinetwegen. Dennoch nahm sie diese Bürde auf sich und dafür liebte er sie nur noch mehr.
„Valeria, bitte weine nicht. Nicht aus diesem Grund.“ Er strich ihr das wirre Haar aus dem Gesicht und wischte zärtlich mit seinem Daumen über ihre nasse Wange. „Ich habe mich schon lange damit abgefunden.“ Ihm war auch kaum eine andere Wahl geblieben. Entweder das, oder er wäre schon längst wahnsinnig geworden über all die Ungerechtigkeit, die ihm widerfuhr.
Was zuvor seine sanften Bemühungen nicht vermocht hatten, vollbrachten offenbar seine Worte, denn plötzlich versteifte Valeria sich in seinen Armen und sie legte den Kopf zurück, um ihn mit tränennassem Blick und zugleich missbilligend gerümpfter Nase anzusehen.
„Genau das solltest du nicht. Dich damit abzufinden ist nicht richtig, und schon gar nicht solltest du etwas hassen, das ein Teil von dir ist. Verstehst du das, Alexey?“ Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und zog ein wenig die Nase hoch. Selbst so verheult schaffte sie es noch, ihn mit wohlmeinender Strenge zu tadeln. Dennoch wusste Alexey nichts darauf zu erwidern. Er konnte nicht ändern, was nun einmal war und wie er fühlte. Zudem hatte sie nicht die geringste Ahnung, was er für unaussprechliche Dinge mit besagtem Teil getan hatte.
Valeria richtete sich auf seinem Schoß noch weiter auf und wischte sich nun mit beiden Händen übers Gesicht, um die Spuren ihres Ausbruchs zu tilgen. Allerdings konnte sie damit nichts an ihren geröteten Augen ändern.
„Hör zu. Ich weiß ganz genau, wie das ist, wenn man sich selbst schützen muss. Wenn man … alles tut, was nur möglich ist, um eine schmerzhafte Situation, der man nicht entkommen kann, irgendwie zu überstehen. Vor allem, wenn man immer wieder in diese Lage gebracht wird. Aber du solltest auch verstehen, dass …“ Sie holte tief Luft und legte ihre Hand auf sein Herz, während sie ihm tief in die Augen sah. „… dass du nicht Schuld daran bist. Dass du nichts dafür kannst. Dass es kein Teil von dir verdient hat, von dir für etwas gehasst zu werden, das du niemals wolltest.“
Sie schmiegte sich wieder an ihn und strich ihm zart mit ihren zierlichen Fingern über seine Brust und die Seite, ehe sie den Arm um ihn schlang. Wieder war da ein leises Schniefen, doch Valeria begann nicht noch einmal zu weinen.
„Ich weiß, dass es schwer ist, die Schuld nicht bei sich selbst zu suchen. Dass man sich immer wieder fragt, was man hätte anders machen können, um nicht in diese Lage zu geraten. Womit man das alles überhaupt verdient hat. Aber diese Fragen sind letztendlich sinnlos und machen einen nur verrückt. Es gibt nun mal böse Menschen auf der Welt, die böse Dinge tun. Wenn man sich auch noch selbst hasst, was bleibt einem dann im Leben? Ich war schon immer dafür, die Bösen nicht gewinnen zu lassen. Doch genau das tun sie, wenn man zulässt, dass man sich selbst aufgibt.“
Wieder entkam ein schweres Seufzen ihrer kleinen Brust, ehe Valeria sich erneut aufrichtete und schwach den Kopf schüttelte. „Ach, hör nicht auf mein Gerede. Was ich eigentlich sagen will, ist, dass mir das alles so schrecklich leidtut, was dir widerfahren ist und wie diese verdammte Schlampe dich behandelt. Wenn ich könnte, würde ich sie allein dafür umbringen, dass sie dich dazu bringt, einen Teil von dir selbst zu hassen. Das hast du einfach nicht verdient und ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun, als dich einfach nur immer wieder zusammenzuflicken.“
Unwillkürlich entlockte sie ihm damit ein leises Lachen. Allerdings keines, das von Freude oder Heiterkeit erfüllt war. „Du tust mehr für mich, als je jemand zuvor für mich getan hat.“ Wieder strich Alexey ihr das Haar zurück und legte seine Finger in ihren Nacken, während sein Daumen zärtlich über ihre Wange streichelte. „Vom ersten Tag deiner Ankunft an hast du mir die Kraft gegeben, weiterzumachen. Mehr zu wollen, als einfach nur zu überleben. Du gabst mir ein Ziel. Einen Grund, nicht aufzugeben. Das tust du immer noch. Und du bist für mich da.“ Alexey beugte sich vor und legte sanft seine Stirn an ihre, bevor er die Augen schloss und ihren unvergleichlichen Duft in seine Lungen sog.
