Valeria gab ein unwilliges Brummen von sich, als Ceara sie sanft an der Schulter rüttelte, um sie wach zu bekommen. Sicher wäre es vernünftiger gewesen, sie so lange schlafen zu lassen, wie ihr Körper es von ihr verlangte, doch es gab Dinge, die sollten besser nicht länger als nötig aufgeschoben werden. Nun, da es Abend war und es in der Villa langsam wieder ruhig wurde, sollte diese wertvolle Zeit auch genutzt werden. Zumindest wenn es um Valeria ging und um das, was sie des Nächtens so trieb. Egal, ob Ceara das guthieß oder nicht.
Sie hatte immer noch keine genaue Vorstellung davon, was ihre Freundin so sehr an diesem Mann anzog, dass sie Nacht für Nacht ihr Leben für ihn riskierte. Sie konnte allerdings auch nicht umhin, zu bemerken, wie sehr es Valeria immer mehr mitnahm, zu ihm zu gehen. Es gab so vieles, das Ceara nicht wusste und sie bisher nicht zu fragen gewagt hatte, doch eines war gewiss: Valeria war dem Mann, den man den Bluthund der Domina nannte und den alle für eine Bestie hielten, sehr zugetan. Wäre es anders, sie würde nicht so schrecklich darunter leiden, dass er bestraft worden war.
Genaueres wusste Ceara nicht. Wie all die anderen Sklaven hatte auch sie lediglich die gequälten Schreie dieses Mannes vernommen. Danach war es lange still um ihn gewesen. Weder wurde er gesehen, noch hatte man etwas in der Villa von ihm gehört. Doch Valeria war jede Nacht zu ihm gegangen. Ceara wusste es, selbst wenn ihre Freundin glaubte, dass sie es nicht mitbekam. Allein die tiefen Ringe unter Valerias Augen verrieten ihr an jedem Morgen alles, was sie wissen musste. Wie auch immer diese Nächte abliefen, es waren keine ruhigen oder gar erholsamen.
Ceara wusste nicht, was sie darüber denken sollte. Sie konnte sich schwer eine eigene Meinung bilden, wenn sie die näheren Umstände nicht kannte. Allerdings vertrat sie auch nicht länger die Meinung der anderen Sklaven über den Bluthund der Domina. Wie könnte sie, wo Valerias Herz doch offenbar so sehr mit diesem Mann litt? Konnte er wirklich eine Bestie sein, wenn er es geschafft hatte, Valerias Herz zu erobern?
Ceara unterbrach ihre rastlosen Gedanken, als ihre Freundin sich endlich regte. Verschlafen rieb Valeria sich die Augen und blinzelte, ehe sie sich langsam aufrichtete und leicht desorientiert umsah.
„Wie spät ist es?“, wollte sie wissen.
Ceara ließ sich auf ihre Fersen zurücksinken und betrachtete ihre Freundin eingehend. Sie war immer noch recht blass und die Ringe unter ihren Augen schienen sich trotz der vielen Stunden Schlaf, die sie bekommen hatte, kaum verbessert zu haben.
„Es ist Abend. Alle haben sich zur Ruhe begeben.“ Bald würde es in der Villa vollkommen still sein.
„Abend?“ Sich immer noch die Augen reibend sah Valeria verwundert zu ihr.
„Ja, du hast den ganzen Tag geschlafen. Nicht einmal Gràinne konnte dich heute Morgen wecken, obwohl es schon verwunderlich war, dass sie es gar nicht richtig versucht und dich danach sogar in Ruhe gelassen hat. War etwas letzte Nacht? Wurdest du gerufen?“ Damit meinte sie nicht Valerias nächtliche Alleingänge, die ohne Zweifel verboten waren, sondern ob sie vielleicht offiziell gerufen worden war, als Ceara es nicht mitbekommen hatte. Zumindest würde das erklären, warum Gràinne ihre Freundin heute Morgen in Ruhe gelassen hatte. Eine durchwachte Nacht war für gewöhnlich keine Ausrede, um am nächsten Morgen nicht zur Arbeit anzutreten.
