Val wusste, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Als die Sklaventreiberin mitten in der Nacht zu ihr kam, um sie zu wecken, war es nach dem bangen Warten der letzten Tage keine große Überraschung für sie. Zum Glück war diese dabei so leise, dass Ceara nicht wach wurde und somit nicht mitbekam, wie Val zu ihrer Hinrichtung geführt wurde. Denn etwas anderes war es nicht. Val wusste es. Sie wusste es so absolut sicher, dass sie heute sterben würde, nach dem die Wahl auf sie gefallen war, als hätte sie einen Blick in die Zukunft geworfen.
In den letzten Tagen und Nächten hatte sich schon das drohende Unheil angekündigt. Jedes Mal, wenn sie zu Alexeys Tür gegangen war, um nach ihm zu sehen, war der Tod einen Schritt näher gerückt. Denn hinter der immer noch fest verschlossenen Tür war keine Besserung in Sicht gewesen. Wie könnte es auch? Im Grunde genommen müsste Alexey schon längst tot sein, doch alles, was so lange gelitten hatte und schließlich gestorben war, war sein kostbarer Verstand. Das, was immer noch kraftvoll hinter der Tür getobt hatte, war nicht mehr Alexey. Der hatte sie bereits vor vier Nächten verlassen. Vielleicht sogar für immer.
Obwohl Val Angst haben sollte, während sie durch die wie ausgestorbene Villa geführt wurde, hatte sie keine. In ihr war es trügerisch ruhig. Ganz so, als hätte sie sich bereits mit ihrem Schicksal abgefunden. Wäre es um jemand anderen gegangen als um Alexey – sie hätte wie eine Löwin um ihr Leben gekämpft. Doch gegen ihn? Niemals. Sie … konnte einfach nicht.
Nicht, weil Val unbedingt sterben wollte, das nicht. Sie wollte einfach nur nicht gegen ihn ankämpfen. Vielleicht würde sie es noch tun, wenn die schiere Todesangst sie überwältigte, doch im Moment sah sie darin nur eine weitere Möglichkeit, ihn zu foltern und zu traumatisieren. Das wollte sie ihm nicht antun, zumal Alexey absolut nichts dafür konnte.
Als sie ins Freie traten machte die Sklaventreiberin einen großen Bogen um den Platz, der so vielseitig wie schrecklich war. Ein Ort wie gemacht für Bestrafung, Folter und Hinrichtung. Fehlte eigentlich nur noch, dass man dort auch Urteile sprach, doch sowas wie einen fairen Prozess konnte man unter diesem Dach ohnehin nicht erwarten.
Obwohl kaum Wind ging, fing Val einen schwachen Hauch von Alexeys Duft auf. Es war ihr einfach unbegreiflich, wie man ihn fast zwei Wochen ohne Wasser in seine Kammer hatte einsperren können und er immer noch so verflucht köstlich duftete. In einer Welt ohne Deodorant, Eau de Cologne oder diversen Duftsprays war das praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Zumindest, wenn man ein Mensch war. Wie viele Beweise Val eigentlich noch brauchte, um endlich zu kapieren, dass Alexey eben genau das nicht war, wusste sie nicht. Aber es fiel ihr immer noch schwer, diese Tatsache zu akzeptieren, obwohl sie schon bald sehr deutlich auf einen weiteren Aspekt seines wahren Wesens gestoßen werden würde.
Als Val schließlich vor der Eiskönigin und ihrem Stecher stand, war es vorbei mit ihrer Ruhe. Sie wollte die Schlampe am liebsten noch hier und heute umbringen. Aber vorher sollte sie all die Schmerzen am eigenen Leib erfahren, die sie Alexey angetan hatte. Vielleicht brachte das dem Weib ein wenig Empathie bei. So unwahrscheinlich das auch war. Doch nichts davon würde passieren. Dieses miese Drecksstück würde wie immer ungestraft mit ihrem Handeln davon kommen und das war im Grunde genommen das Schlimmste an der ganzen Sache. Dass niemand sie zur Rechenschaft zog.