„Du bist so viel mehr, als ich mir je hätte erträumen können. Darum quält es mich so sehr, dich nicht vor diesen Leuten beschützen zu können. Dir selbst immer wieder gegen meinen Willen wehzutun und dich … beinahe … getötet zu haben …“
„Alexey …“
„Nein, hör mir zu!“ Alexeys Griff in Valerias Nacken wurde ein wenig fester. Seine Augen waren immer noch geschlossen, da er sie dabei nicht ansehen konnte, doch der Kontakt zu ihr half ihm, nicht noch einmal völlig durchzudrehen, obwohl sein Herz mit einem Mal erneut wie verrückt in seiner beengten Brust schlug und ihm das Atmen zunehmend schwerer fiel.
„Sie hat mich … gezwungen … deine Brust zu … durchbohren. Ich sollte … mit einem Dolch … dein Herz …“ Das Zittern begann ihn zu erfassen, sodass Alexey befürchtete, allmählich doch die Kontrolle zu verlieren. Er spürte, wie seine Fänge sich so stark verlängerten, dass seine Lippen sie nicht länger verborgen hielten.
Alexey musste seine Arme um Valeria schlingen und sich so an ihr festhalten, bevor er sich noch selbst verlor.
Valeria schlang die Arme um seinen Nacken und hielt ihn auf diese Weise ebenfalls. Das half.
„Sie wollte … dass ich dich töte … und beinahe … hätte ich es getan. Meine Hände … sie haben mir nicht gehorcht. Ich habe mich dagegen gewehrt. Mit aller Macht!“ Er begann sich wieder mit ihr zusammen vor und zurück zu wiegen, doch es ging nicht anders. Es brachte ihn halb um, allein darüber zu reden, denn es ließ die Erinnerung daran so deutlich in ihm hochsteigen, als würde er Valeria von neuem beinahe töten.
„Sie hat mich aufgehalten. Es war nur … ein Spiel für sie. Sie weiß, wie ungern ich töte. Sie wollte … einen Handel …“ Er rang sowohl um Fassung, als auch um Atem. Seine Brust drohte erneut zerquetscht zu werden, doch Alexey bemühte sich, so zu atmen, wie Valeria es ihn gelehrt hatte.
„Einen Handel?“, fragte Valeria leise nach und rieb ihm über den Nacken und Rücken, während sie ihn unablässig fest an sich gedrückt hielt.
„Ja. Sie zwingt mich nicht mehr … Unschuldige zu töten und ich … kämpfe nicht länger … gegen sie an.“
„Denkst du, sie hält sich daran?“
„Nein. Irgendwann wird sie ihr Wort brechen. Sie kann … nicht anders. Aber vielleicht kann ich dadurch … Zeit erkaufen. Für dich. Für deine Freundin und andere.“
„Was bedeutet das für dich? Ich meine, nicht länger gegen sie anzukämpfen?“
Alexey atmete tief ein und hielt inne. „Es ändert nichts. Sobald sie etwas befiehlt, gehorcht mein Körper, ob ich nun dagegen ankämpfe oder nicht. Ich werde nur besser verbergen müssen, wie sehr ich sie hasse.“ Was sich in seiner momentanen Lage als schwierig herausstellen könnte, da er seine Emotionen nicht besonders gut im Griff hatte. Jedoch blieb ihm noch Zeit, daran zu arbeiten, bis sein Körper vollständig geheilt war.
