Sie konnte ihn nicht ansehen.
Nicht einmal dann, als der Hüne seine Schwerter wie in der Nacht zuvor auf dem nächstgelegenen Tisch ablegte und sich der erlöschenden Glut in der Feuerstelle zuwandte, um ihr Abendessen aufzuwärmen.
Stattdessen saß Val ein Stück weit von ihm entfernt auf einer Bank und starrte stumm in den tönernen Becher, den sie fest mit ihren Fingern umklammert hielt und der bis zur Hälfte mit frischem Quellwasser gefüllt war.
Im Lichte des neu entfachten Feuers konnte sie ihr Spiegelbild darin erkennen, oder zumindest das des mädchenhaften Körpers, in dem sie im Augenblick steckte.
Das alles war so seltsam.
Egal wie sehr sich Val auch bemühte, mit dieser bizarren Situation, in der sie seit ihrem vermeintlichen Tod feststeckte, fertigzuwerden, es wollte ihr nicht so recht gelingen.
Sie war gefangen in einer Welt, die sie nicht verstand und die auch nicht einmal im Ansatz dem gleichkam, was sie kannte.
Vielleicht war sie am Ende doch in der Hölle gelandet. Ob sie nun an Gott glaubte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Es würde jedoch sehr viel mehr Sinn ergeben als jede andere mögliche Erklärung, die ihr einfallen wollte.
Doch egal ob es nun Wirklichkeit war oder nicht, alles was ihr passierte, fühlte sich für Val real genug an, um trotz allem darauf zu reagieren. Sie konnte nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen. Als hätte es Vanadis nie gegeben oder als wäre der Schmerz über ihren Verlust bloße Einbildung.
Ebenso wenig konnte sie ihren stummen Wächter ignorieren, der seelenruhig im Kessel mit dem frischen Eintopf rührte, während sie immer noch nicht die Bilder von seiner Herrin und ihm aus dem Kopf bekam.
Die abstoßenden Szenen im Badezimmer waren unglücklicherweise erst der Anfang gewesen. Eine Art Aufwärmprogramm, um sich für die kommenden Strapazen des Tages zu wappnen. Von denen es am Ende viele gegeben hatte.
Val konnte sich immer noch nicht erklären, wie ein Mann es ohne Hilfsmittel fertigbrachte, solche Ausdauer an den Tag zu legen und dabei noch nicht einmal ins Schwitzen geriet. Glücklicherweise. Denn er roch auch so schon unangenehm nach dem Sex mit der Eiskönigin. Käme auch noch der Gestank eines ungewaschenen Männerkörpers hinzu, müsste sie sich wohl oder übel auf der Stelle übergeben.
Was das anging, verband sie keine besonders guten Erinnerungen mit diesem –
So vertieft in ihre düsteren Gedanken bemerkte Val zu spät die Anwesenheit des Hünen, der ihr eine Schale mit dampfendem Eintopf entgegenhielt.
Seinen schnellen Reflexen war es zu verdanken, dass der Becher, den sie dabei vor Schreck fallen ließ, nicht in die Brüche ging, sondern lediglich ein paar Tropfen des Quellwassers darin verschüttet wurden.
Vorsichtig stellte der Hüne ihn neben ihr auf der Bank ab und wartete darauf, dass Val die Schale mit dem Essen entgegennahm.
Sie war wie erstarrt. Ihr Blick dabei unverhohlen auf seine monströse Hand gerichtet, welche die kleine Holzschale hielt.
Wieder kamen Bilder des heutigen Tages in ihr hoch. Bilder, in denen eben jene Hand sich immer wieder erbarmungslos um den zarten Hals seiner Herrin geschlungen hatte, gerade nicht fest genug, um diese zu würgen, doch für einen unfreiwilligen Beobachter wie Val war das ein ziemlich brutaler Anblick.
Allerdings nicht nur das. Sondern auch die Art, mit welcher er die Eiskönigin immer wieder roh gepackt und aggressiv gefickt hatte. Stets an einer sehr schmalen Grenze entlangwandernd, auf deren anderen Seite Schmerz und Tod lauerten, wenn man wusste, wie stark dieser Mann in Wirklichkeit war und welchen gewaltigen Schaden er anrichten konnte.
Die Eiskönigin schien dieses Spiel mit der Gefahr zu lieben, doch in Val hatte der Anblick nur noch mehr die Angst vor dem Hünen geschürt, dem sie niemals auf diese Art und Weise begegnen wollte.
Er war nicht nur ein Monster, sondern auch ein verdammter Sexroboter!
Sowohl kalt und berechnend als auch wild und absolut gnadenlos.
Jede Handlung von ihm präzise ausgeführt, ohne sich vom Geschehen mitreißen zu lassen, während sein makelloser Körper wie eine gut geölte Maschinerie seiner Arbeit nachging.
Val hätte nicht einmal sagen können, ob oder wann er selbst zum Höhepunkt gekommen war. Nicht einmal dann, als sie ihre Blicke nicht mehr von diesem grotesken Schauspiel hatte abwenden können.
Da sie sich immer noch nicht bewegte, stellte der Hüne das Essen am Ende neben ihrem Becher auf der Bank ab und ging zur Feuerstelle zurück, vor der er für seine Verhältnisse überraschend schwerfällig niedersank.
Erst jetzt konnte Val wieder richtig aufatmen.
Während sie den köstlichen Duft des Eintopfs ignorierte, der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ und stattdessen den nackten Rücken des Hünen anstarrte, wusste Val die vielen Eindrücke nicht in Einklang zu bringen, die sie von diesem Mann hatte.
Auf der einen Seite kannte sie ihn als eiskalten Mörder, der ohne zu zögern ihre Freundin abgeschlachtet hatte. Als emotionsloser Sexroboter, der es seiner Herrin stundenlang richtig hart besorgen konnte, ohne ins Schwitzen zu geraten. Der Val bereits zweimal gnadenlos gefesselt und dabei tatenlos zugesehen hatte, wie man sie folterte.
Auf der anderen Seite war er dann wieder so wie jetzt – still und unaufdringlich kam er ihr mit freundlichen Gesten entgegen, ohne dass sie ihn darum gebeten hatte. Da war die Sache mit ihrem neuen Kleid, und dass er über ihre gestrige Tat stillschweigen bewahrt und Vals Freundinnen und ihr damit vermutlich das Leben gerettet hatte, dabei ohne zu zögern die Konsequenzen auf sich nehmend.