Val versuchte auch weiterhin ruhig und devot zu bleiben, obwohl sie innerlich vor Wut kochte. Was hatte sie auch für eine andere Wahl? Um sie ging es nicht. War es nie gegangen. Einzig und allein Ceara und Alexey zählten. In Zukunft würde sie ihre Freundin zwar nicht länger beschützen können, doch Val hatte zumindest alles getan, was möglich war, solange sie konnte. Und was Alexey anging … Es tat ihr unendlich leid, dass es ihn wahrscheinlich halb umbrachte, sobald er wieder klar im Kopf war und sich bewusst wurde, was er getan hatte. Doch wenigstens konnte sie dafür sorgen, dass es ihm wieder besser ging. Wenn auch nur körperlich. Aber er hatte so lange unter der Fuchtel dieses Miststücks überlebt, er würde bestimmt auch ohne sie noch ein wenig länger durchhalten. Hoffentlich kam er irgendwann darüber hinweg.
„Geh zu ihm“, kam dann auch schon der Befehl dieses kranken Weibs und Val straffte sich. „Und bleib vor ihm stehen.“ Was auch sonst? Sie war hier schließlich nur ein Mittel zum Zweck. Vordergründig dafür da, dass Alexey endlich bekam, was sein Körper so dringend brauchte, aber so wie Val die Eiskönigin kannte, war das sicher noch nicht alles.
Bei dem Gedanken, dass Val dafür herhalten könnte, Alexey noch mehr zu quälen, indem man ihm quasi die Karotte vor die Nase hielt und sie ihm dann nicht gab, wurde sie noch blasser. Es sollte verdammt noch mal endlich ein Ende haben!
Val drückte die Schultern durch und hob das Kinn, bevor sie los ging, und nahm sich fest vor, Alexey hier nicht länger als nötig zu quälen. Sollte sich ihr irgendeine Chance bieten, ihm endlich helfen zu können, würde sie es tun. So kurz vor Vals Ende – was wollte die Eiskönigin ihr da noch großartig anlasten?
Als Val schließlich vor Alexey stehen blieb, traf sie bei ihrem nächsten tieferen Atemzug sein Duft mit der Wucht eines Sattelschleppers. Beinahe hätte es sie von den Füßen gerissen, so heftig war die Reaktion ihres Körpers darauf. Ihre Knochen fühlten sich plötzlich wie Glibber an, ihre Muskeln schienen ihren Körper entlang zu schmelzen und ihr Hirn löste sich quasi in Luft auf, als würde es durch die Schädeldecke hindurch verdampfen.
Nur mit Müh und Not klammerte sich Val an ihrem Verstand fest, indem sie Alexey genau ansah und das, was man ihm angetan hatte. Das funktionierte sogar halbwegs, denn der Anblick war einfach entsetzlich!
Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sein pupillenloser Blick hatte sich voller Gier auf sie geheftet. Es fühlte sich an, als wäre sie in seinen Augen nichts weiter als ein blutiges Steak und er ein völlig ausgehungertes Raubtier, dem zusätzlich auch noch der Sabber übers Kinn zu laufen begann, sobald es ihre Witterung aufnahm. Dabei waren seine bleichen Zähne gefletscht, sodass Val die leeren Stellen erkannte, an denen seine Fänge fehlten. Bei diesem Anblick erschauderte Val und ihr wurde schlecht, als sie daran dachte, wie er sich wohl beim Trinken behelfen würde. Also versuchte sie sich auf etwas anderes zu konzentriere, um vor Angst nicht selbst auch noch wahnsinnig zu werden. Zu sehen gab es ohnehin genug, denn Alexey hatte unglaublich viel abgenommen. Seine Wangen waren eingefallen, seine Haut spannte sich wie Wachspapier über die Knochen seines Schädels. Zuvor hatte er schon nicht wirklich viel Fett am Leib gehabt, doch nun war er auch noch durch den Flüssigkeitsverlust vollkommen ausgezehrt. Sein sonst so muskulöser Körperbau war drahtig. Muskeln und Sehnen stachen unter der bleichen Haut deutlich hervor, genauso wie diverse Knochen, die ihn umso eckiger und kantiger wirken ließen. Selbst der zerfledderte Umhang war inzwischen viel zu groß für ihn.
Obwohl es rein vom Knochenbau her nicht möglich war, wirkte es, als wäre Alexey deutlich geschrumpft. Was Breite und Masse anging, war das auf jeden Fall so. Er stand wirklich kurz vorm endgültigen Verhungern. Da fielen die zahlreichen, kaum verheilten Verletzungen nicht einmal besonders ins Gewicht. Doch am schlimmsten blieb das Fehlen jeglichen Erkennens in seinem grausig verzehrtem Gesicht, aus dem der Wahnsinn einem regelrecht entgegen sprang.