„Ja …“ Valeria gähnte hinter hervor gehaltener Hand, während sie immer noch so wirkte, als wäre sie nicht ganz wach. „Die Hure und ihr … Gast haben nach mir verlangt. Das war … mühsam.“
Ceara schauderte es, als Valeria wie so oft die Domina mit Worten beschimpfte. Hoffentlich bekamen das nie die falschen Ohren zu hören. Dennoch schauderte es sie auch noch aus anderen Gründen. Valeria sprach nie viel über die Dinge, die sie für die Domina und den Dominus tun musste, doch es war wohl bekannt, dass zumindest der Dominus sie immer wieder in sein Bett zerrte. Etwas, das Ceara wahnsinnig leid tat, doch sie waren Sklaven. Was konnten sie schon dagegen tun?
Das war auch der Grund, weshalb Ceara nicht weiter nachhakte.
„Ich habe hier Essen für dich. Du musst sehr hungrig sein. Außerdem … habe ich eine Bitte …“ Ceara senkte den Blick und spielte beklommen mit dem Stoff ihres Nachthemds, der sich im Sitzen über ihre Oberschenkel spannte. Sie sollte das eigentlich selbst erledigen, doch in dem Fall kam ihr zu Gute, dass diese Aufgabe wahrscheinlich lieber ihre Freundin übernehmen wollte. Dennoch war es unangenehm, sie darum zu bitten.
„Was für eine Bitte?“ Valeria warf noch nicht einmal einen Blick auf das Tablett mit ihrem Abendessen, stattdessen konzentrierte sie sich vollkommen auf Ceara.
„Gràinne hat mir aufgetragen, morgens, mittags und abends ein Tablett mit Essen vor die Tür des … vor seine Tür zu stellen“, begann sie daher langsam zu erklären, ohne den Blick zu heben. „Das … habe ich getan, jedoch …“
Valeria legte ihre Hand auf die von Ceara und brachte sie so dazu, aufzusehen. Der Blick ihrer Freundin war plötzlich hellwach und angespannt. Ein Schatten lag über ihren hellbraunen Augen. Was nichts Gutes bedeuten konnte, doch darum auch Cearas Bitte.
„Was ist los, Ceara?“, hakte Valeria noch einmal nach.
„Er … hat das Essen nicht angerührt. Weder das vom Morgen noch das zu Mittag. Mir wurde zwar nichts Genaueres aufgetragen, doch … ich bin mir sicher, Gràinne wird es erfahren wollen, wenn er nichts isst, um es … der Domina weiterzusagen.“ So oder so konnte es nicht gut sein, wenn sich jemand den Wünschen der Domina widersetzte, und Ceara war nur ungern die Botin, die dazu beitrug, dass dieser Mann womöglich noch einmal bestraft wurde.
„Dann werde ich nach ihm sehen.“ Valeria schlug die dicke Wolldecke zur Seite. Kurz darauf entkam ihr ein frustriert klingendes Seufzen, als sie an ihrem nackten Körper hinabblickte, ehe sie sich suchend in der kleinen Kammer umsah.
„Hier.“ Ceara streckte sich und nahm das zusammengelegte Nachthemd von Kores verwaistem Strohsack. „Gràinne hat es für dich hier gelassen.“ Mehr sagte Ceara nicht dazu, sondern überreichte Valeria das Kleidungsstück. Dabei zeigte sie nicht die Verwunderung, die sie immer noch deswegen empfand. Gràinne geizte für gewöhnlich mit Kleidung. Zwei Nachthemden und zwei Tageskleider durften sie besitzen, doch irgendwie … Valerias Kleider schienen immer wieder verloren zu gehen. Es beschämte Ceara, dass sie nicht den Mut besaß, danach zu fragen, wie ihre Freundin ihre Sachen verlor. Dabei konnte sie sich den Grund eigentlich denken. Sie wünschte wirklich, sie könnte ihrer Freundin helfen, aber was konnte Ceara schon tun?
„Danke.“ Valeria schien nichts von ihren düsteren Gedankengängen zu bemerken, stattdessen stand sie auf, schlüpfte in das frische Nachthemd und strich sich ihre wirren Haare ein wenig mit den Fingern glatt.
„Wo ist Abendessen für Alexey?“
„Alexey? Ist das sein Name?“, fragte Ceara neugierig, bevor sie auf das Tablett neben der Tür deutete, auf dem das Abendessen für den Bluthund stand. Es war geradezu überladen, da Ceara das verschmähte Essen vom Tag dazugestellt hatte, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Sie wollte wirklich nicht, dass dieser Mann Ärger bekam und ihre Freundin dadurch noch mehr litt.