Valeria schwieg für einen Moment, ehe sie einmal tief durchatmete und sich dann soweit von ihm löste, dass sie ihn wieder ansehen konnte. Sie nahm auch seine Hände in ihre und blickte ihm eindringlich in die Augen.
„Wir werden eine Lösung finden. Ich weiß noch nicht wie, aber wir werden eine Möglichkeit finden, dich von diesem … Fluch zu befreien. Mit deinen Worten ist es mir immerhin auch schon gelungen.“ Sie lächelte zuversichtlich, bevor sie ihren Blick auf seine Hände richtete. Dabei streichelten ihre Daumen ihn und schließlich gab sie Alexey auch noch kleine Küsse auf seine geschundenen Fingerknöchel.
„Aber zuerst einmal verbinde ich deine Hand fertig. Danach lässt du mich noch einen Blick auf deinen Hinterkopf werfen. Du hast nicht gerade wenig geblutet, und dann essen wir etwas.“
Es war weder ein Vorschlag noch eine Bitte. Valeria bestimmte und Alexey fügte sich dem nur zu gerne, doch vorher …
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und hob es an, damit sie ihn wieder ansehen musste. „Du bist … besonders. Ganz und gar … kostbar.“
Ihr Lächeln war wie der Sonnenaufgang, den er schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Der Blick aus ihren Augen wie die wärmenden Strahlen der Sonne auf seiner Haut.
Valeria berührte seine Handgelenke und streichelte ihn. „Das bist du ebenfalls für mich.“ Ihr Lächeln wurde noch wärmer, ehe sie auch sein Gesicht berührte und sich streckte, um an seinen Mund zu kommen. Alexey kam ihr entgegen und erwiderte den Kuss zärtlich.
Bevor er jedoch intensiver werden konnte, löste Valeria sich mit einem weiteren Lächeln und rutschte von seinem Schoß, um ihrem eigenen Vorhaben nachzukommen. Zuerst verband sie tatsächlich seine Hand und das Schweigen zwischen ihnen war mehr als angenehm, zumal Alexey einfach nicht genug davon bekommen konnte, sie anzusehen.
Die Wunde an seinem Hinterkopf war nicht weiter schlimm, da er dank ihres Blutes rasch heilte und so holte sie schließlich das Tablett mit dem Essen von seinem Tisch und stellte es zwischen ihnen auf das Bett.
„Tagsüber hat Ceara dir Essen vor die Tür gestellt“, begann sie zu erklären. „Ich nehme an, das wird auch in den nächsten Tagen der Fall sein, also selbst wenn du keinen besonders großen Hunger hast, solltest du das Essen anrühren. Denn ich befürchte, tust du das nicht, könnte das Konsequenzen haben.“
Alexey stocherte mit dem hölzernen Löffel in seiner Schüssel mit kaltem Eintopf herum. Obwohl er nun schon so lange nichts mehr gegessen hatte, bereitete ihm der Gedanke daran, auch nur einen Bissen zu sich zu nehmen, Übelkeit.
„Hedera tut das, damit ich schneller heile. Sie hat gesagt, sie wird mich auch nicht länger hungern lassen.“
Valeria brach etwas Brot ab und tunkte es in ihre eigene Schüssel. „Dann solltest du das nutzen. Du hast sehr viel Gewicht verloren.“
„Es ist seltsam, aber bei dem Gedanken an Essen, ist mir nicht wohl, obwohl ich am verhungern war.“
„Nein, das ist überhaupt nicht seltsam. Du hast zu lange nichts mehr gegessen, also fang besser mit kleinen Bissen an und wir beobachten, ob du es bei dir behalten kannst.“
Alexey nickte und stocherte noch ein wenig mehr in dem Essen herum, ehe er versuchsweise einen Bissen in den Mund nahm und ihn lange mit der Zunge hin und her schob, bis er ihn gründlich kaute und ihn schließlich geradezu runterwürgen musste. Es lag nicht wirklich an dem Essen, dass es ihm überhaupt nicht schmeckte. Sein Magen rebellierte einfach bei dem Gedanken daran.