Das gestern ... war noch sehr viel schwerer einzuschätzen.
Er war so stark und unnahbar. Dabei auch noch so eiskalt, was das Töten anging, und doch hatte er sich ihr von einer Seite gezeigt, die sie davor und auch danach nicht mehr an ihm gesehen hatte. Sich ihr so offen ans Messer zu liefern – ihr dabei sogar zu helfen, ihn aufzuspießen – das passte überhaupt nicht zu dem Bild, das sie bisher von diesem Mann gewonnen hatte. Es war wirklich verdammt schwer, ihn einzuschätzen.
Zudem hatte Val sein Gesicht noch nie gesehen. Nicht einmal seine Augen, welche nicht umsonst als Tore zur Seele bezeichnet wurden.
Gerne hätte sie einmal einen flüchtigen Blick riskiert, um ihn so vielleicht besser –
Val fuhr so heftig auf der Bank zusammen, dass sie beinahe schon wieder ihren Becher mit dem Quellwasser verschüttet hätte. Dabei krallten sich ihre Hände so fest in das raue Holz unter ihr, dass sie sich dabei auch noch mehrere Fingernägel abriss.
Nichts davon kümmerte sie. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt schlagartig dem Hünen, der wie vom Blitz getroffen aufsprang und so schnell aus ihrem Sichtfeld verschwand, dass ihre Augen der Bewegung kaum folgen konnten.
Einen Herzschlag später fuhr sie bei dem darauffolgenden Höllenlärm so stark zusammen, dass sie beim Aufspringen nicht nur ihren Trinkbecher umstieß, sondern auch noch die Holzschüssel mit dem Eintopf auf dem Boden landete.
Es hatte sich so angehört, als hätte jemand einen Kochtopf mit voller Wucht auf den Steinboden geschleudert.
Während sie vor Schreck wie erstarrt mit ihrem Blick der Spur der dampfenden Brühe zu ihren nackten Füßen folgte, drang ein gänzlich anderer Laut sehr viel subtiler und doch unverkennbar vertraut an ihr Ohr. Einer, den sie schon unzählige Male gehört hatte, sie in diesem Augenblick jedoch an ihrem eigenen Verstand zweifeln ließ.
Jemand übergab sich.
Ziemlich heftig sogar.
Dieser jemand konnte eigentlich nur der Hüne sein. Was sie von ihm nun wirklich nicht erwartet hätte.
Entweder war er doch nicht so gefühlskalt, wie sie angenommen hatte, oder der heutige Eintopf war absolut nicht nach seinem Geschmack.
Val brauchte einen Moment, bis sie sich von dem Schrecken und der Überraschung erholt hatte, bevor sie so gut wie möglich mit den Fingern versuchte, das Malheur auf dem Boden zu beseitigen, um keinen Ärger mit der Sklaventreiberin zu riskieren. Währenddessen lauschte sie immer noch auf die Würgegeräusche des Hünen im Hintergrund, der offensichtlich nicht so schnell damit aufhören konnte, sich zu übergeben.
Eigentlich dürfte es nicht so schlimm sein, da sie beide heute den ganzen Tag über weder etwas gegessen noch getrunken hatten. Aber vielleicht lag seine Übelkeit auch an dem Flüssigkeitsmangel. Immerhin hatte er sich heute ziemlich anstrengen müssen. So etwas forderte nun einmal seinen Tribut. Selbst von einem so riesigen Kerl, wie er einer war.
Langsam und den Blick stets halb auf den kauernden Schatten einige Meter weiter gerichtet, bewegte Val sich so vorsichtig wie nur möglich durch den großen Raum, um nicht die Aufmerksamkeit des Hünen auf sich zu ziehen.
Er war zwar immer noch mit Würgen beschäftigt, aber er sollte dennoch nicht glauben, dass sie vorhatte, abzuhauen, obwohl das im Moment natürlich eine günstige Gelegenheit gewesen wäre. Von den anderen Wachen in der Villa abgesehen, die selbst nachts an bestimmten Punkten die Flure und Ausgänge bewachten, als befürchte die Eiskönigin, sie könnte jederzeit von einer Horde Meuchelmörder überfallen werden.
Völlig undenkbar war der Gedanke nicht. Immerhin hatte selbst Val schon mehrere Szenarien im Kopf, wie sie die Queen von ihrem Thron stürzen könnte. Leider scheiterte jede Idee grundsätzlich an der Tatsache, dass ständig ihr Wachhund in der Nähe war und sie niemals gegen ihn ankäme.
Selbst wenn er es einmal nicht war – so wie in diesem Augenblick – waren stets andere Wachen da, um die Eiskönigin zu beschützen. So einfach war an diese Frau also nicht heranzukommen, und ohne einen wirklich guten Plan würde Val nichts riskieren. Schon gar nicht das Leben ihrer verbliebenen Freundinnen.
Als sie den hölzernen Deckel von dem Bottich mit den Küchenabfällen anhob, schlug ihr der unangenehme Geruch von faulendem Essen so stark entgegen, dass Val die Luft anhalten musste, während sie ihren ungenießbar gewordenen Eintopf hineinschüttete.
Rasch schloss sie den Deckel wieder, ging ein paar Schritte zurück und atmete einmal tief durch. Der Gestank nach Erbrochenem war jedoch auch nicht wirklich besser.
Zum Glück war Vals Magen nicht allzu empfindlich, sonst hätte sie sich gleich dem Hünen anschließen können, aber so hungrig sie auch war, zumindest der Appetit war ihr für diesen Abend definitiv vergangen.
Unsicher, was genau sie jetzt tun sollte, blieb Val an Ort und Stelle und versuchte mit zusammengekniffenen Augen gegen die Schatten im Raum anzukämpfen, um den Hünen besser erkennen zu können.
Er kniete vor dem großen Steinbecken, das Val als antike Spüle bezeichnen würde. Zumindest wurde dort das Geschirr gewaschen, getrocknet und auf Hochglanz poliert.
