Das Erste, was Val wahrnahm, nachdem sie eigentlich tot sein müsste, war der köstliche Geschmack in ihrem Mund. Das Gemisch aus vollreifen Beeren, Zartbitterschokolade und Chili hatte nicht wirklich einen Namen. Zumindest keinen offiziellen. Für sie hieß er einfach – Alexey. Besser gesagt, war es der Geschmack seines Blutes, wie Val inzwischen wusste, obwohl sie noch nicht oft davon zu kosten bekommen hatte. Doch das eine Mal, als sie Unmengen davon hatte trinken müssen, sodass sie danach in einen ausgewachsenen Drogenrausch versunken war, hatte sich eingeprägt.
Val leckte sich träge über die Lippen und schluckte ein paar Mal. Dabei war sie sich nicht ganz sicher, ob sie einfach nur den Geschmack loswerden oder mehr davon haben wollte. Letzteres war allerdings vollkommen absurd. Sie hatte wirklich kein Verlangen danach, Blut zu trinken und schon gar nicht das von Alexey. Was sie wieder darauf zurückbrachte, warum sie überhaupt diesen Geschmack im Mund hatte.
Vals Gehirn kam nur äußerst langsam in die Gänge und versorgte sie zunächst nicht gerade mit einer anschaulichen Flut an Informationen, welche die vergangenen Ereignisse wiedergaben. Es war eher wie das Stottern eines Motors, der bei Frost nicht richtig anspringen wollte. Bilder, Gerüche, Eindrücke kamen nur in winzigen Krümeln zurück. Als würde ihr Hirn sie aushusten und sie müsste die einzelnen Teile dann wie bei einem Puzzle erst einmal zusammenfügen, damit sie einen Sinn ergaben.
Da war diese Tür, die sie von außen inzwischen besser kannte, als sie je eine Tür kennengelernt hatte. Die Farbe des Holzes, die Maserung, verwitterte Stellen, die Metallbeschläge, die sie in den Angeln hielten. Das Holz hatte alt und ein wenig staubig gerochen, doch das Alter hatte der Tür nichts anhaben können. Sie war immer noch massiv genug, um …
Vals Gehirn hustete ein weiteres Mal. Spuckte einen ganzen Patzen an Eindrücken aus. Beunruhigende Geräusche. Ein unmenschliches Jaulen. Etwas Großes, das sich gegen die Tür warf und sie in den Angeln erzittern ließ. Ein vertrauter Duft, der durch die Ritzen zu ihr drang und ihre Sinne vernebelte.
Eine ganze Serie an Stotterern folgte, als würde sich ihr Gehirn langsam doch dazu entschließen, anspringen zu wollen. Also gab sie ein wenig Gas, indem sie sich auf das Wesen hinter der Tür konzentrierte.
Gespräche. Worte in verschiedenen Sprachen. Die vertraute Stimme so schwach … Schwäche … Blutdurst … Blut …
Scheiße!
Val fuhr erschrocken hoch, wobei sie ihre Hand so hart an ihren Hals klatschte, dass es sich anhörte, als wollte sie eine Fliege erschlagen. Ihr wurde sofort schwindlig, als sie ihre Position so abrupt veränderte, doch sie hielt sich mit dem anderen Arm an ihren aufgestellten Beinen fest und versuchte mit aller Gewalt nicht ohnmächtig zu werden.
Ihre Finger tasteten dabei hektisch an ihrem Hals herum, an genau der Stelle, die von Zähnen aufgerissen worden war. Allerdings fühlte sie nur glatte, unversehrte Haut, und da sie schon dabei war, prüfte sie auch gleich ihren Puls. Ein wenig langsam, bedachte man, dass ihre Nebennieren gerade Adrenalin in rauen Mengen ausschütteten. Wahrscheinlich war ihr Blutdruck auch im Keller, doch sie lebte ganz eindeutig, oder was auch immer das war, das sie in diesem mädchenhaften Körper hielt.