Da er schon nach diesem Bissen eine Pause benötigte, überlegte er, wie er noch etwas anderes in Worte fassen konnte, denn Valeria sollte es wissen. Auch, wenn es ihm sehr schwer fiel, überhaupt darüber zu reden. Er konnte ihr dabei nicht einmal in die Augen schauen.
„Da … gibt es noch etwas. Hedera will mich nicht nur, was das Essen angeht, nicht länger hungern lassen. Sie sagte … ich würde regelmäßig … Blut bekommen.“
Valeria begann zu husten, als hätte sie sich verschluckt, fing sich aber schnell wieder. „M-mein Blut?“
Er musste ihren wilden Herzschlag nicht erst hören, um zu wissen, dass der Gedanke ihr Unbehagen bereitete. Alexey verstand es auch so nur zu gut.
„Es ist sehr wahrscheinlich, ja. Aber nicht nur deines. Ich … kann in den nächsten Tagen nicht noch einmal von dir … nehmen. Es … wäre zu viel für dich.“ Nicht nur körperlich betrachtet, da war Alexey sich sicher. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie jemals vergessen könnte, wie er ihr den Hals aufgerissen hatte. Dieses Grauen saß zu tief. Sie würde dieser Sache niemals wieder ohne Angst begegnen können.
„Von wem noch?“, wagte sie kaum die Frage zu stellen.
Alexey wand sich innerlich. Wenn er könnte, er würde etwas dagegen unternehmen. Sich eine Weile von Tieren ernähren oder sich irgendwelche Verbrecher suchen, um von ihnen zu trinken, doch er wurde hierbei nicht gefragt. So wie er seit seiner Versklavung im Grunde nie gefragt worden war, was er sich eigentlich wünschte. Zumindest nicht von Hedera.
„Da Hedera ausschließlich neue Sklavinnen dafür benutzt … fällt die Wahl mit Sicherheit auf Ceara. Ich bezweifle, dass sie sich in den nächsten Tagen neue Sklavinnen kauft. Ihr beide lebt schon sehr viel länger als … zu erwarten war.“
Alexey stellte seine Schüssel endgültig zurück auf das Tablett und verbarg sein Gesicht hinter seinen Händen. Er wollte nicht darüber sprechen. Er wollte nicht all seine Sünden vor Valeria ausbreiten, doch noch weniger wollte er sie anlügen. Zwischen ihnen hatten Lügen einfach keinen Platz mehr. Außerdem fraß ihn all das innerlich auf. Im Moment mehr denn je. Es war, als wäre seine Haut mit einem Mal viel zu dünn. Zu dünn und äußerst verletzlich.
„Hat … sie dich gezwungen, die anderen … zu töten?“ In Valerias Worten schwang nicht der geringste Vorwurf mit, was Alexey dazu brachte, seinen Kopf zu heben und zumindest seine bandagierten Hände anzustarren, anstatt sich dahinter zu verstecken.
„Ja.“ Mehr konnte er dazu nicht sagen.
„Warum hast du Kore dann nicht getötet?“
Für einen Moment kam Alexeys Herz ins Stolpern. Er schien kurz zu vergessen, wie man atmete, doch dann richtete er sich wieder ganz auf und sah Valeria direkt an. „Weil ich nicht wollte, dass du mich für ein noch größeres Monster hältst, als es ohnehin schon der Fall war. Ich … weiß, was sich die anderen Sklaven über mich erzählen. Das Meiste davon ist leider wahr.“
Valerias Blick verfinsterte sich. Alexey konnte jedoch nicht genau benennen, warum.