Wenn sie ihre Augen nicht trogen, war er tief über eine der großen Obstschüsseln gebeugt, auf deren vergoldeter Oberfläche sich ab und an ein einzelner Lichtschein von einer der wenigen Fackeln im Raum brach.
Sich in das vergoldete Geschirr der Eiskönigin zu übergeben hatte auf jeden Fall Stil.
Val verging der Anflug von Humor jedoch sehr schnell wieder, als sie sah, wie sehr der Hüne mit seiner Übelkeit zu kämpfen hatte.
Zwischen dem reflexartigen Würgen hustete er sich die Seele aus dem Leib, bevor er schwer nach Atem rang und dieser unangenehme Kreislauf von vorne anfing.
Es hätte ihr gleichgültig sein sollen, dass er so litt. Genauso wie es ihm jedes Mal gleichgültig gewesen war, als sie gelitten hatte.
Viel mehr sollte sie seine Schwäche einfach ausnützen und gehen. Ihre Kammer fand sie auch ohne ihn, und etwas Schlaf würde ihr auf alle Fälle gut tun, nachdem sie in der letzten Nacht kaum ein Auge zugetan hatte.
Dennoch blieb Val, wo sie war, von dem grauenhaften Anblick nur allzu deutlich daran erinnert, wie es sich für sie selbst angefühlt hatte, während jeder ihrer sechs Schwangerschaften stets aufs Heftigste von Morgenübelkeit geplagt worden zu sein, die zu allen Tages- und Nachtzeichen hatte auftreten können. Wochenlang war es ihr beschissen ergangen. Sie hatte kaum etwas essen können, ohne es nicht innerhalb kürzester Zeit wieder hervorzuwürgen und dabei von Tag zu Tag schwächer zu werden. Trotz der zahlreichen Infusionen mit Flüssigkeit und lebenswichtigen Nährstoffen, die man ihr verabreicht hatte.
So etwas wünschte sie nicht einmal ihrem schlimmsten Feind.
Nicht einmal dem Mann, der ihr auf die eine oder andere Weise schon so viel Leid zugefügt hatte.
Der Entschluss, ihm zu helfen, fiel ihr am Ende daher sogar relativ leicht. Auch wenn Val nicht einmal wusste, ob er ihre Hilfe überhaupt annehmen würde. Aber momentan konnte er sich ohnehin kaum dagegen sträuben.
Bevor sie zu dem Hünen ging, machte Val einen kleinen Umweg, und stieß dabei hart gegen den metallischen Helm des Hünen, den sie in den immer dunkler werdenden Schatten am Boden nicht gesehen hatte.
Der Lärm war unbeschreiblich laut. So wie beim ersten Mal, als der Hüne ihn in seiner Not einfach von sich geworfen haben musste. Doch zum Glück rief der Krach auch dieses Mal keine der anderen Wachen auf den Plan.
Kurz massierte sich Val fluchend ihre schmerzenden Zehen, ehe sie ihren Weg zu den mit Quellwasser gefüllten Tongefäßen fortsetzte, dabei die schmutzige Holzschale loswurde und stattdessen eines der sauberen Geschirrtücher an sich nahm.
Sie füllte einen weiteren Becher mit frischem Wasser, benetzte den Stoff mit der kalten Flüssigkeit, bis er feucht genug war und ging dann zu dem Hünen hinüber, der ihr Tun sehr wohl bemerkt hatte und kaum, dass sie in seine Nähe kam, seinen Kopf noch weiter in die Schatten drehte, damit sie sein Gesicht nicht sehen konnte.
Was auch so schon schwer genug war, da das Licht der Fackeln kaum zu ihnen herüberreichte und ihm zudem auch noch ein Teil seines schwarzen Haares überraschend lang ins Gesicht hing, dort wo es sich aus dem Haarknoten in seinem Nacken gelöst hatte.
Lange konnte er sich ohnehin nicht vor ihr verstecken, denn schon musste er sich wieder tief über die Schüssel beugen und erneut würgen, ohne dass es tatsächlich etwas zu Tage beförderte. Mehr als unverdünnte Magensäure gab es da ohnehin nicht, das er hätte ausspucken können.
Noch einmal zögerte Val für einen Augenblick, ehe sie sich am Ende mit gebührendem Abstand neben dem Hünen kniete und ihm das angefeuchtete Tuch hinhielt, damit er sich erst einmal etwas das Gesicht säubern konnte.
Er brauchte eine Weile, bis er sich so weit gefangen hatte, um ihr einen flüchtigen Blick zuwerfen zu können.
Immer noch schwer atmend lehnte er sich schließlich mühsam etwas zurück, um seine Arme zu entlasten, auf die er sich bis jetzt schwer gestützt hatte. Dann, nach einem weiteren langen Zögern, griff er endlich nach dem Tuch in ihrer Hand.
An der Bewegung seiner Arme konnte Val nur allzu deutlich das Zittern darin erkennen und wie schwer es ihm fiel, diese überhaupt zu heben, während er sich übers ganze Gesicht wischte.
Das unproduktive Würgen musste ihm inzwischen ziemlich viel Kraft gekostet haben und es hörte selbst jetzt noch nicht auf.
Rasch warf der Hüne das schmutzige Geschirrtuch zur Seite, um sich erneut tief über die Obstschüssel zu beugen und ein weiteres Mal krampfhaft zu würgen.
Selbst in dem Dämmerlicht konnte Val die dunklen Flecken auf dem hellen Stoffstück erkennen. Was ihrem Wissen nach nur zwei Dinge bedeuten konnte: Entweder spuckte der Hüne Blut und hatte damit ein ziemlich ernsthaftes Problem am Hals, oder das waren noch die letzten Überbleibsel seiner heutigen Bestrafung, die Val ihm nicht hatte abwaschen können.
Dem Gefühl und den Anzeichen nach zu urteilen, würde sie eher auf Letzteres tippen, weshalb Val den Hünen auch nicht bedrängte, sondern wartete, bis er sich wieder halbwegs gefangen hatte und ihm dann den Becher mit dem Wasser hinstellte.
Dieses Mal zögerte er kaum noch, ehe er den Becher nahm und erst einmal seinen Mund gründlich mit dem Quellwasser ausspülte, bevor er den Rest in einem Zug hinunterkippte. Wozu Val ihm nicht unbedingt geraten hätte, da –
Wie zu erwarten gewesen war, kam das Wasser auch schon wieder retour, so dass sie ihrem Gegenüber schnell den Becher abnahm, bevor er ihn zerbrechen konnte.