Val schluckte hart und versuchte ihre zugeschnürte Kehle dazu zu bringen, ein Wort hervorzuwürgen –Alexeys Namen. Wenn er ihn hörte, besann er sich vielleicht darauf, wer er in Wirklichkeit war, doch so weit kam Val gar nicht.
„Trink.“
Das Wort, so kühl und ausdruckslos gesprochen, schnitt wie ein scharfes Skalpell durch die Luft und noch ehe es verklungen war, wurde Val regelrecht niedergebügelt.
In einem Moment hielt sie sich noch mühsam aufrecht, im nächsten landete sie hart auf dem Rücken, während das Gewicht eines Konzertflügels sie geradezu in den Boden rammte. Val blieb die Luft weg, allerdings war keine Zeit, darüber nachzudenken, denn schon ballte sich eine riesige Faust um ihr Haar im Nacken und riss ihren Kopf daran so hart zurück und zur Seite, dass es sich anfühlte, als würde man ihn ihr abreißen. Aber auch das war noch nicht das Schlimmste, denn das kam kaum einen Herzschlag später, als Alexey seine Zähne in ihren Hals schlug und ihr fast ein Stück davon rausriss, um an ihr Blut zu kommen.
Obwohl bei der überwältigenden Duftwolke, die Alexey aus jeder Pore entströmte und ihn in rauen Mengen umgab, Vals Körper sich immer weiter verflüssigte und ihr Gehirn dem Trend folgen wollte, bekam sie dennoch am Rande noch viel zu viel mit. Wie ihr Brustkorb unter dem gewaltigen Gewicht, das sie niederdrückte, in flachen Zügen darum kämpfte, Luft in ihre Lungen zu pressen, wahrscheinlich auch vor Panik, die sie einfach nicht mehr spürte. Wie sich ihre kraftlosen Finger in kühle Haut krallten und nicht wussten, ob sie ziehen oder drücken sollten, obwohl beides sinnlos war. Dazu noch das grausige Geräusch einer Kehle, die gierig alles trank, was den Schlund hinunter floss. Das Geräusch, wie er schluckte … Wenigstens war da kein Schmerz. Zumindest keiner, der körperliche Ursachen hatte.
Val bekam nur noch am Rande mit, wie Tränen über ihre Wangen liefen und sie gequält die Augenlider zusammenpresste. Nicht sie selbst tat sich leid und deswegen weinte sie auch nicht. Viel mehr hatte sie das Gefühl, Alexeys Schmerz und die Last seines Gewissens zu spüren noch bevor er es selbst empfand. Es tat so schrecklich weh, dass er in diese Situation gebracht worden war. Er war so ein guter … Er hatte ein so wahnsinnig gutes Herz, das noch leichter als so viele andere brechen konnte und das hier, das hier würde ihm vielleicht sogar den Rest geben. Mit einem Mal war sich Val dessen vollkommen sicher.
„Alex…ey.“ Sie wusste, dass sie kostbare Atemluft verschwendete und ohnehin nicht mehr als ein leises Krächzen aus ihrer Kehle kam, dennoch konnte sie die Worte einfach nicht zurückhalten. Sie waren alles, was sie noch zustande brachte und für Alexey tun konnte. Also sprach sie weiter. Wort für Wort presste sie sie mit letzter Kraft hinaus, ohne genau zu wissen, was sie da eigentlich sagte, ehe die Dunkelheit sie ebenso gierig verschlang, wie Alexey das Blut aus ihrer aufgerissenen Kehle.
***
In der Tat war es ein phänomenales Spektakel, einem völlig ausgehungerten und somit vollkommen wahnsinnig gewordenen Bluttrinker bei seinem ersten Mahl seit einer Ewigkeit zuzusehen. Noch dazu ganz ohne seine Fänge.