„Wie ist es dir dann gelungen, dich dem Befehl dieses Miststücks zu widersetzen, wenn das davor nicht der Fall war?“
„Es … war schwer. Sehr schwer. Doch wie ich schon sagte, du … gibst mir Kraft und dann war da noch der Umstand, dass Kore … Ich wollte nicht zwei unschuldige Leben nehmen, also habe ich Hedera von ihr abgelenkt, so gut ich konnte. Ich bezweifle jedoch, dass das noch einmal möglich sein wird.“ Hoffentlich wurde er nie wieder in diese Lage gebracht.
Nun war es an Valeria, seinem Blick auszuweichen, also starrte sie in ihre Schüssel. „Du wusstest also, dass sie schwanger war?“, fragte sie sehr, sehr leise.
„Schwanger?“
„Von dem Kind in ihrem Bauch?“
Wenn überhaupt möglich, begann Alexeys Herz noch wilder zu schlagen. Er wusste von mehr als nur einem Kind, doch im Moment konnte er es unmöglich zur Sprache bringen.
„Ja. Ich konnte es sowohl an ihr riechen, als auch in ihrem Blut schmecken. Außerdem hörte ich … das kleine Herz schlagen.“
Alexey senkte ebenfalls betroffen das Haupt, denn er hatte nicht vergessen, was kurz danach geschehen war. Wie Valeria ihre Freundin aufgeschnitten hatte, um den wahren Grund für ihren Tod zu erfahren. Alexey verstand nicht viel von diesen Dingen. Er verstand sich fast ausschließlich aufs Töten, allerdings war auch ihm klar, dass dieses kleine Wesen der Grund für den Tod des Mädchens gewesen sein musste. Was auch immer da genau vor sich gegangen war, niemand hätte es verhindern können. Kore wäre so oder so gestorben.
„Es tut mir sehr leid, dass du deine Freundin verloren hast. Ich wünschte, ich hätte mehr tun können.“
Valeria schüttelte den Kopf. Für einen Moment glaubte Alexey, erneut Tränen in ihren Augen glitzern zu sehen, doch sie wischte sich mit dem Handrücken grob über die Augen. „Du hast getan, was du tun konntest. Alles andere lag nicht in deinen Händen.“
Valeria beendete das Thema, indem sie ihre Schüssel erneut zur Hand nahm und nun richtig zu essen begann. Alexey folgte ihrem Beispiel, auch wenn er kaum einen Bissen hinunter bekam. Dieses Mal nicht ausschließlich deshalb, weil er so lange nichts mehr gegessen hatte.
Sie schwiegen eine ganze Weile, in der Alexey Valeria unauffällig beobachtete. Sie schien tief in Gedanken versunken zu sein und zugleich mit sich zu hadern, was die kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen verriet, wie er inzwischen wusste. Von daher wunderte es ihn nicht, als sie irgendwann ihre halb leere Schüssel zur Seite stellte und dann doch das Wort an ihn richtete.
„Alexey, du sagst, du kannst es riechen, wenn jemand … ein Kind im Bauch hat.“ Es war keine Frage und doch überschlug sich Alexeys Herzschlag mit einem Mal, während er den Löffel in seiner Hand so fest umklammert hielt, dass er ihn beinahe zerbrach. „Ja“, antwortete er ebenso leise, wie sie gesprochen hatte.
Valeria zwang sich dazu, ihn anzusehen. Der Ausdruck in ihren Augen schien das ganze Leid der Welt zu beherbergen.
„K-kannst du … auch an mir … ein Kind riechen?“
Keiner von ihnen beiden reagierte darauf, als er tatsächlich den Löffel zerbrach. Sie wagten noch nicht einmal zu blinzeln.