Val gestattete sich einen Moment, um sich zu sammeln, indem sie sich übers Gesicht strich und einmal tief durchatmete. Dabei wurde ihr erst jetzt wirklich bewusst, dass sie nicht nur überall Alexey riechen konnte, sondern im Raum auch der schwere Geruch von verbrannten Kräutern hing.
Noch ein wenig langsam, obwohl ihr Hirn nun eindeutig warm zu laufen begann, drehte sie den Kopf zur Seite und erkannte, dass sie in Alexeys Kammer war. Genauer gesagt, saß sie auf seinem Bett. Nackt. Nur von einer Decke geschützt, die ihr bis zu den Hüften runter gerutscht war. Wieder war ein Feuerbecken mit heißlodernden Flammen neben dem Bett aufgestellt, das sie wärmen sollte. Ein seltsames Gefühl von Déjà-vu überkam Val, da sie schon einmal in der gleichen Ausgangssituation gewesen war. Nach einer ebenso schlimmen Nacht.
Val beugte sich noch ein wenig weiter nach vorne, nachdem der Schwindel nachgelassen hatte, um an dem Feuerbecken vorbei sehen zu können, obwohl sie sofort registriert hatte, dass dieses Mal kein Badezuber in der Mitte des Raums stand, der ungewöhnlich sauber auf sie wirkte. Als wäre eine ganze Putzkolonne mit Zahnbürsten angerückt, um auch jede noch so kleine Ritze von Schmutzpartikeln zu befreien.
Wie sie erwartet hatte, war sie nicht alleine, sondern Alexey war bei ihr. Er saß dort am Boden, wo beim letzten Mal der Badezuber gestanden hatte. Nackt und schmutzig und vollkommen reglos.
Val schauderte es. Eigentlich hätte sie darüber froh sein müssen, dass sein Rücken so viel besser aussah. Zwar ließ sich das unter der Schmutzschicht nicht so leicht sagen, aber es wirkte auf sie, als wäre er vollkommen geheilt. Eine Tatsache, die sie erleichtern sollte, doch tatsächlich erfasste Val ein immer stärker werdendes Gefühl der Beklemmung, während sie die Decke um ihren Körper wickelte und die schwachen Beine über den Rand des Bettes schob, um leise aufzustehen.
Es war Alexeys Reglosigkeit und dass er mit dem Rücken zu ihr dasaß, was ihr immer größere Angst machte. Sie kam sich vor, wie in einem dieser schlechten Horrorfilme, wo ein Darsteller oder eine Darstellerin sich langsam der Person am Boden näherte, obwohl man als Zuseher rief, dass sie verdammt noch mal umdrehen und davon laufen sollten. Was die Leute in den Filmen natürlich nie taten. Nein, wie auch Val jetzt gingen sie vorsichtig näher und streckten die Hand aus, um …
Alexey fuhr nicht mit gebleckten Reißzähnen, blutverschmiertem Mund und mit Eingeweiden in den Händen zu ihr herum, nachdem sie vorsichtig seine Schulter berührt hatte. Er bemerkte sie noch nicht einmal, als würde er ihre Berührung gar nicht spüren und als Val um ihn herum ging, war da kein bluttriefender Kadaver auf seinem Schoß, an dem er sich bis gerade eben gütlich getan hatte, sondern da stand eine Waschschüssel mit klarem Wasser und er hielt ein weißes Tuch so fest in den Händen, dass seine Knöchel ganz weiß waren. Neben der Schüssel lagen sorgfältig aufgereiht auf einem weiteren zusammengefalteten Tuch diverse Pflegeutensilien. Ganz so, als ob Alexey dabei war, sich um sich selbst zu kümmern, nachdem er sich ganz eindeutig um Val und auch um seine Kammer gekümmert hatte. Denn ja, sie war nackt, aber ebenso sauber wie der Raum selbst.
Bei sich selbst schien Alexey jedoch hängen geblieben zu sein, denn sein klarer Blick ging völlig ins Leere. Selbst als Val sein Gesicht berührte und sich vor sein Blickfeld schob, schien er sie nicht im Geringsten wahrzunehmen.