Hederas Bestie machte ihrem Namen alle Ehre, indem sie sich wie das Tier, das sie war, auf die kleine Ägypterin stürzte, sie unter sich begrub – zweifellos um das arme Ding an jeglichem Fortkommen zu hindern – und ihr mit bloßen Zähnen den Hals aufriss. Dabei spritzte das Blut über den blank polierten Stein, ehe der gierige Mund die klaffende Wunde verschloss und den Blutstrom stoppte. Oder besser gesagt, umleitete, denn Hedera hörte noch ein paar Meter weiter die hektischen Schluckgeräusche, sodass sie neugierig näher trat und sich dabei das Tuch mit der Kräuteressenz wieder fester auf die Nase presste.
Ihr wildgewordener Köter knurrte sie an, sobald er ihr Näherkommen bemerkte, darüber hinaus ging er jedoch voll und ganz im gierigen Verzehr seiner Blutmahlzeit auf.
„Kein allzu erquickender Anblick.“ Arum trat neben sie und sein Kommentar kam nicht gerade überraschend. Obgleich er Blut nicht scheute – wie sie nach der Bestrafung ihres widerspenstigen Sklaven nur zu gut wusste – war er mehr der Ästhetik zugeneigt. Schöne Dinge zogen seinen Blick an und nicht diese Art von grausamer Brutalität, deren Zeuge sie gerade wurden. In diesem Punkt unterschieden sie sich, obwohl Hedera genau genommen nicht von dem blutigen Spektakel angezogen wurde, sondern viel mehr von dem Wissen, wie sehr sie ihren ach so gutherzigen Köter damit quälte, jedes Mal, wenn sie ihn dazu zwang, ein unschuldiges Leben sinnlos zu vergeuden. Ihre Strafe an ihn für seinen beständigen Ungehorsam.
„Wenn der Plan aufgeht, ist es vielleicht das letzte Mal, dass wir so etwas zu sehen bekommen.“ Hedera klang weder enttäuscht noch erleichtert. Sie würde es nehmen, wie es kam, solange sie ihr kostbares Haustier nicht verlor.
„Ich hoffe es. Ihn in dieser Verfassung zu sehen … Sein heruntergekommener Anblick schmerzt beinahe.“
Hedera wandte ihre Aufmerksamkeit flüchtig Arum zu, der tatsächlich ein wenig das Gesicht hinter seinem eigenen Tuch verzog und dabei das Spektakel keinen Moment aus den Augen ließ. Er meinte, was er sagte und ihr ging es ebenso.
Sie richtete ihren Blick wieder auf das blutige Treiben vor ihnen. „Glücklicherweise ist dieser Zustand nicht von Dauer. Wenn er gut genährt wird, kommt er schnell wieder zu Kräften.“ Je nachdem, wie er sich hier und heute verhielt, würde sie dafür sorgen, dass er genug Blut bekam, um rasch wieder zu genesen. Auch sie wollte ihr Haustier wieder in altem Glanz erstrahlen sehen, seinen herrlich makellosen Anblick genießen und seine Wärme und Berührungen wieder auf ihrer Haut spüren. Obwohl Arum sich redlich um sie bemühte, konnte Hedera nicht leugnen, dass sie es vermisste, von ihrer Bestie verwöhnt zu werden.
Die allmählich einkehrende Stille riss Hedera aus ihren Gedanken, sodass sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr Vorhaben richtete. Der Köter war inzwischen ruhiger geworden; trank nicht mehr so gierig, wie noch am Anfang. Das mochte daran liegen, dass das Blut der Sklavin zu wirken begann oder einfach nicht mehr genug in ihrem Körper war, das man gierig hätte heraussaugen können. Wieder trat sie ein wenig näher, doch dieses Mal blieb das wilde Knurren aus.
Ihr Bluttrinker verwehrte Hedera jeglichen Blick auf die kleine Ägypterin. Da waren nur Wellen ihres schwarzen Haars, das sich über dem Boden ergoss und die Ahnung einer bleichen, kleinen Hand, die reglos unter dem riesigen Körper hervorlugte. Es wirkte nicht, als hätte sie dem Blutdurst der Bestie standhalten können.
Die Stimmung schlug so plötzlich um, dass Hedera wusste, wann der menschenähnliche Verstand ihres Köters wieder in seinen Körper fuhr – nämlich genau jetzt.
