Es war wunderschön morgens mit sanften Streicheleinheiten und zarten Küssen geweckt zu werden. Val genoss das wirklich sehr, vor allem nach einer so wunderbaren Nacht, wie sie sie davor mit Alexey verbracht hatte. Gerne schwelgte sie im Halbschlaf noch in den heißen Erinnerungen an die vergangenen Ereignisse, als Alexey mit diesem Hunger über sie hergefallen war und sie endlich einmal so zusammen gekommen waren, wie es sein sollte. Auch an das Danach, als sie ihm gezeigt hatte, was bei ihm selbst alles möglich war, wenn er ihr nur freie Hand ließ und ihr vor allem sein Vertrauen schenkte.
Keine Frage, Alexey hatte noch einen weiten Weg vor sich, um mit seiner eigenen Sexualität wieder vollkommen ins Reine zu kommen, doch Val begleitete ihn gerne dabei. Immerhin war es auch für sie heilsam, bei ihm zu sein und diese Dinge gemeinsam mit ihm zu durchleben.
Doch so schön die Nächte mit Alexey bisweilen auch waren … Es folgte stets der nächste Morgen und das war eigentlich immer ein böses Erwachen. Zwar meistens nicht direkt beim Aufwachen, aber danach sobald sie Alexeys Kammer verlassen musste.
An diesem Morgen schien es allerdings schon früher loszugehen, denn während Val noch im Dämmerschlaf ihren schönen Erinnerungen nachhing, endeten abrupt Alexeys Streicheleinheiten, die das Potential für noch sehr viel mehr gehabt hätten, und auch seine Wärme verschwand so plötzlich, dass es fast ein Schock für Val war. Sie war sofort hellwach, als sie sich aufsetzte und sich erschrocken umsah.
Alexey hatte bereits eine Öllampe entzündet, damit Val etwas sehen konnte, aber das bemerkte sie nur am Rande, denn ihre Aufmerksamkeit richtete sich sofort auf den Mann, der splitterfasernackt mit verschränkten Armen so weit weg von ihr, wie es ihm nur möglich war, an der Mauer stand und zu Boden starrte. Seine Kiefer mahlten und sein Atem ging schwer. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen schien wie in Stein gemeißelt zu sein und überhaupt war absolut nichts mehr von der zuvor noch sehr gelösten Stimmung zu bemerken.
Vorsichtig zog sich Val die Decke über die nackten Schultern, um sich zu bedecken. „Alexey? Ist alles … in Ordnung?“
Auf ihre Worte hin stieß er sich von der Wand ab und begann rastlos im Raum hin und her zu laufen. Immer noch hielt er seine Arme fest vor seiner Brust verschränkt, doch seine Getriebenheit sagte Val, dass er gerade wahnsinnig aufgewühlt war und wohl versuchte, nicht wieder auf irgendetwas einzuprügeln. Was sehr viel über seinen Gemütszustand aussagte, nur konnte sie sich absolut nicht diesen Stimmungsumschwung erklären. Besser gesagt, was diesen ausgelöst hatte.
„Habe ich … etwas falsch gemacht?“, versuchte sie es daher vorsichtig.
„Nein!“ Er fuhr sie richtig an, nur um dann sehr viel ruhiger nachzusetzen: „Nein, hast du nicht.“
Alexey blieb stehen und lehnte sich gegen die Kante seines Tisches, bevor er die Arme vor seiner Brust löste, doch nur, um sich mit seinen Händen durchs Haar zu fahren und nach den passenden Worten zu suchen.
Da sonst nichts anders im Raum war als am Abend zuvor, war sich Val nicht sicher, ob sie ihm glauben konnte. Sie hatte nämlich wirklich das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, wenn er so deutlich aus ihrem gemeinsamen Bett geflüchtet war und auch keine Anstalten machte, wieder zurück zu kommen. Sie wusste nur nicht, was sie getan hatte.
„Sagst du mir, was los ist? Ich meine, du bist von jetzt auf gleich aus dem Bett geflüchtet …“ Selbst wenn sie unbemerkt im Halbschlaf gepupst hätte, würde es noch lange nicht erklären, dass Alexey deshalb so aufgebracht war. Er hatte schon weitaus Schlimmeres von ihr mitbekommen!
Alexey hielt sich krampfhaft mit seinen Händen an der Kante des Tisches fest, während er an die Decke starrte und sich sein Gesicht noch mehr verzerrte, als würde was auch immer ihn richtig quälen. Er konnte sie auch gar nicht ansehen, wie Val inzwischen auffiel.