„Alexey?“ Sie strich ihm das strähnige Haar aus dem Gesicht und hob seinen Kopf weiter an, damit er zu ihr aufsah. Sein Blick ging jedoch einfach durch sie hindurch.
„Hey, ist ja gut“, sprach sie weiter auf ihn ein, als wäre er ein kleines Kind, während die Ärztin in ihr das Blut in seinem Gesicht registrierte. Das um seinen Mund herum war wahrscheinlich ihres, doch da war auch welches unter seiner Nase und seine Wangen waren ebenfalls voll davon, als hätte er blutige Tränen geweint. Und als sie ihn noch eingehender betrachtete, bemerkte sie auch, dass ihm Blut aus den Ohren gelaufen sein musste. Scheiße!
„Alexey? Kannst du mich hören?“ Ihre Stimme wurde strenger und auch eindringlicher, denn sie hatte keine Ahnung was passiert war, doch offenbar hatte sein Gehirn etwas abbekommen oder vielleicht auch nur seine Trommelfelle und der Rest hatte andere Ursachen. Sie konnte es wirklich nicht so genau sagen, also ließ sie ihn los und schnappte sich das nächststehende Öllicht und überprüfte Alexeys Pupillenreflexe. Zumindest war wenigstens das wieder möglich und sie reagierten glücklicherweise auch vollkommen normal. Sogar mehr als das, denn plötzlich richtete sich Alexeys Blick zunächst auf die kleine Flamme und dann auf ihr Gesicht.
Als sich sein Atem zu beschleunigen begann und ein kleines Erdbeben seinen Körper erschütterte, stellte Val das Öllicht schnell wieder zur Seite und umfasste wieder Alexeys Gesicht.
„Alexey?“ Val registrierte nebenbei, wie seine Hände das Tuch, das er bisher so fest gehalten hatte, zu kneten begannen. Fast schon manisch und dabei starrte er sie an, als würde nun bei ihm im Kopf ein Horrorfilm ablaufen. Er atmete auch immer flacher.
„Okay, hör zu. Du musst langsamer atmen.“ Val war selbst klar, dass ihm das während seiner Panikattacke nicht im Geringsten half und er es auch nicht alleine schaffte, also nahm sie eine von seinen Händen, sobald er das Tuch losließ und legte sie sich über dem Knoten, der die Decke an Ort und Stelle hielt, auf ihre Brust, während sie ihre auf seine legte.
„Wir machen das zusammen. Atme durch die Nase ein“, Val machte es vor und atmete tief durch die Nase ein. „Luft anhalten und durch den Mund ausatmen.“ Auch das zeigte sie ihm ganz ruhig und wiederholte das Ganze ein paar Mal, während sie dabei Alexeys Blick festhielt. Schließlich, zu Vals großer Erleichterung, machte er sogar mit. Was bedeutete, er verstand zumindest, was sie von ihm wollte und das war schon mal besser, als ihn vollkommen reglos durch die Luft starren zu sehen.
Sobald sein Atem sich wieder halbwegs beruhigt hatte, schlug die Stimmung mit einem Mal um. War der Ausdruck in Alexeys Augen zuvor noch vollkommen starr gewesen, so überfluteten ihn plötzlich die Emotionen und er fing zu weinen an. Zum Glück keine blutigen Tränen, aber auch die ganz normalen machten Val ziemlich fertig, sodass sie schließlich die Arme um Alexeys Nacken schlang und ihn festhielt, während er sich wie ein Ertrinkender an sie klammerte. Sie wiegte ihn sachte hin und her, streichelte ihm über den Rücken und sprach beruhigend auf ihn ein. Dabei war es ihr egal, dass sie dreckig wurde. Sie hätte ihn auch an sich gepresst, wenn er in eine Jauchegrube gefallen wäre. Außerdem stank er noch nicht einmal. Im Gegenteil, ihm hing immer noch ein Hauch von seiner Geheimwaffe an. Allerdings so schwach, dass es kaum Einfluss auf sie hatte und ihr schon gar nicht noch einmal das Hirn wegdampfte.