Während seines weiteren Würgeanfalls stand sie auf und holte noch einmal frisches Wasser und ein neues Tuch, das sie dieses Mal so stark durchnässte, dass ihr auf ihrem Rückweg eine Spur aus Tropfen folgte.
Ohne zu sehr darüber nachzudenken, was sie da eigentlich tat, klatschte Val dem Hünen den nassen Stoff in den Nacken und hielt ihn dort fest, als dieser unter dem neuen Reiz überrascht zusammenfuhr. Bevor er allerdings auch noch auf andere Weise auf ihre Aktion reagieren konnte, hielt sie ihm den Becher mit dem Quellwasser hin und befahl überraschend sanft: „Langsam.“
Nein, sie hatte kein Mitleid mit dem Mörder ihrer Freundin, doch sie war kein Unmensch und ihre Neigung, anderen zu helfen, war bislang stärker als ihre persönlichen Gefühle.
Zugegeben, hätte sie es hierbei mit dem perversen Arschloch oder Gott bewahre, ihrem Stiefvater zu tun, wäre das etwas ganz anderes. Mit Sicherheit hätte sie das Leid der beiden ausgenutzt, um sie noch mehr leiden zu lassen. Was das anging, konnte kein noch so ehrbares Gefühl es mit dem verzehrenden Hass in ihrer Brust aufnehmen.
Was bedeutete, dass die beiden für sie sogar schlimmer als ihr schlimmster Feind sein mussten.
So ein herzensguter Mensch war sie wohl doch nicht, und vielleicht war genau das der Grund dafür, warum sie am Ende in dieser Hölle gelandet war.
Zum Glück befolgte der Hüne ihren Rat bezüglich seines Trinkverhaltens und nahm dieses Mal nur kleine Schlucke von dem Quellwasser, anstatt alles auf einmal hinunterzukippen.
Der feuchte Stoff in seinem Nacken wurde schnell warm, so dass Val es sich mühsam verkneifen musste, auch noch ihre Hand an die Stirn des Hünen zu legen, um seine Temperatur zu fühlen. Das ging nun wirklich zu weit, vor allem, wenn man bedachte, dass er bereits gezwungen worden war, seinen Helm abzunehmen. Was ihn große Überwindung gekostet haben musste, da er immer noch sehr offensichtlich versuchte, sich ihren Blicken wenn möglich zu entziehen. Warum auch immer.
Weder das feuchte Tuch noch das frische Wasser würden ihm großartig dabei helfen, seine Übelkeit zu bekämpfen. Ingwer wäre bei Weitem wirksamer gewesen, doch bezweifelte Val stark, dass sie hier auch nur ein Blatt davon finden würde, geschweige denn eine ganze Wurzel.
Neben den gängigen Medikamenten – an die sie hier sowieso nicht rankam – fiel ihr noch ein weiteres Mittel gegen Übelkeit ein, das selbst ihr bisweilen etwas Linderung verschafft hatte. Nur war sie sich nicht sicher, ob sie diese Methode wirklich an ihm anwenden wollte, einmal davon abgesehen, dass sie das Einverständnis des Hünen bräuchte und auch da war Val sich nicht sicher, ob sie es so ohne Weiteres von ihm bekommen würde.
Langsam, um keinen weiteren Würgereflex heraufzubeschwören, drehte sie erst einmal das Geschirrtuch in seinem Nacken um, damit die kühlere Seite wieder auf seiner Haut lag, wobei ihr keinesfalls das Zittern unter ihren Fingern oder die Hitze seines Körpers entging.
Hitze, die sie heute schon einmal mehr als deutlich unter ihren Händen gefühlt hatte, als sie –
Hastig zog Val ihre Hand von ihm weg und trat einen Schritt zurück, als ihr wieder allzu deutlich die Geschehnisse des heutigen Tages in Erinnerung gerufen wurden, die sie bis gerade eben erfolgreich verdrängt hatte.
Sollte ihr zuvor noch nicht beim Geruch von Erbrochenem schlecht geworden sein, so reichten zumindest diese lebhaften Erinnerungsfetzen dazu aus, um ihr nun doch fast den Magen umzudrehen.
Selbst jetzt noch waren die Bilder in ihrem Kopf absolut widerlich und verstörend zugleich, während sie sich kaum zur Seite schieben ließen. Da half es auch nicht, dass sich der Hüne just in diesem Moment erneut übergeben musste und dabei tatsächlich der leere Tonbecher in die Brüche ging, als er ihn einfach fallenließ.
„Ja, ich hab’s inzwischen kapiert. Ich finde das alles auch total zum Kotzen!“
Val stieß einen frustrierten Laut aus, der mehr der unangenehmen Situation galt, als dem Hünen selbst. Der bei ihren Worten überraschend heftig zusammengezuckt war.
Da er schließlich nichts für die Übelkeit konnte und dass diese ihn so heftig mitnahm, fügte sie kurz darauf wesentlich ruhiger und in entschuldigendem Tonfall hinzu: „Tut mir leid. Das ... war nicht fair.“
Zwar verstand er mit Sicherheit keines ihrer Worte, aber sie wollte es dennoch gesagt haben. Denn gerade jetzt war der Hüne weder kalt, noch aggressiv, noch brutal oder sonst irgendwie furchteinflößend. Das einzig Verstörende an dieser Situation war, ihn so hilflos zu sehen. Ein Umstand, mit dem Val überhaupt nicht richtig umgehen konnte, brachte sie das doch immerhin in eine ziemlich missliche Lage.
Er war ein Mörder, verdammt noch mal, und kein bemitleidenswerter Patient!
Doch selbst das hatte sie früher nicht davon abhalten können, ihren Job richtig zu erledigen, stand es ihr als Ärztin doch überhaupt nicht zu, über den Menschen zu urteilen, den sie behandelte.
Auch jetzt sollten seine Taten keinerlei Rolle dabei spielen, so persönlich sie Val auch betrafen. Es würde diese unangenehme Situation ohnehin nur unnötig in die Länge ziehen, denn so einfach alles stehen- und liegenlassen und in ihre Kammer zurückkehren konnte sie nicht.