Wieder wollte sie etwas sagen, doch dieses Mal kam Alexey ihr zuvor. „Ich kann … es hören …“
Seine Stimme war so knurrig, dass Val ihn kaum verstand und sich sehr auf seine Worte konzentrieren musste. „Was kannst du hören?“
Alexey sah so aus, als würde er jeden Moment an den Worten ersticken, die ihm im Hals steckten. Er wollte ganz offensichtlich nicht darüber reden, aber ihm war wohl sehr genau bewusst, dass er das musste. Abhauen war sowieso keine Option für ihn. Er könnte Val höchstens rausschmeißen und das würde Alexey niemals tun. Was blieb ihm also für eine andere Wahl? Er musste mit ihr reden.
„Das Herz dieses …“ Alexey schluckte hart. „Ich kann es schlagen hören …“
Es lag nicht unbedingt daran, dass sie so abrupt in diese Situation geschmissen worden war, dass Val seine Worte zunächst nicht begreifen und ihnen auch keinen Sinn entnehmen konnte. Nein, ihr Verstand weigerte sich tatsächlich kurzfristig, näher über das, was in ihr vorging, nachzudenken. Aber gerade jetzt musste sie es tun, und als ihr dann auch wirklich klar wurde, wovon Alexey eigentlich sprach, wich schlagartig jegliche Farbe aus Vals Gesicht. Sie starrte dabei auf ihre Hände, die krampfhaft ihre Decke festhielten, während sie im Kopf nachzurechnen begann.
Alexey hatte gesagt, er hätte ihre Schwangerschaft erst seit ungefähr zweieinhalb Wochen bemerkt. Das war zu früh. Viel zu früh, aber es konnte eben auch sein, dass es ihm vorher einfach nicht aufgefallen war. Die Einnistung des Embryos fand erst einige Tage später nach der Befruchtung statt. Erst da begann der Körper einer Frau sich deutlich zu verändern. Vielleicht konnte er vorher keinen Unterschied in ihrem Hormonhaushalt wahrnehmen. Dazu noch die Woche, wo sie kein Wort miteinander geredet und sich gegenseitig ignoriert hatten … Aber selbst dann war es noch … im Rahmen. Scheiße. Wenn dieser beschissene Wichser von einem Perversen tatsächlich beim ersten Mal gleich einen Volltreffer gelandet hatte, DANN war es tatsächlich möglich.
Vals Gedanken begannen zu rasen.
Alexey musste ein wirklich unglaublich gutes Gehör haben, wenn er den Herzschlag des Embryos in dieser frühen Entwicklungsphase hören konnte. So früh konnte man das nicht einmal mit dem Ultraschall feststellen. Ob er ihr vielleicht auch sagen konnte, wie …
Val hob den Kopf und sah zu ihm rüber.
Wie verkrampft er war. Wie … enorm angepisst …
Es war nicht so, dass Val ihn nicht verstehen könnte. Wäre sie in seiner Situation, sie würde genauso empfinden, immerhin bekam er jeden Tag mit, dass sie von einem anderen Mann vergewaltigt wurde und jetzt auch noch dessen Bastard im Leib trug. Sowas tat man nicht einfach so ab. Vor allem, weil er ihr nicht helfen konnte, obwohl er es so sehr wollte. Er war machtlos und das machte ihm bestimmt nur noch mehr zu schaffen. Doch gerade in diesem speziellen Fall und vor allem in diesem Moment, da konnte Val sich nicht auf Alexey und seine Empfindungen konzentrieren.
Diese Neuigkeit hätte sie erst gar nicht so treffen … nicht so heftig überwältigen dürfen, schließlich waren es genau genommen nur Hörensagen. Sie hatte das Herz nicht selbst per Ultraschall gesehen oder es schlagen gehört. Diese visuelle und akustische Bestätigung hatte Val nicht, trotzdem kümmerte das ihren intensiv aufflammenden Mutterinstinkt wenig. Sie glaubte Alexey und sie wollte mehr erfahren. MUSSTE mehr erfahren, denn mit einem Mal war die ihr so vertraute Angst wieder da. Diese entsetzliche, beschissene Angst, die einem bis ins Mark ging, einen kaum atmen ließ und für so viele von Vals schlaflose Nächte und Albträume verantwortlich war. Eine Angst, die einen zermürbte, wenn sich letztendlich immer wieder bestätigte, dass sie nicht bloß Einbildung, sondern völlig berechtigt gewesen war.
Val konnte den Drang nach Klarheit ungefähr eine Sekunde lang unterdrücken, dann platze es geradezu aus ihr heraus: „Wie hört sich der Herzschlag für dich an? Ist er normal? So wie du ihn kennst? Wieviele Schläge pro Minute? Wie regelmäßig ist er?“
Alexey sah sie für einen Moment an, als hätte sie sich vor seinen Augen in einen Drachen verwandelt. Dann machte er dicht. Sehr gründlich sogar, denn er wandte sich ruckartig von ihr ab, bückte sich nach seiner Tunika und zog sie sich über. Zunächst noch verkehrt herum, aber den Fehler korrigierte er rasch, bevor er nach seinem Gürtel griff, der ihm dabei zweimal aus den Fingern glitt, bis er ihn zu fassen bekam. Es dauerte sogar noch länger, bis er es schließlich schaffte, ihn mit seinen zittrigen Händen zu schließen.