Nach der tränenreichen Phase folgte wieder eine Phase der vollkommenen Apathie. Für Val war das ein ganz klarer Fall von PTBS, was überhaupt nicht überraschend kam. Wäre Val an Alexeys Stelle, hätte man sie schon längst wegen einer massiven posttraumatischen Belastungsstörung einliefern können. Wahrscheinlich wäre sie selbst mithilfe von richtig guten Drogen nicht so schnell wieder auf die Beine gekommen. Wie musste es da erst Alexey gehen?
Zumindest schien sein Kopf in Ordnung zu sein. Selbst wenn Alexey irgendwelche Schäden an seinem Gehirn erlitten hatte – worauf das Blut an seinen Ohren hinwies –, so schien sein Körper selbst diesen Schaden bereits wieder behoben zu haben. Was gut war. Es war auch ohne all das eine schwierige Situation.
„Na komm. Lass uns dich erst einmal saubermachen“, meinte Val nun wieder sehr viel ruhiger, nachdem sie sich von Alexeys Hals gelöst hatte und auch er sie nicht mehr so festhielt, als wollte er sie in der Mitte durchbrechen.
Das Tuch in seinen Händen ließ sie ihm und nahm stattdessen ein frisches zur Hand, das sie in das duftende Wasser in der Schüssel tauchte und kaum auswrang, bevor sie sich daran machte, erst einmal Alexeys Gesicht zu säubern.
Es war total ungewohnt, ihn mit diesem Ansatz eines Vollbartes zu sehen, den er aber nicht zu behalten gedachte, wenn man nach dem Rasiermesser ging, das vorbereitet auf dem gefalteten Tuch lag. Wie er sich in seinem Zustand allerdings rasieren wollte, ohne sich dabei die Kehle aufzuschlitzen, war Val nicht ganz klar. Aber damit würde sie sich später beschäftigen.
Alexey ließ sich wie ein artiges Kind waschen. Er ließ sogar abwechselnd von dem Tuch in seinen Händen ab, damit sie nacheinander seine Arme von der Schulter bis zu den Fingerspitzen saubermachen konnte. Danach arbeitete sie sich ganz vorsichtig über seine Brust, wobei sie relativ schnell feststellte, dass die Verstümmelungen hier schon ziemlich gut verheilt waren, was einfach erstaunlich war. Trotzdem behandelte Val die zarte Haut seiner Brustwarzen mit einer solchen Sorgfalt, als wären sie hochempfindliche Blütenblätter, die schon bei der kleinsten Berührung Schaden nahmen.
Auch die Verbrennungen sahen schon so viel besser aus. Als hätte Alexey nur noch einen heftigen Sonnenbrand und benötigte keine Hauttransplantation mehr, was davor auf jeden Fall so ausgesehen hatte.
Obwohl Alexeys Körper sich von der Folter inzwischen so gut erholt hatte, war es dennoch erschreckend, wie deutlich seine Rippen hervorstachen. Sein sonst so gut trainierter Bauch war geradezu eingefallen und an seinen hervorstehenden Hüftknochen konnte man sich regelrecht verletzen, wenn man nicht aufpasste.
Val schob all ihre aufkommenden Gefühle und Gedanken zur Seite und blieb in ihrer Rolle als Ärztin und Pflegerin, denn sonst wäre sie vielleicht am Ende auch noch ein Fall für eine PTBS. Wobei nicht auszuschließen war, dass sie das Geschehene nicht auch selbst noch einholte. Im Moment half es ihr jedoch sehr, sich ausschließlich um Alexey kümmern zu können und auf nichts anderes konzentrierte sie sich.
Als sie noch einmal das Tuch auswusch und unterhalb von Alexeys Bauch mit dem Waschen weitermachen wollte, schlossen sich seine Finger um ihr Handgelenk und hielten sie auf. Val blickte zu Alexeys Gesicht hoch, doch sein Blick wich ihr nun ganz eindeutig aus, während seine Kiefer angespannt wirkten.