Valeria nahm Cearas Hände und zog sie auf die Füße. Sie hielt sie immer noch fest, während sie schwach aber sehr warm lächelte. „Ja, das sein Name. Aber das bleibt Geheimnis zwischen uns, ja?“
„Natürlich.“ Wem hätte sie es auch erzählen sollen? Ceara hatte nur ihre Freundin, und so gut sie konnte, wollte sie auf Valeria aufpassen, so unglücklich es sie auch machte, sie immer wieder in Gefahr zu wissen, wenn sie sich nachts zu diesem Mann schlich. Wenigstens verspürte sie nur noch selten den Stich der Eifersucht. Ceara konnte einfach nicht auf etwas eifersüchtig sein, das ihrer Freundin so sehr zusetzte. Wäre sie glücklich und beschwingt, dann wäre es etwas anderes, doch so … Sie hoffte einfach, dass das alles auch weiterhin gut gehen würde.
„Danke.“ Valeria schlang die Arme um sie und für einen Moment genoss Ceara die Wärme ihres Körpers und die wohltuende Nähe, während sie die Umarmung aus ganzem Herzen erwiderte. Es kam so selten vor, dass sie Zeit für einander hatten, und sollte Ceara einmal doch noch wach sein, wenn Valeria von ihrem Dienst beim Dominus zurückkehrte, hatte sie das Gefühl, dass ihre Freundin ein wenig Abstand brauchte. Verständlich, wenn sie sich gerade erst die Berührungen dieses lüsternen Kerls vom Leib gewaschen hatte.
„Bitte sei vorsichtig, wenn du zu … Alexey gehst, ja?“, bat Ceara. Sie würde bestimmt nicht so schnell einschlafen können, weil sie auf jedes noch so kleine Geräusch draußen im Flur lauschen würde und auf irgendeinen Hinweis darauf, dass man Valeria entdeckt hatte. Die Strafe dafür würde sicher hart sein. Ceara wollte ihre Freundin nicht noch einmal so zerschunden erleben wie beim letzten Mal, als der Dominus seine Wut an ihr ausgelassen hatte. Valeria war schon zu oft bestraft worden. Wie lange konnte das noch so gehen, bevor sie gar nicht mehr zurückkehren würde?
Ceara wollte gar nicht daran denken, weil es ihr wahnsinnige Angst machte.
„Alles gut, Ceara. Ich passe auf.“ Valeria drückte sie noch einmal fest und hauchte ihr anschließend einen Kuss auf die Stirn, ehe sie sie ganz losließ und zu dem Tablett neben der Tür ging. Doch bevor sie es aufhob, legte sie ihr Ohr an die Tür und lauschte. Mittlerweile war es vollkommen still geworden.
„Ich bete, dass du heil zurückkehrst.“
Valeria schenkte ihr ein Lächeln, schüttelte dann aber leicht den Kopf. „Besser du schläfst. Du sehen müde aus.“
„Als könnte ich schlafen, wenn du dort draußen herumschleichst.“
„Versuchen. Ich will nicht, dass du morgen müde, ja?“
Ceara verdrehte die Augen. Es war im Grunde genommen egal, was sie zu ihrer Freundin sagte. Sie konnte sie dennoch nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Noch dazu, wo sie sozusagen Valeria darum gebeten hatte, sich der Sache mit dem unberührten Essen anzunehmen. Valeria musste heute Nacht also unter allen Umständen nach diesem Alexey sehen und ihn dazu bringen, dass er sein Essen wenigstens anrührte, wenn es keinen Ärger geben sollte. Wohl fühlte sie sich damit trotzdem nicht.
Valeria öffnete die Tür einen Spalt breit und spähte in den Gang hinaus, ehe sie sich noch einmal zu Ceara herumdrehte und leise flüsterte: „Ich hole Essen gleich. Doch vorher muss ich noch … Ich bin gleich wieder da.“ Damit schlüpfte sie hinaus und die Tür schloss sich leise hinter ihrer Freundin.
Ceara legte sich auf ihren Strohsack und zog die Decke bis zu ihrer Nase hoch. Anstatt zu versuchen, etwas Schlaf zu bekommen, schloss sie die Augen und begann zu beten.