Eigentlich schien er geradewegs zur Tür rausstürmen zu wollen, bis ihm wohl wieder einfiel, dass er seine Kammer nicht wirklich verlassen konnte. Also blieb er dort stehen, den Rücken zu ihr gewandt und die Hände vor Wut geballt.
„Ich verstehe dich einfach nicht!“, fauchte er schließlich leise. „Du machst dir Sorgen um den Bastard dieses Hurensohns?!“ Jetzt wurde er schon lauter und drehte sich nun doch rasend vor Wut zu ihr herum. „Um das Balg von dem Mann, der dich jeden Tag nach Lust und Laune benutzt, wie es ihm gefällt? Ist mir hier irgendetwas entgangen? Gibt es da etwas zwischen –“
„STOPP!“ Val sprang geradezu aus dem Bett und wickelte nur notdürftig in aller Eile die Decke um sich, während sie wie eine kleine Dampflok auf Alexey zuraste, um ihn nun ebenfalls wütend anzufunkeln.
„Wage es nicht, diesen Satz zu Ende zu sprechen! Ich hasse diesen Scheißkerl abgrundtief und wünsche ihm die Pest an den Hals, verstanden?!“ Sie schrie beinahe.
Alexey war nicht besser: „Warum dann?! Warum gehst du nicht zu Rashad und lässt dieses Übel ein für allemal beseitigen?!“
„HÖR AUF!“ Val stieß ihm vor Wut hart vor die Brust, was in ihrem Fall nicht besonders kräftig war.
Alexey bleckte daraufhin die Zähne, sodass sie seine voll ausgefahrenen Fänge erkennen konnte, ansonsten blieb er jedoch ruhig stehen und verschränkte schließlich sogar seine Arme vor der Brust, um damit nicht doch noch etwas Dummes anzustellen. Nicht, dass Val Angst hätte, er würde ihr gegenüber körperlich aggressiv werden. Dafür hatte Alexey sich dann doch zu gut im Griff.
Ganz im Gegensatz zu Val, wie sich kurz darauf herausstellte, denn sie packte den Stoff seiner Tunika unterhalb seiner Arme und begann wütend daran zu zerren. „Ich will es nicht hören, verstanden?! Hör auf, davon zu reden, DASS ICH MEIN KIND TÖTEN SOLL!!!“
Sie verlor die Decke. Den einzigen Schutz vor ihrer Nacktheit, und doch fühlte Val sich im Augenblick nicht nackt oder schutzlos. Im Gegenteil. Sie war wie eine wütende Bärenmutter, die ihre Jungen beschützte. Mit ihrem eigenen Leben, wenn es sein musste und sie würde sich davon auch nicht abbringen lassen. Durch keinen noch so plausiblen Grund oder miesen Umstand, der es eventuell noch gerechtfertigt hätte, diese Schwangerschaft von selbst abzubrechen. Das würde sie nicht zulassen. NIEMALS!
Alexey packte sie nun seinerseits an den Oberarmen und hielt sie fest, damit sie ihm am Ende nicht doch noch die Augen auskratzen konnte. Immerhin schien bei Val im Moment alles möglich zu sein. „Dann erklär es mir! Erklär mir, warum dir dieses Ding so wichtig ist!“
„WEIL ICH NICHT NOCH EIN BABY VERLIEREN WILL!“
Val klingelten von ihrem eigenen Geschrei die Ohren, doch damit sollte es nun vorbei sein, als die Wahrheit endlich raus war. Ihr wahrer Beweggrund. Ihre größte Angst und zugleich die schwerste Last, die sie tagtäglich mit sich herumschleppte.
Würde Alexey sie nicht aufrecht halten, Val wäre einfach in sich zusammen gesunken. Es tat einfach zu sehr weh. Selbst nach so vielen Jahren war diese Wunde nie wirklich verheilt. Es hatte sich darüber zwar Schorf gebildet, doch sobald etwas daran auch nur leicht kratzte, fing sie wieder zu bluten an. Und Val blutete das Herz. Wie wahnsinnig. Gerade jetzt, in diesem Moment hatte sie das Gefühl, einmal mehr daran zu ersticken.
Alexey zog sie unvermittelt an sich und hielt sie fest, während er sich nach der Decke bückte, die Val verloren hatte. Er wickelte sie sanft darin ein und hob sie anschließend hoch, um sie zurück ins Bett zu bringen.