Davon abgesehen wusste sie auch nicht, ob der Hüne es ihr trotz seiner Kotzerei auch so einfach erlauben würde. – Nein, Erbrechen alleine würde ihn bestimmt nicht davon abhalten, ihr zu folgen. Da war sie sich mit einem Mal absolut sicher.
Val sollte also dafür sorgen, dass er sich so schnell wie möglich wieder fing, um dem Ganzen hier endlich ein Ende zu bereiten. An Schlaf war bei den vielen Bildern, die durch ihren Kopf spukten, zwar nicht wirklich zu denken, aber sie hätte dann zumindest ihre wohlverdiente Ruhe.
So sehr es ihr auch widerstrebte, im Moment hatte sie kaum eine andere Wahl, als Vanadis' Mörder zu helfen. Also schob Val die Bruchstücke des Tonbechers vorsichtig zur Seite und kniete sich erneut neben den Hünen, dabei so gut es eben ging den Gestank nach Erbrochenem und intensivem Sex ignorierend.
Sie wartete, bis sich sein Atem wieder etwas beruhigt hatte, um anschließend nach eben jener Hand zu greifen, die ihr so viel Unbehagen bereitete, dass Val im Grunde genommen gar nicht damit in Berührung kommen wollte, obwohl weder Vanadis' Blut noch irgendwelche Hinterlassenschaften der Eiskönigin daran klebten. Immerhin hatte der Hüne sich seine Hände kurz nach dem Betreten der Küche überaus gründlich gewaschen. Beinahe schon exzessiv, wenn sie im Nachhinein so darüber nachdachte.
Fast wäre Val mit seinem Körper kollidiert, als der Hüne seine Hand so schnell wegzuziehen versuchte, als würde ihre Berührung ihn regelrecht verbrennen, und sie ihn nicht schnell genug wieder loslassen konnte.
Im letzten Moment fing Val sich jedoch noch mit der anderen Hand an seiner Schulter ab, um auf Abstand zu bleiben, löste rasch ihre Finger von seiner Hand und wich erschrocken vor ihm zurück.
Dabei plumpste sie ziemlich unelegant auf ihren Hintern, während sie den Hünen mit offenem Mund anstarrte, der ebenfalls vor ihr zurückgewichen war – kaum weniger erschrocken als sie selbst.
Zwar konnte Val die Gesichtszüge des Mannes vor ihr immer noch nicht richtig erkennen, da ihm seine Haare auch jetzt noch ins Gesicht hingen und tiefe Schatten warfen, dennoch blitzten seine Augen aus der Dunkelheit hervor.
Augen, die so weiß waren, dass Val keine Pupillen erkennen konnte.
War der Hüne etwa blind?
Nein, das war nicht möglich. Denn wäre er tatsächlich blind, könnte er wohl kaum die Dinge tun, die er eben so machte, wie zum Beispiel: Mädchen köpfen, seine Herrin in allen erdenklichen Stellungen ficken oder Val fesseln, um sie anschließend grausamer Folter preiszugeben.
Ganz zu schweigen davon, dass er sich nicht wie ein Blinder ohne Stock bewegte, sich auch nicht erst tastend an Gegenstände heranwagen musste und vorhin, vor der ganzen Kotzerei, hatte er ihren Trinkbecher problemlos aus der Luft abgefangen. Kein Blinder könnte das. Val musste sich also irren.
Trotzdem sah sie, was sie eben sah, bevor der Hüne ihr jeden weiteren Blick auf seine Augen nahm, indem er das Gesicht in seiner Hand verbarg und sich von ihr wegdrehte.
Zumindest schien er seine Übelkeit vorübergehend vergessen zu haben.
***
Alexeys ganzer Körper schmerzte. Angefangen von dem quälenden Gefühl in seinen Lenden, nachdem Hedera ihn gefühlte Stunden hatte hart bleiben lassen, ohne seinem unwilligen Fleisch wenigstens ein paar Minuten der Entspannung und Erholung zu gönnen. Gefolgt von den schmerzenden Muskeln in seinem Bauch, die dank des heftigen Würgereflexes stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren, bis hin zu den pochenden Schmerzen in seinem Kopf, der sich anfühlte, als könnte er jeden Moment platzen.
Doch kein Schmerz war so unerträglich wie der in seiner Brust, der sich bis in seine gereizte Kehle hinaufwand und ihm als stacheliger Kloß im Halse steckenblieb.
Valeria sah ihn an. Blickte Alexey offen in die Augen, obschon sie bei dem Dämmerlicht kaum mehr als er selbst erkennen dürfte, da sie ein Mensch war und sich seine Augen noch immer nicht vollständig erholt hatten.
Doch gerade in diesem Moment, da er sich nicht länger im Schutze seines Helms verbergen konnte, fühlte er ihren Blick umso intensiver auf sich und zugleich war ihm, als könne sie ihm bis auf seine vor Schmutz triefende Seele blicken.
Alexey musste sich von ihr abwenden, sich vor ihrem Blick schützen und zugleich das widerspenstige Gefühl in sich niederringen, das ihre sanfte Berührung auf seiner Haut ausgelöst hatte.
Immer noch vermochte er nicht zu verstehen, weshalb sie ihm beistand, ihm nahe war und sich um ihn kümmerte, anstatt seine Schwäche auszunutzen.
Angst fraß sich in sein Herz, dass sie all das lediglich tat, um ihm näher sein und dadurch noch heftiger zuschlagen zu können.
Bei den Göttern, er hätte es verdient. Nicht umsonst hatte er sich ihr schon einmal unterworfen, um ihr die Möglichkeit zu geben, sich an ihm für den Tod ihrer Freundin zu rächen. Er wünschte es sich. Sehnte sich regelrecht danach und zugleich hatte er Angst, dass sie es tatsächlich tun könnte.
Nicht etwa, weil er den Tod fürchtete, sondern viel mehr das Wissen darüber, wie sehr Valeria ihn hassen und verabscheuen musste, um das überhaupt tun zu können.