***
Nachdem Val sich um ihre volle Blase gekümmert hatte, holte sie das überladene Tablett, um sich auf leisen Sohlen auf den Weg zu Alexey zu machen. Dabei ging ihr wahnsinnig viel durch den Kopf. Angefangen bei der Sorge um ihn, weil er sein Essen nicht angerührt hatte, obwohl er am verhungern war. Wasser dürfte er vergangene Nacht hoffentlich getrunken haben. Er hatte zumindest nicht dehydriert auf sie gewirkt, dafür war ihr umso mehr aufgefallen, wie enorm viel er abgenommen hatte.
Als nächstes folgte die Frage, was mit ihm los war. Ob er immer noch in seinem schlechten, psychischen Zustand festhing und deshalb nichts gegessen hatte oder ob es einen anderen Grund gab, warum er Nahrung verweigerte. Hatte sie vielleicht irgendetwas übersehen? Körperlich schien es ihm wesentlich besser gegangen zu sein, doch vielleicht hatte sie sich auch geirrt.
Allein bei dem Gedanken, dass ihm vielleicht ernsthaft etwas fehlte, beschleunigte Val ihre Schritte, obwohl ihre Arme von dem Gewicht des Tabletts zitterten und sie innerhalb kürzester Zeit wie eine Dampflok schnaufte. Kein Wunder. Alexey hatte ihr zwar von seinem Blut gegeben und das war wohl auch der Grund, warum sie überhaupt noch aufrecht stand, doch sie hatte sehr viel von ihrem eigenen Blut verloren. Das glich man nicht so schnell aus, selbst wenn Alexeys Blut ihrem Körper auf die Sprünge geholfen hatte. Zumindest glaubte Val nicht, dass der Schaden so schnell wieder behoben war. Würde sie sich denn dann immer noch so schwach und erschöpft fühlen, obwohl sie den ganzen Tag geschlafen hatte?
Wenigstens hatte man sie nicht gezwungen, arbeiten zu gehen. Val hätte ohnehin nicht gewusst, wie sie das hätte bewerkstelligen sollen.
Bei der ihr nur zu vertrauten Tür angekommen, stellte sie das Tablett zunächst auf den Boden, ehe sie horchte, ob sie irgendetwas aus dem Inneren von Alexeys Kammer vernahm. Denn um ehrlich zu sein, obwohl sie wusste, dass er soweit wieder klar im Kopf war, saß ihr immer noch der Schrecken im Nacken, wie oft er in den letzten Nächten gegen diese Tür gerannt war, jedes Mal wenn er sie gewittert oder gehört hatte. Dabei hatte sie weder angeklopft, noch sonst irgendein Geräusch gemacht. Sie war einfach nur vor dieser Tür stehen geblieben und hatte sich gefragt, wie es ihm ging.
Das erste Mal seit den vergangenen Nächten blieb es ruhig hinter der Tür, also atmete Val einmal tief durch und versuchte sie leise zu öffnen. Fast schon erwartete sie, dass die Tür sich keinen Millimeter bewegen würde, da sie wieder verschlossen war, doch nein, sie glitt lautlos nach außen auf. Dahinter empfing sie absolute Dunkelheit, weshalb Val die Tür noch etwas weiter aufzog und sich das erstbeste Öllicht schnappen wollte. Allerdings war das Öl alle, da sie bei ihrem Aufbruch vergessen hatte, die kleinen Lichter zu löschen, also sah sie sich für einen Moment ratlos um, ehe sie die Tür wieder schloss und noch einmal loszog, um sich die nächstgelegene Fackel zu nehmen, die sie finden konnte. In diesen Teil des Sklaventraktes kam ohnehin kaum jemand und selbst wenn die Eiskönigin beschloss, Alexey heute Nacht wieder einen Besuch abzustatten, bezweifelte Val, dass ihr eine fehlende Fackel an der Wand irgendwie auffallen würde. Außerdem hätte Val dann ohnehin ganz andere Probleme am Hals.
Nachdem sie die brennende Fackel in die Halterung neben Alexeys Tür gesteckt hatte, nahm sie das schwere Tablett auf und stellte es auf seinen Tisch. Danach zog sie rasch die Tür wieder hinter sich zu. Erst dann richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Mann, der auf dem schlichten Bett lag und sich nicht im Geringsten rührte.