„Willst du dich hier selbst waschen?“, fragte sie auch weiterhin ruhig und so neutral wie möglich. Sie hätte gerne nachgesehen, wie der Heilfortschritt aussah, nachdem ihm diese Stelle am meisten geschmerzt hatte, aber das konnte sie später auch noch. Vielleicht, wenn Alexeys Geisteszustand wieder etwas stabiler war oder während er schlief.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Alexey schließlich schwach nickte, ihr Handgelenk aber noch immer nicht losließ.
„Gut, dann helfe ich dir währenddessen mit dem Rücken.“ Val stand etwas zittrig auf, da ihr Kreislauf immer noch nicht so gut mit all dem hier klar kam, hielt sich auch ein wenig an Alexeys Schulter fest und löste dann zärtlich seine Hand von ihrem Gelenk, damit sie weitermachen konnte. Hoffentlich versuchte er sich wirklich selbst zu waschen, denn sonst würde sie mit etwas mehr Nachdruck nachhelfen müssen. Im Moment hatte es allerdings Zeit, denn sobald sie mit seinem Rücken fertig war, würde sie sich sowieso erst einmal um seine Haare kümmern müssen. Die waren eine einzige Katastrophe.
So schlimm das alles hier auch war, es gab auch gute Momente. Unter anderem jedes Mal, wenn Val das Tuch erneut auswusch und dann immer mehr von Alexeys vollkommen geheiltem Rücken freilegte. Zu sehen, wie schön glatt und unversehrt seine Haut dort war, nachdem Vals Erinnerungen sie gerne noch mit dem Anblick von roher Fleischmasse und dem hervorstechenden Weiß von Knochen quälten, war enorm erleichternd. Fast schon heilsam. Wie wenn man in den eigenen Erinnerungen einen kleinen Hausputz machte und die darin herrschende Unordnung wieder durch Ordnung ersetzte. Vals Bild von Alexeys Rücken wurde auf jeden Fall wieder gerade gerückt und dafür war sie sehr dankbar.
Während sie gewissenhaft arbeitete, konzentrierte Val sich jedoch auch auf das, was Alexey tat. Er brauchte zwar eine Weile, doch schließlich schien er sich tatsächlich zu waschen. Zumindest den Bewegungen seiner Arme nach zu urteilen und wie unter ihren Händen seine Rückenmuskulatur arbeitete, die erschreckend klar unter seiner Haut hervorstach. Zudem richtete er sich nach einer Weile ein wenig weiter auf, als wolle er wirklich an alle wichtigen Stellen herankommen, ehe er sich wieder auf seine Fersen zurücksinken ließ.
Val war wirklich stolz auf Alexey. Gerade weil er alles andere als unerschütterlich war, versuchte er dennoch immer noch irgendwie weiter zu machen. Dafür bewunderte sie ihn.
Schließlich kam sie wieder um ihn herum, nahm die Schüssel mit dem inzwischen ordentlich dreckigen Wasser und leerte es in einen leeren Eimer, der neben der Tür stand. Bevor sie die Schüssel allerdings erneut mit sauberem Wasser füllte, stellte sie sie so vor Alexey ab, dass er sich darüber beugen konnte.
Zum Glück hatte er mehrere Krüge voll sauberem Wasser auf seinem Tisch stehen, womit Alexey ziemlich gut berechnet hatte, wie viel Wasser er für das Ausmaß seiner Verschmutzung brauchen würde. Val nahm einen der schweren Krüge mit beiden Händen und bat an Alexey gewandt: „Kannst du dich bitte über die Schüssel beugen? Ich würde dir gerne die Haare waschen.“
Er sah sie auch jetzt nicht an, tat aber nun schon sehr viel schneller, worum sie ihn gebeten hatte und fuhr sich dabei sogar mit seinen Fingern so durch das verdreckte Haar, dass er es über seinen Kopf nach vorne kämmte, was ihr sehr entgegenkam. Auch die Tatsache, dass er trotz der Traumata, die er inzwischen erlitten hatte, offenbar immer noch keines von den Worten vergessen hatte, die sie ihm beigebracht hatte. Er schien sie ziemlich gut zu verstehen, obwohl sie Englisch sprach.