Nach allem, was er inzwischen über sie wusste, war ihm nur zu deutlich bewusst, dass sie ein guter Mensch war, der andere beschützte, anstatt ihnen mutwillig zu schaden. Abgesehen von jenen, die es tatsächlich verdient hatten.
Bei allen anderen war es Alexey gleich, was sie über ihn sagten oder dachten, egal wie sehr man ihn verachtete, doch nicht bei ihr. Nicht bei der kleinen Kriegerin.
Ihren Hass, ihren Ekel und ihre Abscheu auf sich zu spüren traf ihn genau an jener verwundbaren Stelle, an die bisher nie jemand herangekommen war. Selbst Hedera nicht, obwohl sie sich seit Jahrhunderten redlich darum bemühte.
Diese Tatsache und das Wissen darüber, was Valeria am heutigen Tage alles hatte mit ansehen müssen, ließen ihn noch mehr verzweifeln und brachten zugleich eine weitere Welle an Übelkeit mit sich, der Alexey sich nicht länger widersetzen konnte.
Wieder musste er sich über der Schüssel auf seine zittrigen Arme abstützen, die bisher den dürftigen Inhalt seines Magens aufgefangen hatte, ehe eine weitere Welle an Würgekrämpfen jegliche Gedanken für den Moment vertrieben, bevor er sich hustend und nach Atem ringend erneut etwas weiter aufrichten.
Als er abermals Valerias Finger zusammen mit dem kühlenden Stoff in seinem Nacken spürte, wurde der Schmerz in seiner Kehle und seinen brennenden Augen so schlimm, dass er beinahe aus ihm hervorbrach.
Unfähig, sich unter der fürsorglichen Berührung ihrer Hände zu bewegen, erstarrte Alexey noch mehr, als sie ihm schließlich auch noch die Haare aus dem Gesicht strich und in seinem Nacken festhielt.
Bei jedem seiner schweren Atemzüge konnte er den Duft ihres warmen Körpers und vor allem den nach Jasmin sowohl riechen, als auch schwach schmecken. Doch beides war nicht stark genug, um den Gestank nach Erbrochenem und vor allem dem nach Hederas Lust zu überdecken.
Schon der Gedanke an Hedera allein und was sie alles vor Valerias Augen von ihm gefordert hatte, ließ ihn sich wünschen, die kleine Kriegerin möge ihre Hände von ihm nehmen, um sie nicht an ihm zu beschmutzen.
Sich ihr entziehen und damit ihre gut gemeinte Geste zurückweisen, konnte er jedoch nicht, obwohl diese sowohl Trost als auch Qual zugleich war.
Alexeys Übelkeit verstärkte sich ein weiteres Mal, bis sie ihn erneut übermannte.
Dieses Mal dauerte es noch länger, bis er sich wieder einigermaßen davon erholte.
Er konnte sich kaum noch aufrecht halten und zugleich drohte eine fatale Schwäche ihn zu überwältigen, die ihn sich wünschen ließ, er könne sich einfach zurück und gegen den warmen Körper der kleinen Kriegerin lehnen, die Augen schließen und sich ihr ergeben.
Alexey war des Kämpfens so unfassbar müde, dass er am liebsten einfach aufgegeben hätte.
Einige tiefe Atemzüge lang war ihm sogar so etwas wie Ruhe vergönnt, ehe Valerias unerwartete Berührung an seiner Schulter ihn zusammenzucken und vor ihr zurückschrecken ließ.
Nicht die Berührung selbst war ihm unangenehm, sondern viel mehr das Wissen darüber, dass er noch keine Gelegenheit gehabt hatte, sich von Hedera reinzuwaschen.
Nur allzu deutlich hatte er vorhin Valerias Abscheu und Ekel vor ihm gewittert, als er ihr etwas zu Essen gebracht hatte, umso mehr scheute er nun eine direkte Berührung von ihr, gerade weil jene Gefühle am Ende der Auslöser für seine unbeschreibliche Übelkeit gewesen waren, die ihn immer noch fest im Griff hatte.
Zwar konnte Alexey nichts mehr dergleichen an der kleinen Kriegerin wittern, dennoch war es schwer, ihre verständliche Reaktion auf ihn so einfach zu vergessen. Weshalb er sich ihr auch schließlich zur Gänze entzog, bevor sie es tun konnte.
„Bitte. Ich ... dir helfen ...“
Der leise Klang ihrer sanften Stimme traf ihn härter als Hederas magische Schläge.
So überaus mächtig der Drang auch war, sich zu Valeria herumzudrehen und ihr ins Gesicht zu blicken, um dort entweder die Wahrheit oder eine Lüge von ihren Zügen lesen zu können, Alexey wagte es nicht. Denn dann hätte sie vermutlich mehr gesehen, als gut für sie war und mehr, als er von seinen Gefühlen vor ihr preisgeben wollte.
Dennoch ließ er seine erstarrte Haltung schließlich zögerlich ein Stück weit fallen und kam ihr zumindest dahingehend etwas entgegen, dass er sich nicht vollends von der kleinen Kriegerin abwandte.
***
Der Vergleich mit einem verwundeten Tier wollte sich Val aufdrängen, obwohl der Mann vor ihr natürlich alles andere als das war. Doch es war die zurückhaltende und unsichere Art, wie er sich gab und wie er sich bewegte, die letztendlich auch die letzten Mauern des Widerstands in ihr einriss und noch mehr ihr Mitgefühl auf den Plan rief.
Zugegebenermaßen appellierten auch sein mitleiderregender Zustand und der Umstand seiner offensichtlichen Sehschwäche an ihre eher sanfteren Gefühle.
Inzwischen war Val zu dem Schluss gekommen, dass der Hüne vielleicht nicht vollkommen blind war, doch so getrübt, wie seine Augen aussahen, war sein Sehvermögen mit Sicherheit massiv eingeschränkt und dennoch ließ er sich nichts davon anmerken.
In einer Hölle wie dieser mit solch einem Makel behaftet zu sein, war sicherlich nicht leicht. Ganz im Gegenteil, Val wunderte es, wie er überhaupt so lange an der Seite der Eiskönigin durchgehalten hatte.
Ob das Weib von seiner Schwäche wusste?
Mit Sicherheit sogar. Es würde sie nicht einmal wundern, wenn er genau aus diesem Grund diesen abscheulichen Helm tragen musste.