Zu Vals Erleichterung ließ er sie dort nicht allein, sondern legte sich zu ihr, um sie innig in die Arme zu schließen. „Erzählst du mir davon?“ Sein Stimmungsumschwung war gewaltig, wurde von ihr jedoch kaum wahrgenommen.
Val wusste nicht, ob sie das konnte. Darüber zu reden oder ob sie überhaupt noch irgendetwas konnte, außer wie paralysiert dazuliegen und einen Atemzug nach dem nächsten zu überstehen. Zu ihrer eigenen Überraschung jedoch begannen die Worte plötzlich wie ein unaufhaltsamer Strom nur so aus ihr herauszusprudeln.
„Ich wollte eigentlich keine Kinder. Bei all der Scheiße, die ich selbst als Kind erlebt habe … Der Gedanke war einfach vollkommen absurd für mich. Doch dann traf ich Daniel – den ersten Mann in meinem Leben, der mir gezeigt hat, dass nicht alle Männer kranke Schweine sind.
In meinem alten Leben war er mein Ehemann. Ein guter Mann, bis … Auf jeden Fall dauerte es nach der Begegnung mit ihm nicht lange, bis mir die Vorstellung von eigenen Kindern nicht mehr vollkommen absurd erschien. Nein, der Gedanke veränderte sich sogar, wurde zu einem Wunsch und schließlich zu einer intensiven Sehnsucht, die mir aber letztendlich verwehrt blieb. Ich wollte so wahnsinnig gerne eine Mom sein. Dieses kleine Wunder – diesen Teil von mir im Arm halten. Zusehen, wie mit viel Liebe und Fürsorge aus diesem kleinen Menschen, ein großer Mensch wird. Es hätte meinem Leben tatsächlich einmal einen Sinn gegeben. Nicht nur Leben retten, sondern selbst eines erschaffen!
Doch es sollte nicht sein. Ich … habe jedes meiner Kinder verloren, noch bevor sie überhaupt zur Welt kamen. Beim ersten Mal waren es die Zwillingsmädchen. Lilliana und Sophia. Ich konnte sie nur vier Monate lang am Leben halten.
Dann kam Veronika. Sie schaffte nur drei Monate.
Anastasia hat es bis zum fünften Monat geschafft, ehe Komplikationen eintraten.
Jessica erging es wie den Zwillingen. Ich verlor sie ebenfalls nach vier Monaten.
Chloe, mein letztes Kind, schenkte mir die meiste Hoffnung. Sie schaffte es sieben Monate lang am Leben zu bleiben, doch dann versagte einfach ihr Herz. Ich erfuhr erst drei Tage später beim nächsten Kontrolltermin, dass sie tot ist.“
Val verstummte, doch nur für einen Moment, dann sah sie Alexey an, mit all dem Unglück und dem Schmerz in ihrem Herzen. „Du … weißt nicht, wie es sich anfühlt, dieses Wunder in dir zu spüren, alle Hoffnungen darin zu setzen und dann zu sehen, wie das kleine Herz nicht mehr schlägt. Völlig unerwartet und ohne irgendwelche bedrohlichen Vorzeichen, dass etwas nicht gestimmt hat. Du hast nicht die geringste Ahnung, wie es ist, seine toten Kinder zur Welt bringen zu müssen, nur um sie anschließend zu Grabe zu tragen! Wie es einen zerreißt. Immer wieder und doch schlägt das eigene Herz weiter, obwohl es längst gebrochen ist. Du … kannst gar nicht verstehen, was du von mir verlangst. Du kennst das Gefühl und den unbeschreiblichen Schmerz nicht, den man empfindet, wenn man ein Kind verliert … Also hör auf, so etwas Schreckliches von mir zu verlangen, wenn ich dieses Kind wahrscheinlich sowieso wieder auf die eine oder andere Art verlieren werde!“
***
„Es tut mir leid …“ Das tat es wirklich. Alexey fühlte sich schrecklich. Ihm hätte schon vorher klar werden müssen, dass seine kleine Kriegerin dieses Thema nicht ohne Grund so konsequent unterbunden hatte. Er hätte ihren tiefen Schmerz irgendwie erkennen müssen, doch in seiner eigenen, egoistischen Verblendung war er gar nicht darauf eingegangen. Immer wieder hatte nur der Gedanke eine Rolle gespielt, dass sie das Kind eines anderen Mannes in sich trug. Eines Mannes, der sie jeden Tag auf unterschiedliche Arten und Weisen anfasste, ohne dass er – Alexey – etwas dagegen unternehmen konnte.
Letztendlich war nicht das Kind das wahre Problem, sondern die Tatsache, wie hilflos Alexey sich fühlte und wie wütend ihn der Umstand machte, nur untätig daneben zu stehen, ohne die Frau beschützen zu können, die ihm mehr als sein eigenes Leben bedeutete. Die zu seiner ganzen Welt geworden war. Das Kostbarste, das ihm je geschenkt wurde und er konnte es einfach nicht retten.