Da Val den schweren Krug nicht allzu lange in ihren zittrigen Händen halten konnte, kippte sie nur ein wenig von dem Wasser über Alexeys Kopf und stellte den Krug wieder zur Seite. Danach nahm sie etwas von dem Duftwässerchen, das er auch ins Wasser getan hatte, um es in sein Haar zu massieren. Sowas wie Seife oder gar Shampoo gab es in dieser Zeit offenbar noch nicht, aber inzwischen war Val nur zu vertraut mit den ganzen Duftwässerchen, Ölen und Essenzen. Körperhygiene war in dieser Zeit zum Glück hoch angesehen, beinahe sogar schon übertrieben, bedachte man, wie ihr jeden Tag alle störenden Härchen entfernt wurden, die es wagten, irgendwo zu wachsen. Was das über das gängige Schönheitsideal aussagte, war klar. Allerdings war Val froh, nicht im finstersten Mittelalter gelandet zu sein, wo die Leute wahrscheinlich nur so zum Himmel stanken, weil sie sich nur zu allen heiligen Zeiten wuschen. Dann erst die vielen Parasiten …
Zunächst massierte Val immer wieder Wasser und Duftwässerchen in Alexeys Haar, bis der ganze Dreck aufgeweicht war. Danach folgten ein paar Waschgänge, ehe sie wieder was von dem Wässerchen nahm und es dieses Mal sehr lange und sehr gründlich einmassierte. Dabei kümmerte sie sich auch um Alexeys Kopfhaut. Wie es schien, taten ihre Berührungen ihre Wirkung, denn allmählich schien sich etwas von Alexeys Anspannung aus seinen Schultern zu lösen. Gut war auch, dass er nicht wieder apathisch wurde, sondern ihr dabei half, ihm die Haare zu waschen.
Nachdem es endlich wieder richtig sauber war, trocknete Val es nur notdürftig mit einem Tuch, weil sie es erst später durchkämmen würde. Stattdessen strich sie es Alexey nur wieder zurück, damit sein Gesicht frei wurde und sie sich um die nächste Angelegenheit kümmern konnte.
Val kniete sich wieder vor Alexey, nahm etwas von dem Öl, das er bereit gestellt hatte und verrieb es in den kurzen Stoppeln seines Barts. Rasierschaum hatte er ja leider nicht, aber so würde es bestimmt auch gehen. Zum Glück war Vals Umgang mit Skalpellen meisterhaft, da würde ihr hoffentlich auch die Handhabung eines antiken Rasiermessers nicht allzu schwer fallen, denn Alexeys zittrigen Händen nach zu urteilen, die sich wieder um sein Tuch gelegt hatten, war er immer noch nicht dazu in der Lage, es selbst zu tun.
Val ging die Sache ganz langsam an. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie spät es war, aber es spielte im Augenblick auch keine Rolle. Sie beide befanden sich in einem zeitlosen Vakuum, um das herum nichts anderes als Leere herrschte. So kam es ihr im Moment vor und das war auch gut so.
„Tut mir leid, falls ich dich schneide. Ich hab das noch nie gemacht.“ Zumindest nicht mit so einem Rasierer.
Alexey reagierte nicht. Zunächst hatte er noch die Augen geschlossen, um ihrem Blick auszuweichen, doch er hatte sie schnell wieder aufgerissen und starrte nun halb an die Decke, halb an ihrem Gesicht vorbei. Überall hin, nur nicht in ihre Augen.