Doch eigentlich war das im Moment vollkommen unwichtig. Der Hüne litt und das von Mal zu Mal mehr, so dass Val einen weiteren Versuch startete, ihm zu helfen. Dieses Mal nicht, um schneller ins Bett zu kommen, sondern weil sie ihm tatsächlich helfen wollte.
Denn seine mangelnde Sehkraft rückte zumindest ein paar seiner Taten in ein anderes Licht. Val glaubte sogar, ihn nun etwas besser verstehen zu können, und warum er sich seiner Herrin nicht so einfach widersetzte.
Am Ende war er wohl doch nicht in der Lage dazu und saß ebenso an diesem Ort fest, wie sie es tat. Ob er es nun wollte oder nicht.
Langsam, um ihn nicht noch einmal zu erschrecken, kniete Val sich erneut neben den Hünen und streckte ihre linke Hand aus, ohne jedoch etwas von ihm zu fordern. Die Geste war auch so eindeutig genug, und sie überließ es ihm, darauf einzugehen oder sie auszuschlagen.
Er zögerte. Sehr lange sogar. Bis er erneut würgen und sich erst wieder mühsam davon erholen musste.
Danach war er schwächer als je zuvor. Das verrieten nicht nur sein schwerer Atem und das deutliche Wanken seines Körpers, sondern auch seine zittrige Hand, die der Hüne schließlich kapitulierend in ihre legte.
Sie war immer noch so warm und so groß, wie Val sie in Erinnerung hatte, aber keinesfalls monströs, obwohl sie immer noch überaus kräftig auf sie wirkte.
Dennoch ließ er sie das Gewicht seiner Hand kaum spüren, sodass es bei einer sanften Berührung von Haut auf Haut blieb und Val nicht an die schrecklichen Dinge erinnert wurde, zu denen diese Hand durchaus fähig gewesen wäre.
Ohne zu zögern und um einem weiteren Würgereiz zuvorzukommen, legte Val ihre rechte Hand auf die des Hünen und drehte diese so herum, dass sein Handrücken auf der Innenseite ihrer linken Hand zum Erliegen kam und sie beide auf ihrem Oberschenkel ablegen konnte.
Danach legte sie den Daumen ihrer rechten Hand auf die Handgelenksfalte des Hünen und maß damit die geschätzte Distanz bis zu dem Akupressur-Punkt Perikard 6 ab, den sie sanft aber bestimmt zu drücken begann.
Eine Gänsehaut erwachte unter Vals Fingern zum Leben, während sie auf die erhoffte Linderung seiner Übelkeit wartete und ob er von einem weiteren Würgereiz gepeinigt wurde.
Es war überraschend, wie intensiv der Mann vor ihr auf eine so einfache Berührung ihrer Hände reagierte, vor allem, wenn man bedachte, dass er eigentlich sehr viel härteren Umgang gewöhnt war.
Da Val auch jetzt nicht an die Ereignisse des heutigen Tages denken wollte, konzentrierte sie sich ausschließlich auf das Gefühl seiner Wärme unter ihren Fingern und seine immer regelmäßigeren Atemzügen.
Eine Minute verging. Dann eine weitere und noch eine.
Als der Hüne seine unbequeme Haltung auf den Knien schließlich aufgab und sich etwas entspannter hinsetzte, glaubte Val, dass ihre Behandlung tatsächlich Wirkung zeigte, wagte jedoch nicht, schon jetzt ihre Finger von dem Punkt zu nehmen, der ihm so deutlich Linderung verschaffte.
Stattdessen hob sie ihren Blick von ihren Händen und ertappte den Hünen dabei, wie er seinen eigenen rasch von ihr abwandte, so als wäre es ihm unangenehm, dabei erwischt worden zu sein, wie er sie beobachtete.
Oder er wollte auch jetzt nicht, dass sie sein Gesicht sah, was sie ihm keinesfalls nachtrug.
Schließlich, als inzwischen bestimmt mehr als zehn Minuten vergangen sein mussten, in denen der Hüne sich nicht mehr übergeben hatte, löste Val langsam ihren Daumen von dem Punkt an seinem Unterarm, den sie schon die ganze Zeit über gedrückt hatte, und strich ein paar Mal sanft darüber, bevor sie sich von ihm zu lösen begann.
Als die Hand des Hünen ihre eigene einfing, bevor sie diese ganz zurückziehen konnte, wurde Val unerwartet von einem Adrenalinschub durchflutet, während ihr Herz wie wild zu schlagen begann.
„Hab dank ... Valeria ...“
Sie erstarrte.
Es waren nur drei simple Worte – kaum wahrnehmbar geflüstert – dennoch lösten sie in Val so viele unterschiedliche Gefühle auf einmal aus, dass sie sofort aufsprang, nachdem der Hüne sie losgelassen hatte und erst einmal Abstand zwischen ihm und sich bringen musste.
Es war geradezu lächerlich, wie sie auf seinen Dank reagierte und auch völlig unangebracht. Aber es änderte nichts an der Tatsache, dass sie sich vollkommen aufgewühlt fühlte, ganz so, als hätte er mehr getan, als sich einfach nur bei ihr zu bedanken.
Es war ... Es fühlte sich so an, als hätten die Worte eine Art Mauer zwischen ihnen beiden durchbrochen. Eine unüberwindbare Mauer der Distanz, die verständlicherweise zwischen ihnen hatte entstehen müssen, nach allem, was geschehen war ...
Nach allem, was er getan hatte ... Es fühlte sich ... verdammt intim an, so absurd das auch klang. Vor allem ... Er kannte ihren Namen ...
Seiner war Val vollkommen fremd, da weder die Eiskönigin noch jemand anderes ihn je ausgesprochen hatte und bisher war das auch überhaupt nicht wichtig gewesen, aber jetzt ...
Nein, auch jetzt war es nicht weiter von Bedeutung. Ganz im Gegenteil war es Val schon zu viel, dass er ihren Namen kannte und mit ihr geredet hatte.
Sein Schweigen war ihr im Grunde genommen sogar ganz angenehm gewesen, hatte es für sie genau jene Distanz zwischen ihnen beiden geschaffen, die ihr seine Nähe, nach allem was vorgefallen war, erträglich machte.