Er nahm abrupt das Gewicht von seiner Beute, richtete sich weiter auf, sodass er ihnen einen besseren Einblick auf das Massaker unter sich gewehrte. Arum und Hedera konnten nun einen genauen Blick auf den aufgerissenen Hals der kleinen Ägypterin werfen. Doch obwohl alles voller Blut war, ließ sich leicht erkennen, dass die zuvor noch klaffende Wunde inzwischen verschlossen war. Zumindest soweit, dass sie nicht länger daraus blutete. Die Heilung war bei weitem nicht perfekt, da man noch sehr genau erkannte, wo der zierliche Hals mit bloßen Zähnen aufgerissen worden war, doch es war mehr, als man von einer Bestie in Raserei erwarten konnte.
Sehr viel mehr, denn plötzlich bewegten sich schwach die Finger an der bleichen Hand. Nicht viel, doch deutlich genug.
„Sie lebt also noch.“
Ihr Köter wirbelte herum und bleckte die Zähne, während er sich beschützend über sein Opfer beugte.
Hatte er zuvor schon einen fürchterlichen Eindruck erweckt, so machte es sein blutverschmierter Mund nicht im Geringsten besser. Vor allem, da ihm der dunkle Bart, in dem ebenfalls Blut hing, erst recht das Aussehen eines wilden Tieres verlieh. Blanker Hass stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch der konnte nicht einmal Ansatzweise über den Schmerz und den Schock in seinen klaren, blauen Augen hinwegtäuschen.
Gut. Sogar sehr gut. Damit konnte sie arbeiten. Tatsächlich war es sogar sehr hilfreich, dass die kleine Ägypterin noch lebte, wenn auch wahrscheinlich nicht sehr lange, so wie sie aussah. Für Hederas Zwecke würde es jedoch hoffentlich noch reichen. Darum zögerte sie auch nicht, sondern kam näher und zückte ihren rituellen Dolch, der im Gürtel ihres Kleides gesteckt hatte und hielt ihn mit dem Griff voran ihrer Bestie hin. „Nimm.“ Keine Bitte. Ein Befehl und ihr Köter gehorchte.
Dass dabei seine Finger zitterten, als er nach dem Dolch griff, verschaffte Hedera ein hohes Maß an Befriedigung. Sie sollte das hier wirklich nicht so sehr genießen, doch in der Tat, sie tat es. Sehr sogar. Sie hatte ihm seine Widerspenstigkeit noch immer nicht verziehen. Daher verkündete sie voller Genugtuung: „Du wirst damit ihr Herz durchbohren. Langsam. Damit du jeden einzelnen Millimeter in Ruhe verinnerlichen kannst.“ Und sie ebenso.
Statt Wut trat nun blankes Entsetzen in die geheilten Augen ihres Bluttrinkers. Man sah ihm an, dass sich alles in ihm allein gegen diesen Gedanken zur Wehr setzte. Er war und blieb nun einmal vollkommen verweichlicht und er hatte die Wahrheit gesprochen, als er ihr an den Kopf geworfen hatte, nicht mehr für sie töten zu wollen. Der Widerwillen war in diesem Augenblick offensichtlich und damit hatte sie ihn in der Hand.
„Tu es. Jetzt.“ Hedera nickte in Richtung der kleinen Sklavin, deren Brustkorb sich schwach hob und senkte. Dabei ging ein Ruck durch ihr gehorsames Haustier, das sich absolut nicht gegen den Zwang ihrer Worte wehren konnte, obwohl Hedera ihrem Bluttrinker ansah, wie heftig er sich dagegen zu wehren versuchte. Seine Bewegungen waren jedoch flüssig und seine Hand ruhig, als er sich seiner Beute zuwandte, mit der einen Hand das blutgetränkte Nachthemd der kleinen Ägypterin glatt strich und mit der anderen den Dolch mit einer unglaublichen Präzision führte. Er wusste genau, wo das kleine, pochende Herz der Sklavin lag und wie er die Spitze des Dolches ansetzen musste, um zwischen die Rippen hindurch das Herz zu treffen. Wobei er es vermutlich auch mit roher Gewalt geschafft hätte, doch dann wäre es nicht langsam vonstatten gegangen, wie es ihr Wunsch war.