„Ja …“, kam es ihm schließlich nur noch als leises Knurren über die Lippen, ehe er die Zähne zusammenbiss. Allein daran zu denken …
Valeria sank in sich zusammen und ließ den Kopf hängen. Ihr Blick richtete sich in weite Ferne. „Ich hatte gehofft … Dieser Körper hat noch nicht geblutet, seit ich darin erwacht bin … Ich dachte … Vielleicht wäre er … zu jung, um …“ Sie presste die Augenlider zusammen und schüttelte den Kopf. Als sie die Augen wieder öffnete, war ihr Blick verschwommen.
„Seit wann weißt du es?“ Ihre Stimme hatte kaum noch Kraft.
„Ich … konnte es schmecken, als ich mich von dir … genährt habe. Damals in Hederas Kammer …“
„Also seit ungefähr zweieinhalb Wochen …“ Valeria stützte die Arme auf ihren Oberschenkeln ab und verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen. Alexey konnte ihre Tränen riechen, doch ansonsten war sie vollkommen still.
Alexey schob das Tablett zwischen ihnen zur Seite, lehnte sich vor und berührte Valeria sanft an der viel zu schmalen Schulter. „Du solltest zu Rashad gehen. Er kann dir helfen.“
„Helfen?“, kam es leise hinter den zarten Händen hervor.
„Es loszuwerden.“ Womöglich hatte er sogar etwas für sie, um in Zukunft zu verhindern, dass es überhaupt so weit kam. Wäre es anders, hier würde eine ganze Heerschar an Vorenus’ Bastarden durch die Villa laufen.
In seinem mörderischen Hass auf Vorenus bemerkte Alexey nicht, wie sich Valeria unter seiner Berührung versteifte. Erst als sie sich ihm entzog und ihn mit einem Blick bedachte, als hätte er gerade etwas absolut Unverzeihliches gesagt, bemerkte er, dass irgendwas nicht stimmte.
„Nur um in Zukunft jegliches Gerede in diese Richtung zu unterbinden“, begann sie hart und geradezu bedrohlich. Fehlte nur noch das Knurren in ihrer Stimme, aber auch so machte sie mächtig Eindruck auf Alexey. „Ich werde niemals eines meiner Kinder töten oder töten lassen! Nicht einmal, wenn der Vater ein beschissenes Arschloch ist, dem ich am liebsten mit eigenen Händen die Eier abreißen würde. Nicht einmal dann! Hast du das verstanden?“
Alexey konnte nur nicken. Er war so verblüfft von Valerias Wandlung … Selbst so klein und zart wie sie war und gänzlich ohne Fangzähne strahlte sie in diesem Moment eine Bedrohung aus, bei denen sich seine eigenen Eier ängstlich in seinen Körper zurückziehen wollten.
Ihr glühender Blick durchbohrte ihn noch einen Moment länger, dann nickte sie. „Gut.“
Valeria wischte sich die Feuchtigkeit von den Wangen und rutschte von seiner Bettstatt. Erst, als sie seinen Blick freigab und Alexey wieder richtig atmen konnte, bemerkte er, dass er die Luft angehalten hatte. Immer noch völlig erstaunt von dieser neuen Seite an ihr, sah er Valeria nach, wie sie sich eine der Decken nahm und zu seinem Tisch hinüber ging. Sie zog sich das Nachthemd aus und schlang dafür die Decke um ihren Körper, ehe sie den blutbesudelten Stoff in der Schüssel zu waschen begann. Die Bedrohung war vorüber, doch er schmeckte immer noch den Nachhall scharf auf der Zunge.
Valeria hatte dieses Thema so gründlich abgewürgt, dass Alexey nicht wagte, es noch einmal anzusprechen. Zumindest für den Moment nicht, denn letztendlich war die Sache nicht vom Tisch. Noch lange nicht, und er befürchtete, dass es durchaus noch zum Thema werden würde, sobald auch noch andere Leute davon Wind bekamen. Hedera im Besonderen. Mal von ihrem eigenen Sohn abgesehen, hatte diese Frau noch nie etwas mit Kindern anfangen können.