Valerias Offenbarung mochte zwar nichts an Alexeys eigenen Gefühlen ändern – mit denen hatte er gewiss auch weiterhin zu kämpfen – doch er verstand nun ihre Sicht der Dinge besser.
Alexey versuchte erst gar nicht, zu begreifen, wie das alles mit ihrem alten Leben, dem anderen Körper und ihrem Erscheinen in ihrer derzeitigen Form möglich sein konnte. Das überstieg seinen Horizont und sein Verständnis für diese Welt bei weitem. Doch er sah und erkannte sehr wohl den tiefen Schmerz seiner kleinen Kriegerin. Diese sehr realen Gefühle und wie tiefgreifend sie sein mussten, wenn sie es schafften, dass Valeria vollkommen ausdruckslos über ein so schmerzhaftes Thema wie über den Verlust der eigenen Kinder sprach.
Ihre trockenen Wangen und der ausdruckslose Blick erzählten dabei von den zahllosen vergossenen Tränen, die geflossen sein mussten bei jedem einzelnen Verlust, den sie erlitten hatte. Wie sehr sie offenbar auch jetzt noch darunter litt.
Dieses Kind musste diese alten Wunden wieder aufgerissen haben und Alexey sah sich nicht dazu in der Lage, den Schmerz irgendwie zu lindern, denn er hatte keine guten Nachrichten für seine kleine Kriegerin, obwohl er sich nach allem, was er nun wusste, etwas anderes für sie wünschte.
„Es tut mir leid, Valeria“, versicherte er ihr noch einmal und zog sie wieder enger an seine Brust, um sie zumindest in diesem Moment zu beschützen. „Ich werde nicht noch einmal davon anfangen.“ Er wollte nicht noch mehr in dieser ganz speziellen Wunde bohren.
„Es ist nicht so, dass ich dich nicht verstehen würde …“, begann Valeria nach einer Weile des Schweigens. „Ich wünschte auch, die Umstände wären anders. Es ist der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, ein Kind zu erwarten. Unter diesem Dach und weil wir diesen Leuten so sehr ausgeliefert sind … Ich mache mir keine Hoffnungen, dass ich es beschützen kann. Ob nun in meinem Bauch oder außerhalb davon, aber ich kann nicht anders, als es dennoch zu versuchen. Mit meinem Leben, wenn es sein muss.“
Er verstand dieses Bedürfnis nur zu gut. Ihm ging es ganz genauso mit Valeria. Er würde ohne zu zögern für sie sterben.
„Darum bitte ich dich, Alexey …“ Seine kleine Kriegerin löste sich von ihm und setzte sich auf, sodass er es ihr gleichtat. „Bitte sag mir, was du hörst. Ich meine …“ Valeria senkte den Blick und legte ihre Hände auf ihren nackten Bauch, dort, wo noch nicht das Geringste von einem Kind zu sehen war. „Klingt der Herzschlag für dich normal?“
Alexey antwortete nicht. Er konnte nicht. Nicht, weil er wieder wütend bei dem Gedanken wurde, dass Valeria sich um Vorenus‘ Bastard sorgte, sondern weil er genau wusste, was die Antwort auf ihre Frage für sie bedeutete.
Seine kleine Kriegerin umfasste daraufhin Alexeys Gesicht und zwang ihn damit dazu, sie anzusehen. Sie konnte die Antwort bereits in seinen Augen lesen, doch die Strenge in ihren Gesichtszügen sagte ihm, dass ihr das nicht genügte, was sie kurz darauf auch bestätigte. „Bitte sag es mir einfach. Reale Tatsachen sind für mich bei weitem nicht so schlimm, wie diese verdammte Ungewissheit!“
Alexey schloss die Augen. Nicht nur, um noch einmal zu lauschen, sondern auch um Valerias intensivem Blick auszuweichen. Ihr rasender Herzschlag verriet ihm, wie sehr ihr das alles zusetzte und dennoch konzentrierte er sich auf das andere Geräusch. Den zweiten Rhythmus, der so subtil war, dass er ihn unter anderen Umständen vielleicht noch gar nicht wahrgenommen hätte, wäre Alexey nicht so sehr auf seine kleine Kriegerin fixiert und auf jede Veränderung an ihr.
„Er klingt anders“, gab er schließlich zögerlich zu. „Sehr viel langsamer.“
Als Valeria ihn losließ, öffnete Alexey wieder die Augen. Seine kleine Kriegerin sank geradezu in sich zusammen, doch irgendetwas hielt sie dennoch weit genug aufrecht, um nicht völlig zu einem Häufchen Elend zu werden.