Val versuchte nicht allzu viel in sein Verhalten hinein zu interpretieren, sondern konzentrierte sich stattdessen darauf, Alexey nicht mit dem Messer zu verletzen. Es half ihr schon sehr, wenn er einfach nur vollkommen stillhielt und das tat er auch, egal, wie lange sie für die Rasur brauchte.
Als es geschafft war, schienen sie beide aufzuatmen.
„Komm, setzen wir dich aufs Bett, dann kann ich dir noch mit deinen Beinen helfen.“ Die waren verständlicherweise immer noch schmutzig, nachdem er die ganze Zeit darauf gesessen hatte. Wahrscheinlich waren sie ihm auch längst eingeschlafen. Ganz bestimmt sogar, denn Alexey hatte massive Probleme, richtig hochzukommen und als sie es mit gemeinsamer Anstrengung endlich geschafft hatten, musste er sich schwer auf sie stützen, um nicht sofort wieder der Länge hinzuschlagen.
Sobald Val seinen Hintern aufs Bett gewuchtet hatte, nahm sie eine saubere Decke von dem kleinen Stapel, der neben dem Bett auf der Truhe lag und schlang sie ihm um die Schultern, damit er sich vollkommen bedecken konnte. Ihre eigene inzwischen feuchte und schmutzige Decke wickelte sie noch einmal ordentlich um sich, ehe sie die Schüssel mit dem Wasser holte und neben Alexeys Beinen auf den Boden stellte, um sich vor ihn zu knien und die Waschung zu beenden.
Zunächst blieb Alexey vollkommen still, während sie sein rechtes Knie und seine Wade wusch, doch sobald sie sich dem näherten, was einmal kräftige, schöne Füße gewesen waren, wurde er unruhig. Immer noch sah er sie nicht an, doch seine ganze Haltung war furchtbar angespannt und sein Gesicht war plötzlich bleich wie Knochen.
„Ich mach ganz vorsichtig. Versprochen“, versicherte Val und arbeitete sich in Millimeterschritten seinen Knöchel hinab über den Rist und zu der Stelle, wo seine Zehen gewesen waren. Alexey hatte zwar gesagt, dass er heilen würde, Val war dann aber doch sehr überrascht, wie weit das ging, denn obwohl die Veränderung nur klein war, so konnte sie dennoch einen deutlichen Unterschied zum ersten Mal feststellen, als sie seine Füße verbunden hatte. Dort, wo der Knochen glatt abgeschnitten worden war, hatte sich jeweils ein kleiner mit frischer Haut überzogener und ein wenig spitz zulaufender Knoten gebildet. Wuchsen etwa seine Zehen nach?
Da Val noch nichts Vergleichbares gesehen hatte, zumindest nicht bei Menschen, konnte sie es nicht so genau sagen und Alexey fragen wollte sie im Moment auch nicht. Er schien gerade mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen, weshalb Val ihn auch nicht unnötig lange quälte, sondern rasch weitermachte. Wenigstens überraschte es sie nicht besonders, dass seine Fußsohlen wieder vollständig geheilt waren.
Bei seinem anderen Bein ging sie ebenfalls gründlich aber zügig vor, hielt sich nicht länger als nötig bei seinen Füßen auf und zog Alexey dann die Decke weiter über die Schenkel, damit er es warm und geschützt hatte, während sie mühsam auf ihre eigenen Beine kam, um sich kurz selbst noch mal zu waschen und in eine frische Decke zu wickeln.
Mit einem Kamm bewaffnet kletterte Val schließlich hinter Alexey, um sich dem letzten Teil seiner Körperpflege zu widmen. Doch bevor sie ihm die ganzen Knoten aus den Haaren kämmte, schlang sie ihre Arme von hinten um seinen Hals und schmiegte sich an seinen Rücken. Er war ein solch erstaunliches Wesen. Glücklicherweise, doch wenn sich eines Val im Moment sehr schmerzlich bewusst war, dann dass sein Innerstes, sein Seelenleben sich nicht im Geringsten von dem eines Menschen unterschied. So unglaublich sein Körper auch war, was die Regeneration anging, diese Fähigkeit erstreckte sich ganz offensichtlich nicht auf seinen Geist, denn der war trotz allem schwer verwundet, ohne offensichtliches Anzeichen von Heilung.