Hedera beobachtete ihren Bluttrinker genau, vor allem seine Gesichtszüge, während er die Hand mit dem Dolch senkte. War er zuvor noch vor Schrecken ganz bleich gewesen, so färbte sich sein Kopf allmählich dunkelrot. Zunächst war ihr nicht klar, was diesen Farbwechsel verursachte, bis sie bemerkte, dass er nicht mehr atmete. Sein ganzer Körper schien sich zu verkrampfen, obwohl es nichts daran änderte, dass seine Hand weiterhin ihren Willen ausführte. Doch je weiter die Spitze des Dolches sich dem Brustkorb der kleinen Ägypterin näherte, umso offensichtlicher traten die Veränderungen in ihrem Bluttrinker zu Tage. Nicht nur hielt er den Atem an, sodass es langsam wirkte, als würde ihm gleich sein Schädel platzen, nein, irgendetwas musste tatsächlich darin vorgehen, denn plötzlich lief ihm Blut aus der Nase.
Als die Spitze des Dolches den Brustkorb der Sklavin berührte, kam es ihm auch aus den Ohren und sobald die Klinge in das Fleisch der kleinen Ägypterin einzudringen begann, platzten mit einem Schlag sämtliche Äderchen in den Augen ihres Köters, bis ihm blutige Tränen über die Wangen liefen. Dabei blickte er die ganze Zeit starr auf die Hand, die den Dolch führte, als könnte er sie alleine mit seinem Blick daran hindern, zuzustechen.
Hinter ihr konnte Hedera Arum verhalten fluchen hören, doch sie kümmerte sich nicht weiter darum. Stattdessen sah sie fasziniert dabei zu, wie ihr Sklave sich auf so ungewöhnlich intensive Art quälte und dabei dennoch nicht verhindern konnte, dass die Spitze ihres Dolches sich Millimeter für Millimeter weiter in das Fleisch der kleinen Ägypterin bohrte.
Wenn sie je Zweifel daran gehabt hatte, dass sie ihren Bluttrinker nicht länger unter ihrer Kontrolle hatte, so wurde dieser nun endgültig ausgeräumt. Über seine Worte mochte sie vielleicht nicht mehr verfügen, doch sein Handeln oblag immer noch ihrer vollen Kontrolle, wie dieses Schauspiel hier bewies.
Sobald der Dolch ungefähr einen Zentimeter in der kleinen Ägypterin steckte, erlöste Hedera ihren Sklaven von seiner Qual. „Halt“, befahl sie ihm vollkommen gelassen, ehe sie dann doch ein klein wenig ungehalten meinte: „Und bei Jupiters Schwanz, atme endlich, verdammt noch mal!“
Die dunkelrote Farbe wich allmählich aus dem Gesicht ihres Haustiers, sobald er in tiefen, hektischen Atemzügen nach Luft schnappte. Man könnte meinen, es wäre eine Erleichterung für ihn, tatsächlich war es jedoch nur ihrem Befehl geschuldet, dass er so heftig um Atem rang. Denn er war immer noch vollauf mit dem Blick auf den Dolch in seiner Hand fixiert, die inzwischen innegehalten hatte.
„Also“, begann Hedera und kniete sich tatsächlich auf den schmutzigen, blutbesudelten Boden neben ihren Köter, während sie sich immer noch das Tuch vors Gesicht drückte. Sein Blutdurst mochte zwar vorübergehend gestillt sein, doch seine Duftwaffe war natürlich noch nicht von ihm gewichen. Sie umhüllte ihn wie eine dichte Wolke und nur jahrelange Gewöhnung daran verhinderte, dass Hedera sich von dem Bisschen, das zu ihr durchdrang, die Sinne vernebeln ließ.
„Ich möchte dir einen Vorschlag unterbreiten. Es wird das einzige Mal sein, dass ich das tue und danach nie wieder. Also wähle weise, wenn du nicht willst, dass der Rest deines erbärmlichen Lebens eine einzige Abfolge von Momenten wie diesem hier sein wird.“
Hedera legte ihre Hand auf seine, die den Dolch fest umschlossen hielt, und gewann dadurch die Aufmerksamkeit ihres Bluttrinkers. Das Rot in seinen Augen war wirklich kein schöner Anblick, zumal es sie daran erinnerte, wie weit ihr Sklave gehen würde, um nicht länger für sie töten zu müssen. Dabei sollte es ihm eigentlich nicht möglich sein, sich selbst lebensgefährlich zu verletzen.