Selbst der dämonische Helm, den er die meiste Zeit über trug, half ihr dabei, ihn und seine Präsenz nicht zu nahe an sich heranzulassen, da sie dadurch auch nicht seine Gefühle in seinem Gesicht ablesen konnte und er für sie somit unnahbar blieb.
Natürlich war er als Mensch und vor allem als Person nicht zu ignorieren, doch gerade das vollkommene Fehlen seiner Gefühle machte es Val am Ende irgendwie leichter, ihn ihrer eigenen Vorstellung ... zu unterwerfen.
Ihn als Monster und somit als den Bösen zu sehen. Als den Wachhund der Eiskönigin. Als einen Henker oder eben als einen von Vals Patienten. Aber nie ... wirklich niemals sah sie in ihm ... ihn selbst ...
Es ... machte das Ganze für sie so viel ... einfacher ...
Vals Gedanken kamen zum Erliegen, als ihr plötzlich die Tragweite ihrer eigenen Gedanken und Gefühle bewusst wurde.
Vorhin noch, bevor der Hüne aufgesprungen war, um sich zu übergeben, hatte sie noch darüber nachgedacht, dass sie die Dinge, die sie über ihn wusste, nicht in Einklang bringen konnte, so widersprüchlich, wie sie waren.
Sie hatte es sich sogar gewünscht, eine Gefühlsregung, egal welcher Art, von ihm zu bekommen, um ihn besser einschätzen zu können und nun, da sich ihr Wunsch, wenn auch auf etwas andere Weise als erwartet, erfüllt hatte, musste Val feststellen, dass sie nicht damit umgehen konnte.
Sie selbst versteckte sich die ganze Zeit über schon hinter ihren eigenen Masken, um sich zu schützen. Mal war sie eine unschuldige Gefangene, mal das Opfer, mal die Beschützerin oder Freundin, mal eine Kämpferin oder wie vorhin eben eine Ärztin.
Nie war sie wirklich sie selbst, und als der Hüne sie bei ihrem vollen Namen genannt hatte, da ...
Es hatte sie ... berührt ...
Nein, er hatte sie berührt. Auf eine Weise, die ihr ... nicht geheuer war.
Kore und Ceara nannten sie ständig bei ihrem Namen, doch das war etwas völlig anderes.
Val wusste nicht, warum es bei dem Hünen so anders war. Sie wusste nur, dass es so war und ihr das nicht unbedingt gefiel.
Vermutlich war das auch der Grund, weshalb Val nur leicht zusammenzuckte, als der Hüne nach einer Weile auf sie zu trat und eine Welle von Erleichterung sie beim Anblick der dämonischen Fratze durchflutete, nachdem er seinen Helm wieder aufgesetzt hatte.
Diese Reaktion auf seinen Anblick war so bizarr, dass sie beinahe über ihre eigenen Gedanken lachen musste, stattdessen war sie einfach nur froh, als der Hüne sie endlich aus dieser verdammten Küche und zu ihrer Schlafkammer führte, ganz so, als wäre nie etwas zwischen ihnen beiden vorgefallen.
Er machte es ihr damit so verdammt leicht und es war wirklich unglaublich verlockend, wieder in ihre Rolle als seine Gefangene zu schlüpfen, doch das war sie nun einmal nicht. Genauso wenig wie der Mann vor ihr ohne Gefühle und frei von jedweder Moral war, wie sie durch seinen Dank nun wusste.
Natürlich war es leichter, so zu tun, als wäre nie etwas zwischen ihnen beiden vorgefallen. Ihn stattdessen auch weiterhin immer wieder für die schrecklichen Dinge, die er tat, zu verurteilen, ohne kaum dabei jene Handlungen zu berücksichtigen, welche er ausführte, die ihm nicht befohlen worden waren. Also von ihm selbst kamen und aus freiem Willen geschahen.
Doch es entsprach nicht Vals Art, einfach wegzulaufen, wenn es schwierig wurde. Weshalb sie schließlich zögerte, die Tür zu ihrer Schlafkammer zu öffnen und sich stattdessen noch einmal zu dem Hünen herumdrehte.
Es war wirklich nicht leicht, ihn offen anzusehen, selbst mit der metallenen Fratze nicht, doch schließlich nahm Val all ihren Mut zusammen und tat das einzig Richtige.
„Danke für ... Kleid und ...“ Ihr wollten partout nicht die richtigen Worte für sein Schweigen einfallen, das sowohl sie als auch ihre Freundinnen vor einer Strafe bewahrt hatte, weshalb Val schließlich ihren Zeigefinger bedeutungsschwer an ihre Lippen legte und schließlich lächelte.
Der Hüne neigte daraufhin ergeben sein Haupt. Er schien verstanden zu haben.
Nun, da alles gesagt war, was sie hatte sagen wollen, wandte Val sich von ihm ab und öffnete die Tür.
Doch bevor sie hindurchgehen und ihr Begleiter im Dämmerlicht des steinernen Flurs verschwinden konnte, folgte Val einem weiteren Impuls, indem sie die Tür wieder leise zuzog, und dem Hünen hinterherrief: „Warte!“
Obwohl sie es nicht besonders laut gesagt hatte und er schon einige Meter weiter weg war, blieb er stehen und drehte sich halb zu ihr um.
Kurz zögerte Val, ehe sie sich einen Ruck gab, da sie jetzt ohnehin nicht mehr zurückkonnte, und kam ihm ein paar Schritte entgegen.
Mit wild klopfendem Herzen zwang sie sich dazu, den Mund zu öffnen, und auszusprechen, was ihr gerade eben noch durch den Kopf geschossen war, obwohl sie wenige Minuten davor noch angenommen hatte, dass es für sie nicht von Bedeutung wäre.
Wie viel es ihr tatsächlich bedeutete, machte die unerträgliche Stille zwischen ihnen beiden umso deutlicher klar, nachdem Val den Hünen nach seinem Namen gefragt hatte.
Beinahe schien es, als ob er ihr überhaupt nicht mehr antworten und stattdessen lieber gehen wollte. Doch schließlich, nachdem er einmal tief Luft geholt hatte, sagte er leise, aber trotz des Helms gut verständlich mit volltönender Stimme: „Alexey.“
Danach drehte er sich um und ging.