Als Val näher kam, wirkte es sogar, als hätte Alexey sich seit ihrem Abgang heute Morgen überhaupt nicht von der Stelle bewegt. Er lag noch in der gleichen Position da und schien immer noch fest zu schlafen, was Val beunruhigt hätte, wenn es ihm nicht eindeutig besser gehen würde. Zumindest sah er irgendwie erholter aus und seine Gesichtszüge waren friedlich und entspannt.
Val setzte sich zu ihm aufs Bett und legte ihre Hand auf seine riesige Schulter. Das Einzige, womit Alexey auf ihre Nähe reagierte, war ein tiefes Einatmen, danach war er wieder ganz still.
Obwohl die Umstände ziemlich schrecklich waren, konnte Val sich ein leises Lächeln dennoch nicht verkneifen. Ihn so friedlich zu sehen, war eine absolute Seltenheit und obwohl er etwas essen sollte, wollte Val diesen ruhigen Schlaf doch nicht unnötig stören, also hob sie seine Decke etwas an und schlüpfte vorsichtig darunter, um sich neben ihn zu legen.
Unter der Decke war es schön warm und Alexeys Duft stieg ihr in die Nase. Nicht diese Duftwaffe, die ihr geradezu das Hirn weggedampft hatte, sondern sein normaler, sehr angenehmer Geruch, den sie am liebsten in Flaschen verkorkt hätte, um später auch noch was davon zu haben, wenn sie nicht bei ihm sein konnte.
Val rückte näher, um ebenfalls ihren Kopf auf das schlichte Kissen betten und Alexey direkt ansehen zu können. Im Stillen studierte sie seine wundervollen Gesichtszüge. Die markant geschwungenen Augenbrauen, die normalerweise immer so aussahen, als wäre er ein wenig wütend. Doch im Moment waren die Bögen völlig entspannt, die kleine Hautfalte dazwischen verschwunden.
Darunter warfen seine langen, dunklen Wimpern Schatten auf seine Wangen. Die dunkelvioletten Ringe unter seinen Augen waren verschwunden und seine Haut wirkte wieder wie poliert, allerdings irgendwie ein wenig heller. Könnte auch an dem Licht liegen, oder eben auch daran, dass er schon so lange keine Sonne mehr abbekommen hatte.
Die Poren auf seiner geraden schönen Nase waren so fein, dass man sie fast nicht sehen konnte. Auch so ein Zeichen dafür, dass er nicht wirklich echt sein konnte. Zumindest kein richtiger Mensch. Wer hatte schon so perfekte Poren? Was allerdings durchaus menschlich und vor allem männlich war, war der leichte Bartschatten, der sich auf seinen Wangen abzeichnete. Sie hatte sich letzte Nacht zwar große Mühe gegeben, ihn aber natürlich nicht so gründlich rasiert, dass er danach weich wie ein Babypopo gewesen wäre. Dabei hätte sie ihn sicher ein paar Mal geschnitten. Wollte er es wirklich gründlich, musste er schon selbst ran. Aber auch so konnte sich das Ergebnis sehen lassen.
Val konnte nicht länger widerstehen, weshalb sie auch ihre Hand auf Alexeys Wange legte und sanft darüber streichelte. Ja, er pikte ein wenig, doch das fühlte sich für sie sogar ziemlich gut an. Also strich sie zärtlich über seine Wange, fuhr dabei mit ihren Fingerspitzen seinen kräftigen Kiefer entlang und blieb schließlich mit ihrem Daumen bei seiner Unterlippe hängen. Er hatte einen sehr sinnlichen Mund. Die Unterlippe ein wenig voller, die Oberlippe schön geschwungen. Aber nicht nur der Anblick seines Mundes war schön, sondern auch das, was er damit anstellen konnte. Nur leider kamen bei Val in diesem Fall keine Erinnerungen an heiße Küsse hoch, sondern vor ihren Augen erschien das Bild, das sie zuletzt davon gehabt hatte. Wie sich seine Oberlippe zu einem grausigen Zähnefletschen verzogen hatte, ehe er ihr keine Sekunde später den Hals aufgerissen hatte, um an ihr Blut zu kommen.
Vals Puls beschleunigte sich und sie bekam eine Gänsehaut. Sie hatte sich inzwischen mehrfach versichert, dass ihr Hals völlig in Ordnung und noch nicht einmal druckempfindlich war, doch das änderte nichts an ihrer Erinnerung.