Wie schon zuvor, als sie ihm das von ihren verlorenen Kindern erzählt hatte, war auch jetzt ihre Stimme bar jeder Regung. „Um wieviel langsamer?“
„Ich … weiß nicht genau. Etwa die Hälfte?“ Das ließ sich unmöglich exakt bestimmen. Die Herzen der anderen Babys die er in seinem Leben schon gehört hatte, hatten alle mehr oder weniger unterschiedlich geklungen. Auch in der Geschwindigkeit, doch dieser Herzschlag hier unterschied sich erheblich von den anderen.
Wahrscheinlich hatte seine kleine Kriegerin recht und dieses Kind würde nicht lange genug leben, um überhaupt einen Groll gegen es hegen zu können, nur weil es einen Mann als Vater hatte, den sie alle bis aufs Blut hassten.
„Wieviele Schläge pro Minute?“ Ihre Stimme war nur noch ein leises Zittern, doch Alexey verstand sie trotzdem, ohne seine kleine Kriegerin wirklich zu verstehen.
„Ich weiß es nicht. Was ist ‚Minute‘?“
Valeria schüttelte den Kopf und strich sich schließlich das Haar aus dem Gesicht. Sie wirkte, als hätte die Frage sie soeben ein wenig wachgerüttelt. „Tut mir leid. Du weißt natürlich nicht, was Minuten sind. Machen wir es so: Wenn ich Los sage, zählst du die Schläge und wenn ich Stopp sage, sagst du mir, wie weit du gezählt hast, okay?“
„In Ordnung.“ Wenn es ihr half, würde er zählen, solange es nötig war.
„Gut, dann los!“
Alexey schloss erneut die Augen und konzentrierte sich, um dem kleinen ihm zuvor noch so verhassten Herzschlag zu lauschen.
„Stopp! Wieviele Schläge?“
Inzwischen schlug Alexeys eigener Herzschlag auch ganz schön schnell. Er überbrachte seiner kleinen Kriegerin nur sehr ungerne schlechte Nachrichten. Nun mehr denn je, nach allem, was sie ihm erzählt hatte. Doch es änderte nichts an den Tatsachen.
„Siebenundsechzig.“
Valeria schüttelte den Kopf. „Nein, das kann unmöglich stimmen. Es müssten fast hundert Schläge mehr sein.“
Alexey hinterfragte nicht, woher seine kleine Kriegerin das so genau wusste. Woher sie im Allgemeinen ihr Wissen her hatte, denn wahrscheinlich würde er die Antwort nicht wirklich begreifen.
„Ich sagte doch, der Herzschlag ist sehr viel langsamer“, versuchte er es vorsichtig.
Wieder schüttelte seine kleine Kriegerin den Kopf. „Nein, wir zählen noch mal, also los!“
Alexey versuchte Valeria nicht von der Aufrichtigkeit seiner Worte zu überzeugen. Darum ging es hier eigentlich auch gar nicht. Das bemerkte er nur allzu schnell, als er immer wieder für sie die kleinen, kaum wahrnehmbaren Schläge zählen musste. Das Ergebnis davon war für seine kleine Kriegerin jedes Mal aufs Neue ein schwerer Schlag, doch sie gab nicht auf, schien die Tatsachen leugnen zu wollen, bis Alexey sie wieder in seine Arme nahm und fest an seine Brust zog.
„Es ist genug, Valeria. Dieses kleine Herz schlägt nicht schneller, egal, wie sehr du es dir wünschst. Es tut mir leid, dass ich dir nichts anderes sagen kann.“ Wie sehr, das hätte er vor Valerias Erzählung gar nicht geglaubt. Aber so war es tatsächlich. Es tat ihm weh, dass es seiner kleinen Kriegerin wehtat. Sehr sogar.
„B-Bitte. Nur noch einmal …“
Nun war es an Alexey, den Kopf zu schütteln. „Es würde nichts am Ergebnis ändern, nur deinen Schmerz vertiefen.“
***
Alexey hatte natürlich recht. Doch Val fiel es so unglaublich schwer, sich diesen beschissenen Tatsachen zu stellen. Es zu akzeptieren, dass selbst mit diesem Körper und in diesem Leben … Sie würde niemals eine Mom sein. Nicht einmal dann, wenn sie es vielleicht hier raus schafften und weit genug fliehen konnten, um sich irgendwo in Sicherheit ein neues Leben aufzubauen. Selbst dann würde sie versagen. Selbst dann würde es keine Kinder für sie geben. Nicht einmal mit Alexey …
Val hielt sich mit aller Macht an ihm fest, kroch geradezu in ihn hinein, um nicht völlig auseinander zu brechen. Bis jetzt hatte sie es verhindern können, wie ein Schlosshund zu heulen, denn zu weinen änderte nichts an ihrem Schmerz. Inzwischen wusste sie, dass Tränen keine Erleichterung verschafften. Nicht in diesem Fall. Sie hatte es ausprobiert, es hatte nicht geholfen. Es würde auch jetzt nicht helfen und dennoch begannen sie schließlich zu fließen, jedoch nicht unkontrolliert.