Wie lange Val ihn so hielt, konnte sie nicht sagen. Minuten, Stunden, eine Ewigkeit – es spielte keine Rolle. Sie gab ihrem Bedürfnis einfach nach, solange es nötig war und erst, als sie selbst wieder gefestigt genug war, machte sie sich daran, vorsichtig Alexeys Haar mit dem Kamm zu entknoten. Die Tätigkeit hatte beinahe schon etwas Meditatives und entspannte sie selbst so sehr, dass sich ihr die Erinnerung an die Ereignisse der Nacht aufzudrängen begannen. Doch Val schob sie vehement von sich und versuchte sich wieder voll und ganz auf den Mann im Hier und Jetzt zu konzentrieren. Dass er immer noch kein Wort gesagt hatte und sich sonst auch nicht großartig rührte, machte Val auch so schon ziemlich fertig, doch es war auch nur allzu verständlich, weshalb Val Alexey auch nicht weiter bedrängen würde.
Sobald sie fertig war, schob sie ihn langsam auf die Matratze und half ihm, sich darauf auszustrecken. Er reagierte so schwerfällig wie ein alter Greis und sank auch ebenso schwer in das schlichte Kissen, als seine ganze Körperspannung nachließ.
Val nahm noch eine Decke zur Hand, um sie zusätzlich zu der, die er um sich geschlungen hatte, über ihm auszubreiten und schlüpfte dann ebenfalls darunter. Wie lange sie bleiben konnte, wusste sie nicht, aber dass sie nicht würde schlafen können, war klar. Also musste sie auch keine Angst haben, dass man sie im Schlaf überrumpelte.
Nachdem Alexey nur stumm vor sich hin starrte, veränderte Val noch einmal ihre Position. Nahm noch die letzte Decke von der Truhe und rollte sie so zusammen, dass sie als Kissen fungieren konnte, gegen das sie sich schließlich mit dem Oberkörper lehnte. Danach streichelte sie Alexey durchs Haar und zog ihn langsam und mit seinem Einverständnis zu sich, bis sein Kopf auf ihrer Brust ruhte. Kurz darauf schlang er sogar einen Arm um sie. Der Seufzer, den er schließlich ausstieß, klang unglaublich schwer, als würde ihn eine enorme Last erdrücken, doch dann war es ruhig, und während Val ihm immer noch durchs Haar streichelte und einfach still bei ihm lag, wurde seine Atmung regelmäßiger. Fast schien es, als hätte er nur auf die Gelegenheit gewartet, um völlig fertig wegzudämmern.
Während der restlichen Nacht schreckte Alexey immer wieder aus seinem unruhigen Schlaf hoch, sodass Val ihn erst minutenlang mit Worten und Streicheleinheiten beruhigen musste, bis sich seine Atmung wieder normalisierte. Zwischendurch sang sie auch für ihn, denn er brauchte den Schlaf. Dringend sogar, sonst würde er trotz seiner Albträume nicht immer wieder darin versinken.
Gegen Morgen, als sich draußen am Gang allmählich etwas regte, musste Val Alexey schweren Herzens verlassen. Glücklicherweise wachte er nicht auf, als sie seinen Kopf auf die Decke bettete, ihn noch einmal ordentlich zudeckte und ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte.
Selbst völlig erschöpft schlich sie vorsichtig zurück in ihre eigene Kammer, sobald die Luft rein war und fiel fast wie eine Tote auf ihren Strohsack. Sie schaffte es nicht einmal, sich selbst noch richtig zuzudecken, da war sie auch schon weg und in einen zum Glück traumlosen Schlaf gesunken. Was gut war. Die nächsten Tage und Nächte wurden bestimmt noch hart genug. Außerdem brauchte sie ihre Kräfte. Für Alexey. Damit er nicht nur Körperlich wieder auf die Beine kam.