Noch bevor sie einen bewussten Gedanken in diese Richtung gehabt hatte, ertappte Val sich dabei, wie sie mit ihrem Daumen eine Seite von Alexeys Oberlippe nach oben zog, um die Zähne darunter sehen zu können.
Ach du heilige Scheiße!
Wo gestern noch eine Zahnlücke gewesen war und sie heute wie bei Alexeys Zehen eher so eine Art Minivampirzähnchen erwartet hätte, der erst noch heranreifen und sich richtig aus dem Zahnfleisch schieben musste, war ein zum Gebiss passender Eckzahn erschienen. Ein sehr spitzer, sehr großer Eckzahn, der sich plötzlich noch weiter aus dem Oberkiefer schob und sich somit deutlich verlängerte.
Val war zu gebannt von dem Anblick, um zu reagieren, als Alexey mit einem Mal ein wenig den Mund öffnete und den Kopf leicht drehte. Er hatte ihren Daumen schneller mit seinen Schneidezähnen eingefangen, als sie reagieren konnte, doch der träge, verschlafene Blick unter den halb geöffneten Augenlidern, ließ sie daran zweifeln, dass er ihn ihr gleich abbeißen würde.
Glücklicherweise hatte Val recht mit ihrer Vermutung, denn seine Lippen schlossen sich um ihren Daumen und kurz darauf konnte sie seine Zunge spüren, wie sie langsam darüber leckte.
Alexeys halb geöffnete Augen schlossen sich wieder. Seine entspannten Gesichtszüge veränderten sich subtil und seine Nasenflügel bebten, als er tiefer einatmete. Er wirkte dadurch nicht weniger entspannt, eher, als ob er … War das ein Brummen, das da aus seiner Kehle kam? Zumindest glaubte Val, die Vibration mehr zu spüren, als den Laut zu hören. Doch bevor sie genauer darüber nachdenken konnte, kam Bewegung in diesen Berg aus Muskeln und Hitze, der da dicht neben ihr lag.
Alexeys Zähne gaben Vals Daumen unvermittelt frei, dafür ergriff er ihr Handgelenk und drückte seine Nase in ihre Handfläche, um einen tiefen Atemzug davon zu nehmen. Dabei schien es, als würde er wie ein Luftballon, den man aufblies, immer größer zu werden, während er einatmete, was natürlich vollkommener Blödsinn war. In Wahrheit richtete Alexey sich unter der Decke weiter auf und schob sich mehr und mehr über sie, weshalb es Val so vorkam, als würde er vor ihren Augen wachsen.
Seine Nase schob sich auf ihr Handgelenk, an dem er ein weiteres Mal verweilte, um in tiefen Zügen einzuatmen, danach wanderte er weiter, streckte ihren Arm, bis er in ihrer Armbeuge einen weiteren Halt einlegte.
Val konnte seinen heißen Atem und das Kratzen seiner Bartstoppeln auf ihrer empfindlichen Haut spüren, was ihr eine knisternde Gänsehaut über den Körper jagte und ihren Puls noch weiter in die Höhe schnellen ließ. Sie war sich überdeutlich bewusst, dass seine voll einsatzbereiten Fangzähne nur Millimeter von ihren Venen entfernt waren und es für sie ein Leichtes wäre, zumindest ihre Haut anzuritzen. Doch alles, was sie spürte, waren seine weichen Lippen, wie sie sie geradezu streichelnd liebkosten, bis sie sich von ihr lösten und auf ihrer entblößten Schulter landeten.
Val wusste nicht, wie sie auf einmal in diese Situation geraten war. Hatte sie sich vorhin nicht noch Sorgen um Alexey gemacht? Ging es ihm wirklich gut?
Bevor sie auch nur irgendeine Konsequenz aus dieser flüchtigen Klarheit ziehen konnte, schob Alexey ihrem Denken auch schon einen sehr massiven Riegel vor, indem er seinen Arm um sie legte, ihn unter sie schob und ihren Körper ihm damit entgegen hob, während er das Gewicht verlagerte und ihr plötzlich so nahe war, dass sie nur noch ihn wahrnehmen konnte. Sie sah nur ihn. Sie spürte nur ihn und vor allem konnte sie in diesem Moment auch nur noch ihn riechen.