Val unterdrückte ihr Schluchzen, versuchte die Fassung zu wahren, so gut sie es eben konnte und konzentrierte sich viel mehr auf das Gefühl, das Alexey ihr schenkte. Die Wärme und Geborgenheit, obwohl er vorhin noch so wütend gewesen war. Doch er hatte schnell erkannt, wie tief dieses Thema bei ihr ging, tiefer als seine Wut dem Perversen gegenüber. Dafür war sie Alexey von Herzen dankbar. Dass er trotz seiner eigenen Gefühle so sehr für sie da war.
Wie lange Val an seiner Brust hing und sich von ihm halten und streicheln ließ, ohne mit etwas anderem als mit Tränen zu reagieren, wusste sie nicht. Val ertappte sich jedoch irgendwann dabei, wie sie Alexeys Herzschlag lauschte, als könnte das den Herzschlag ersetzen, den sie so niemals hören würde. Ein Herzschlag, der bald verstummen würde, weil er viel zu langsam und damit wohl auch viel zu schwach war. Ein Herzschlag, so langsam wie der eines …
Vals eigener Herzschlag überschlug sich plötzlich, als sie mit einem Mal aufrecht saß und Alexey fassungslos anstarrte, während sich in ihrem Kopf die Gedanken nur so überschlugen.
Obwohl er ihren Blick erschrocken und auch fragend erwiderte, brachte sie zunächst kein Wort über die Lippen, denn es konnte nicht sein, oder etwa doch? Machte sie sich schon wieder falsche Hoffnungen? War sie schon so verzweifelt, dass sie sich etwas wünschte, was einfach nicht da war?
Val zwang sich zur Ruhe, schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch, ehe sie Alexey mit festem Blick ansah. Mochte sein, dass das Thema für ihn kein angenehmes war, aber es könnte womöglich für sie beide eine grundlegende Veränderung bedeuten. Vielleicht sogar Hoffnung, obwohl diese auch einfach nur ihrem verzweifeltem Herzen entsprungen sein könnte.
„Ich weiß, du redest nicht gerne darüber, aber ich muss etwas wissen.“ Val berührte Alexey an den Schultern.
„Was es auch ist, ich bin für dich da.“ Das war er im Moment wirklich. Er hatte seine eigenen Gefühle runtergeschluckt, um für sie da sein zu können und es schien nicht so, als könnte sich daran so schnell etwas ändern. Was wirklich gut war, dennoch setzte Val sich schließlich auf seinen Schoß und schlang die Arme um seinen Nacken, um ihm näher zu sein, während sie ihm entschlossen in die Augen blickte.
„Damals bei diesem Ritual – du hast mir gesagt, dass du dich schuldig gefühlt hast, weil es dir am Ende gefallen hat. Weil du dich gut gefühlt hast.“
Val bemerkte nur zu genau, wie er sich geradezu verspannte und dennoch wich er ihrem Blick nicht aus. „Das stimmt.“
Ihr Herz begann bei seinen Worten tatsächlich noch mehr zu rasen. Bisher hatte sie nicht näher darüber nachzudenken versucht, weil das für sie beide eine beschissene Nacht gewesen war. Aber was, wenn es eben doch auch mehr als das gewesen war?
„Du sollst nur wissen, egal, wie deine Antwort ausfällt, ich bin dir wegen dieser Nacht nicht böse. Wir wollten das beide nicht und das war mir von Anfang an klar, darum habe ich bis jetzt nicht wirklich daran gedacht. Weil du –“
„Was willst du wissen?“, unterbrach Alexey sie kurzerhand und strich ihr dabei versichernd über den Rücken. Das Thema war ihm tatsächlich unangenehm, aber er umging es nicht und hatte es auch offensichtlich nicht vor.
„Eigentlich will ich nur wissen … weil ich es selbst nicht mitbekommen habe … Ich meine …“
Alexey nahm ihre zittrigen Hände in seine, mit denen sie sich soeben geradezu fahrig die Haare zurückgestrichen hatte. Das Thema machte sie wahnsinnig nervös und je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr Hoffnung regte sich in ihrem Herzen, selbst wenn der Aufschlag verdammt bitter werden könnte, wenn sich das alles nur als Luftschloss entpuppte, weil es keine absolute Garantie gab. Aber die Chance …
„Valeria, was willst du wissen?“
„Ich will wissen, ob du damals gekommen bist. Also in mir. Weil vom Zeitpunkt her … Und dein Herzschlag ist auch so viel langsamer als … Es könnte ja sein, dass … Ich meine …“ Scheiße, reiß dich zusammen!