„Was ich dir anzubieten habe, ist Folgendes: Du unterwirfst dich mir. Vollkommen. Kein Aufbegehren mehr, dafür gibst du mir deine absolute Hingabe. Im Gegenzug …“ Hedera drückte kraftvoll gegen seine Hand, die sich keinen Millimeter bewegte und somit verhinderte, dass die Spitze des Dolches noch tiefer in das Fleisch der kleinen Sklavin eindrang, was sie absolut nicht überraschte. „Im Gegenzug zwinge ich dich nicht länger, unschuldige Leben zu nehmen. Natürlich, wenn dadurch meines oder das Leben meiner Liebsten in Gefahr gerät, gilt diese Vereinbarung nicht, doch darüber hinaus werde ich dein erbärmlich schwaches Herz nicht länger mit diesen Toden belasten. Also, was sagst du?“
Sein Zögern war nicht überraschend und auch nicht, dass er sie mit seinen stechend blauen Augen geradezu nieder starrte. Seinen reglosen Gesichtszügen konnte man nichts entnehmen, und je länger sich das Schweigen zwischen ihnen hinzog, umso mehr begann Hedera zu befürchten, dass das Gehirn ihres Köters womöglich Schaden genommen hatte.
Glücklicherweise entschloss er sich schließlich doch noch dazu, ihr zu antworten.
„Du zwingst mich nicht mehr, die Sklavinnen beim Bluttrinken zu töten?“ Seine Stimme klang erschreckend hohl und leer. Sie war bar jeglichen Gefühls.
„Nein. Da es beim letzten Mal – dieses Spektakel hier nicht mit eingeschlossen – ein solch erbaulicher Anblick war, sind Arum und ich sogar geneigt, es dir zu gestatten, dich öfter zu nähren. Womöglich sogar einmal pro Woche.“ Was mehr war, als sie ihm je zugestanden hatte, denn ihr Entgegenkommen grenzte beinahe an Überfütterung.
„Ich muss auch niemandem mehr den Kopf abschlagen?“
„Zumindest keinem Unschuldigen.“
„Oder das Herz durchbohren?“ Seine ausdruckslose Miene wurde eine Spur düsterer.
Hedera nahm die Hand von seiner Faust. „Nein. Nicht in diesem Fall.“ Sie erlaubte ihm, den Dolch aus dem Fleisch der kleinen Ägypterin zu ziehen, die von all dem Trubel um sie herum nicht das Geringste mitbekam.
„Also, wie entscheidest du dich?“ Hedera drängte nicht. Sie zeigte nicht ihre Ungeduld, obwohl sie genau das war – verdammt ungeduldig! Sie wollte endlich wissen, ob der neue Weg, den sie zu beschreiten bereit war, auch wirklich die erhofften Früchte tragen würde.
Ihr Bluttrinker legte den rituellen Dolch zur Seite, stieg von der kleinen Ägypterin runter und begab sich vor Hedera auf die Knie, nachdem sie aufgestanden war. Sein Kopf war jedoch nicht demütig gesenkt, sondern er starrte sie immer noch unverhohlen an und ließ sie auch weiterhin auf eine Antwort warten.
„Ich will mich um sie kümmern, damit ihr Tod nicht auch noch auf meinem Gewissen lastet.“ Er deutete auf die bewusstlose Sklavin, die dem Tod näher schien als dem Leben, so bleich wie sie war. Dabei war er fordernd, wenn auch auf eine Art und Weise, die Hedera schaudern ließ. Irgendetwas war heute Nacht in ihrem Sklaven zerbrochen oder vielleicht auch verloschen, denn das Feuer seiner Wildheit schien gänzlich zu fehlen. Seine Augen waren kalt wie ein frostiger Wintermorgen.
„Ich gestatte es dir, wenn du mir im Gegenzug verrätst, wie du den Ring losgeworden bist. Wenn du weiterhin darüber schweigen willst, schlitze ich ihr persönlich die Kehle auf, damit du in diesem Fall deine Hände in Unschuld waschen kannst.“ Mehr oder weniger. Doch ihr Tod wäre dann nicht direkt sein Verschulden.
Er zeigte nicht die geringste Regung in seinem kühlen Blick. Als würde es ihn nicht kümmern, ob die Sklavin lebte oder starb, obwohl er sich gerade eben noch für sie eingesetzt hatte.