Seine Wärme und sein Duft legte sich als wohltuende Hitze auf ihre Haut, als er sie nun vollends umarmte; sein Gesicht an ihrer Halsbeuge vergraben, sodass die weichen Wellen seiner Haare sie an der Wange kitzelten, während sein leichter Bartschatten über ihre hypersensible Haut kratzte und sie damit nur noch verrückter machte. Dabei ragten seine massiven Schultern so mächtig über ihr auf, dass sie fast ihr gesamtes Sichtfeld einnahmen, bis Vals Augenlider ohnehin ganz von selbst zuklappten und sie sich diesem herrlich warmen Körper ein wenig entgegen bog.
Ohne nachzudenken gingen ihre Hände auf Wanderschaft. Wollten fühlen und berühren, sich an irgendetwas festhalten, weil sie das Gefühl hatte, als wäre ihr plötzlich ganz schön schwindlig. Allerdings auf die gute Art.
Als ihre Finger auf samtene Haut stießen, die sich über feste Muskeln spannten, wurde Val schlagartig bewusst, dass Alexey nackt war. Also so richtig nackt, und irgendwie wollte sich ihr heftig schlagendes Herz bei dieser Erkenntnis so gar nicht mehr beruhigen. Vor allem, als er auch noch mit seinen Lippen weiter über ihren Hals wanderte – was ihr eigentlich nach allem, was sie erlebt hatte, eine Scheißangst einjagen sollte, was es aber in diesem Augenblick nicht tat –, um dann träge küssend über ihren Kiefer zu wandern, bevor er übergangslos bei ihren Lippen weitermachte, als er ihren Mund fand.
Lange blieb er dabei jedoch nicht träge, denn fast schien es, als ob der Geschmack ihrer Lippen ihn anstachelte, zumal Val sich absolut nicht dagegen wehrte, von ihm geküsst zu werden. Im Gegenteil. Bei ihr sprang auch so einiges an, das eben noch selig vor sich hin geschlummert hatte, vollkommen eingelullt von seinem angenehmen Duft, der Wärme und den zärtlichen Berührungen.
Val stöhnte leise gegen Alexeys Mund, als er sie plötzlich fester packte und sich schwerer auf sie legte, um sie noch intensiver zu küssen. Sein Gewicht lastete gerade schwer genug auf ihr, um ihn richtig gut spüren zu können. Selbst durch den dünnen Stoff ihres Nachthemds hindurch, doch nicht so schwer, als dass sie keine Luft mehr bekommen hätte. Mit ihren Händen wanderte sie dabei immer wieder seine Seiten entlang, rauf und runter. Streichelte ihn. Liebkoste seinen herrlichen Körper und hielt sich an ihm fest.
Wie groß Alexey im Gegensatz zu ihr war, könnte hierbei nicht deutlicher werden, denn sie schaffte es nicht einmal ansatzweise ihre Arme um ihn zu schlingen, was sie ein paar Mal versuchte, weil auch sie ihn immer wieder festhalten wollte. Dass er dabei ihre Beine zwischen seinen eingeklemmt hatte, machte die Sache nicht unbedingt leichter, da sie sich etwas mehr Bewegungsfreiraum gewünscht hätte. So konnte sie sich lediglich immer wieder mit ihrem Becken gegen seinen harten Bauch aufbäumen und ihre Schenkel aneinander reiben. Wirklich bewusst war sie sich dieser Bewegung nicht, aber es ließ sich absolut nicht leugnen, dass ihr inzwischen verflucht heiß war und sie absolut nichts gegen diese Hitze einzuwenden hatte. Zumal sie hier nicht die Einzige war, die diesem urtümlichen Rhythmus folgte. Nein, es war zwar eher subtil, und weil es so langsam ging, bemerkte Val es nicht sofort, immerhin wurde sie ziemlich gut von Alexeys Küssen abgelenkt, doch sie konnte dennoch deutlich spüren, wie er sich auf ihr bewegte, während die Muskeln unter ihren Fingern arbeiteten und die Hitze zwischen ihnen immer weiter zunahm. Deutlichstes Indiz dafür war wohl die sich aufbauende Erektion, die da über die nackte Haut ihres Oberschenkels strich, bis sie in dem schmalen Tal, das ihre geschlossenen Beine bildeten, schwer zum Liegen kam und bei jeder von Alexeys verhaltenen Bewegung daran entlang rieb.