Val holte noch einmal tief Luft und ließ dann einfach die Bombe platzen: „Was, wenn du der Vater bist? Das Herz eines Bluttrinkers schlägt ja offenbar sehr viel langsamer als das eines Menschen. Vielleicht ist das schon im Mutterleib so? Vom Zeitpunkt her wäre es absolut möglich. Und selbst wenn du damals keinen Erguss hattest, könnte trotzdem noch eine geringe Chance bestehen…“
Val unterbrach ihren Redeschwall, als sie bemerkte, wie jegliche Farbe aus Alexeys Gesicht wich und er auch wie erstarrt dasaß. Irgendwie beantwortete diese Reaktion ihre Frage, denn sie war ganz schön heftig. Was Vals Hoffnung gleich noch mehr wachsen ließ, obwohl es völlig irrational war. Wenn in den nächsten Tagen kein Anzeichen für eine Verschlechterung des Zustand ihres Babys eintrat, DANN konnte sie sich vielleicht Hoffnungen machen, dass dieses kleine Herz tatsächlich so langsam schlug, weil es nicht rein menschlich war. Aber bis dahin war noch alles möglich.
Nur würde ihr die Vorstellung, Alexey könnte der Vater sein, so viel besser gefallen. So unendlich viel besser!
Aber selbst wenn er es war, würde das Kind überhaupt so lange überleben oder würde es das Schicksal seiner Halbschwestern teilen?
Val wollte im Moment nicht darüber nachdenken. Sie KONNTE im Moment nicht darüber nachdenken. Das alles war gerade zu viel. Nicht nur für sie, ganz offensichtlich auch für Alexey, der langsam aber sicher erste Anzeichen einer Hyperventialtion zeigte.
Dachte Val zumindest, denn plötzlich hielt er den Atem an und riss den Kopf herum, als würde er lauschen, nur dieses Mal auf ein Geräusch, das nicht aus ihrem Bauch kam, sondern außerhalb seiner Kammer.
Wenn überhaupt möglich wurde er noch bleicher und dieses Mal war der Anflug von Angst in seinen Augen nicht zu übersehen.
„Es tut mir leid. Wir müssen später … reden. Sie sucht dich bereits!“
Bevor Val diese Information überhaupt verarbeiten und sich fragen konnte, wen er mit sie meinte, fand sie sich bereits stehend auf ihren Füßen wieder, während Alexey ihr das inzwischen getrocknete Nachthemd über den Kopf zog. Wie bei einem kleinen Kind half er ihr auch noch in die Ärmel, da ihr Verstand mit seiner Schnelligkeit ebensowenig mitkam, wie der Rest von ihr, denn plötzlich überrollte sie eine Übelkeit, als hätte es ihr wie bei einer Achterbahnfahrt den Magen ausgehoben. Der Vergleich war vermutlich gar nicht mal so verkehrt, obwohl sie eher an ein Schleudertrauma denken sollte, immerhin befand sie sich kurz darauf nicht einmal mehr in Alexeys Kammer, sondern in irgendeinem verlassenen Flur und das Übelkeitsgefühl und der Schwindel verstärkten sich so schlagartig, dass sie sich gerade noch so an der Steinwand abstützen konnte, bevor sie sich tatsächlich übergeben musste.
Val hatte sich noch nicht ganz von dem Anfall erholt, da wurde ihr unsanft der Kopf an den Haaren in den Nacken gerissen und sie bekam eine schallende Ohrfeige.
Sie musste das anschließende Gekeife noch nicht einmal verstehen, um nun genau zu wissen, wen Alexey mit sie gemeint hatte. Die Sklaventreiberin natürlich, wen auch sonst?
Diese ließ sich auch gerade richtig schön aus, während sich Val über den Mund wischte und ihren Magen daran zu hindern versuchte, noch mehr Gründe für Schläge hervor zu würgen.
Inzwischen hatte sich Vals Latinum dank Alexey verbessert, aber selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte sie jedes einzelne Wort dieser verfluchten Schreckschraube verstanden, die ihr vorwarf, hier auf krank zu spielen, den Boden einzusauen und es noch nicht mal bis zum Abort zu schaffen, obwohl der nur ein paar Schritte weit entfernt war.
Val musste sich auch nicht umdrehen, um zu wissen, dass Alexey nicht mehr hier war. Offenbar hatte er sie nur rasch hier im Gang abgestellt, damit sie wenigstens eine Ausrede hatte, weshalb sie nicht in ihrer Kammer gewesen war, als die Sklaventreiberin sie holen kommen wollte. Der Rest war nun ihr überlassen. Weitere Hilfe konnte sie von ihm leider nicht erwarten.
Im Moment war Val auch ganz froh darüber.