„Ich riss ihn mir von meinem Schwanz, sobald du mich nicht länger in deinem Bett gebraucht hast“, kam die unerwartete Antwort, nach der sie schon so lange verlangt hatte.
„Unsinn. Es ist dir nicht möglich, ihn abzunehmen.“ Hedera schnaubte. Es war offensichtlich eine Lüge, da er den Ring dennoch irgendwie losgeworden war. Sie wusste nur nicht, wie ihm das möglich war.
„In der Tat. Ihn einfach abzustreifen ist mir nicht möglich, doch meinen eigenen Schwanz häuten, kann ich zu jeder Zeit und anderweitig kann sich dein verfluchter Ring glücklicherweise nicht an mir festhalten.“
Hederas Augen wurden groß bei der Vorstellung, wie dieser verfluchte Bluttrinker seinen eigenen Schwanz häutete, nur um ihren Ring loszuwerden. Dass er kurz davor Blut getrunken hatte, dürfte ihm dabei wohl entgegen gekommen sein, denn Haut heilte schneller als Knochen, sodass ihr ein paar Tage später nichts davon aufgefallen war.
Verflucht! Es gab einiges zu tun, um solche Dinge in Zukunft zu unterbinden. Aber dazu später. Sie hatte jetzt nicht den Nerv, um sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Wenigstens hatte sie endlich die Antwort, die sie schon so lange beschäftigt hatte.
„Also gut. Du hast deinen Teil der Abmachung eingehalten. Du kannst dich um die Sklavin kümmern, damit sie überlebt. Aber vorher will ich deine Antwort. Wie entscheidest du dich?“
Hedera hätte eigentlich mit weiterem Zaudern und Zögern gerechnet, doch ihr Bluttrinker senkte geschmeidig das Haupt und unterwarf sich ihr zu ihrer großen Verwunderung. Es war ein Moment, den sie nie erwartet hätte und der auch viel zu plötzlich kam, um ihn in voller Tragweite zu begreifen, darum stand sie auch einfach nur wie eine dumme Pute da und starrte auf ihren Sklaven, während dieser klar und deutlich, aber auch weiterhin vollkommen emotionslos verkündete: „Ich bin einverstanden mit unserer Abmachung. Du zwingst mich nicht länger, unschuldiges Leben zu nehmen, im Gegenzug begehre ich nicht länger gegen dich auf … Domina.“
Hedera verschlug es die Sprache. Nie, in über zweihundert Jahren hatte dieser Mann sie Domina genannt. Kein einziges Mal, da er ihren Status ihm gegenüber stets bestritten hatte. Sie hatte ihn noch so oft unterwerfen können, aber sie war nie seine Domina gewesen. Bis jetzt …
Beinahe hätte sie die Fassung verloren, doch die Hand, die sich plötzlich von hinten zwischen ihre Schulterblätter legte, hielt sie aufrecht.
Hedera musste sich mehrmals räuspern, ehe sie ihre Sprache wieder fand. „So sei es. Und jetzt verschwinde und nimm die Sklavin mit. Wir sind hier fertig.“
„Domina.“ Ihr Sklave neigte noch einmal sein Haupt, ehe er sich an die kleine Ägypterin wandte und sie hochhob, um mit ihr im Arm zurück in die Villa zu gehen. Erst als er ihrem Blick entschwunden war, atmete Hedera tief durch.
„Der Plan ging auf, wie mir scheint.“
Sie drehte sich zu Arum um. „Ohne dich wäre ich nie auf die Idee gekommen, ihn auf diese Weise in die Knie zu zwingen. Seine eigene Schwäche zu benutzen, anstatt ihn damit zu bestrafen …“
„Nun, hoffen wir, er hält sich an die Vereinbarung. Begehrt er nicht länger gegen seine Fesseln auf, erkennt er womöglich auch nicht mehr die Stärke, die in ihm wohnt. Das macht ihn vielleicht nachlässig.“
„Ich hoffe es.“ Sie lehnte sich an Arum und schloss für einen Moment die Augen, ehe sie sie wieder öffnete und sie sich an Gràinne wandte, die dem ganzen Spektakel bisher schweigend zugesehen hatte. „Sorge dafür, dass hier sauber gemacht wird. Arum und ich werden uns zurückziehen. Immerhin haben wir heute Nacht etwas zu feiern.“