Das Gefühl machte Val mit der Zeit geradezu irre, weil sie nichts anderes tun konnte, als zwischen Alexeys Beinen und seiner riesigen Erektion eingeklemmt dazuliegen. Weder konnte sie ihre Beine befreien, um sie um ihn zu legen, noch kam sie mit ihren Händen nahe genug ran, um die Sache für sie beide interessanter zu machen. Sie musste sich vollkommen seinem wiegenden Rhythmus unterwerfen, obwohl alles in ihr mit der Zeit nach so viel mehr schrie. Denn es war nicht nur die Reibung an ihren Beinen, die sie so verrückt machte, sondern auch die an ihren Brüsten. Sie waren zwar von dem dünnen Leinenstoff ihres Nachthemdes bedeckt, doch ihre harten Brustwarzen rieben unablässig bei ihren gemeinsamen Bewegungen über seine ebenso harte Brust, neckten sie mit zahlreichen kleinen elektrischen Stößen, die ihr direkt zwischen die Beine fuhren und dazu noch die Küsse, die sie völlig atemlos machten …
Val bog sich ihm ein weiteres Mal entgegen, während sich ihre Finger in Alexeys Seiten gruben, um Halt zu suchen. Sie musste den Kuss unterbrechen, den Kopf drehen, um wieder richtig Luft zu bekommen, so schwer ging ihr Atem inzwischen, doch davon ließ er sich nicht aus dem Takt bringen. Wieder rieb der Schatten von Alexeys Bart sinnlich über ihre Haut, während seine geschmeidigen Lippen nun die andere Seite ihres Halses hinab wanderten. Sie liebkosten. Streichelten. Küssten und am Übergang vom Hals zur Schulter zum Erliegen kamen. Dabei konnte Val sehr deutlich spüren, wie auch Alexeys Atem immer schwerer ging, und wieder war da dieses Grollen in seiner Brust, kurz bevor er sie noch eine Spur fester packte und …
Sein Biss war wie ein unfreiwilliges Bad in Eiswasser, als er das erlebte Grauen von letzter Nacht so heftig heraufbeschwor, als würde sie eine Zeitreise in die Vergangenheit machen und diese sie genau in jenen Moment wieder ausspucken, als Alexey ihren Hals mit seinen Zähnen aufriss.
Val gefror der Atem in der Brust. Sie war für einen Augenblick völlig erstarrt … wie schockgefrostet und dann … schnappte sie heftig nach Luft, bevor sie instinktiv das Unmögliche möglich zu machen versuchte, indem sie Alexey von sich runterstoßen wollte. Dabei wurde sie völlig von der Tatsache überrumpelt, dass es ihr auf Anhieb gelang. Sie brauchte kaum Druck, da … war er auch schon verschwunden …
Val fühlte sich, als hätte sie gerade einen Autounfall erlebt. Einen frontalen Zusammenstoß. Mit erhöhter Geschwindigkeit. Von zwei Sattelschleppern.
Ihr Kopf kam überhaupt nicht mehr mit. Ihr Körper noch weniger.
Sie fühlte die plötzliche Kälte auf sich. Das Zittern in ihrem Körper. Wie ihr Brustkorb sich immer wieder in heftigen Atemzügen ausdehnte. Adrenalin flutete ihre Adern in so rauen Mengen, dass sie das Gefühl hatte, jeden Moment ohnmächtig zu werden, während zugleich ihre Sinne so hellwach waren, dass sie alles überdeutlich wahrnahm. Und doch war sie für eine kurze Zeit völlig unfähig, auch nur den kleinen Finger zu bewegen.
Stand sie unter Schock? – Möglich.
War das hier gerade wirklich passiert? – Mit Sicherheit.
Doch die eigentliche Frage war wohl: Wie konnte sie sich aus ihrer Starre befreien und der Situation wieder Herr werden?
Letztendlich war es das heftige Keuchen ganz in ihrer Nähe, das sie dazu brachte, zumindest ein wenig den Kopf zu drehen und somit den Bann, der auf ihrem Körper lag, zu brechen, als sie Alexey erkannte, wie er gewaltsam versuchte, mit der Wand hinter sich zu verschmelzen. Dabei fasste er sich an die Brust, als hätte er eine Herzattacke, während in seinen weit aufgerissenen Augen schieres Grauen und blankes Entsetzen stand, als hätte er einen Geist gesehen.
Val sah dabei zu, wie ihm ein roter Faden vom Kinn tropfte und fragte sich noch immer seltsam entrückt: Was zum Teufel war gerade passiert?