Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Alexey wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war, wenn er aus seinen kurzen, nicht wirklich erholsamen Schlafzyklen erwachte. Ob Tage vergangen waren oder nur ein paar Stunden.
Vielleicht schlief er in Wahrheit auch gar nicht, sondern wurde immer wieder ohnmächtig. So genau konnte er es nicht sagen. Es spielte auch nicht wirklich eine Rolle, denn zu wissen, ob gerade die Sonne oder der Mond am Himmel stand, änderte nicht das Geringste an seiner Lage und die war … unangenehm. Äußerst unangenehm sogar, denn nachdem er mindestens zwei Tage nichts gegessen oder getrunken hatte, sich dann auch noch in diesem äußerst desolaten Zustand befand, verwehrte ihm sein Körper das, was er eigentlich so dringend gebraucht hätte – Alexey hatte aufgehört, zu heilen. Oder besser gesagt, der Heilungsprozess hatte sich so stark verlangsamt, dass es kaum noch nennenswerte Fortschritte gab.
Zwar waren seine Wunden inzwischen geschlossen, soweit Alexey das beurteilen konnte, doch lediglich von einer hauchdünnen Hautschicht, die er sich mit dem bloßen Fingernagel hätte aufkratzen können, wenn er denn noch Fingernägel gehabt hätte. Oder Zehennägel. Oder Zehen im Allgemeinen.
Was für ihn bedeutete, dass er zwar sicherlich nicht verbluten würde und sich auch das Ausmaß seiner Schmerzen deutlich zu seinen Gunsten reduziert hatte, dennoch begrüßte ihn beim Erwachen die Bestie des Schmerzes jedes einzelne Mal wie ein verdammter Köter, der wild mit dem Schwanz wedelnd die Ankunft seines Herrn erwartete. Hinzu kamen dann auch noch Kälte, Hunger und wahnsinniger Durst, was der Sache inzwischen die Dynamik eines ganzen Rudels an Kötern gab, das ihn begrüßte, sobald Alexey sich seines bewussten Verstandes wieder gewahr wurde. Warum also überhaupt versuchen, wach zu bleiben, wenn die Stille des Schlafes oder der Ohnmacht so viel verlockender war?
Weil Alexey wusste, was geschah, sobald sein bewusster Verstand sich verabschiedete und seine ganz eigene, innere Bestie zum Vorschein kam. Diejenige, die schon bald versuchen würde, seine zivilisierte Fassade wie ein paar Flöhe abzuschütteln, sobald der Blutdurst die Oberhand gewann. Zwar hatte Alexey gerade erst vor kurzem von Valerias starkem, magischen Blut genommen, doch weder war er zu der Zeit wirklich satt gewesen, noch hatte irgendwer damit rechnen können, dass er so schwer verletzt werden würde. Der Mangel an etwas zu essen oder zu trinken beschleunigte diesen Vorgang nur noch und auch die vollkommene Isolation seiner Lage machte es nicht besser. Seine Augen hatten sich zwar ein wenig erholt, aber noch nicht so weit, dass er etwas sehen konnte. Eingepfercht in seiner Kammer konnte er nur sein eigenes Blut wittern, und die Geräusche, die ab und an zu seinen Ohren drangen, stimulierten seinen Geist nicht wirklich genug, um die bluthungrige Bestie in seinem Inneren davon abzulenken, gegen den wohlverschlossenen Käfig, in der sie saß, anzukämpfen. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis etwas in ihm nachgab und die Bestie rauskam. Wehe dem, der ihm dann zu nahe kam …
Aber genau darauf lief es hinaus, nicht wahr? Genau deshalb hatte Hedera ihn eingesperrt. Damit er nicht rauskam, um irgendwie an Wasser und Nahrung zu kommen, was seinen Blutdurst länger in Schach gehalten hätte. Daran, dass ihn jemand mit genau diesen Dingen versorgen könnte, hatte sie glücklicherweise nicht gedacht. Zumindest bezweifelte Alexey stark, dass sie irgendetwas von Valerias Zuneigung für ihn wusste. Er hätte es mitbekommen, wäre es anders. So viel war sicher.
Alexey unterdrückte ein Stöhnen, als er sich ein wenig aufzurichten versuchte, da ihm inzwischen der Arm, auf dem er die ganze Zeit gelegen hatte, eingeschlafen war. Immer noch hatte er es nicht bis auf seine Matratze geschafft und wo seine Decke war, wusste er auch nicht. Lediglich sein Umhang, der von dem getrockneten Blut inzwischen ganz von alleine stand, war ihm noch geblieben. Ihn wirklich zu wärmen, vermochte dieser jedoch nicht.
Als erneut die Bestie des Schmerzes in seine Mitte fuhr und ihn wie von Sinnen kratzte und biss, sog Alexey hart Luft durch die beiden Löcher in seiner oberen Zahnreihe und ignorierte das Gefühl, so gut er konnte, während er sich noch weiter aufrichtete, bis er auf seinem blanken Hintern saß. Beinahe wäre er wieder zur Seite gekippt, als sein Bewusstsein flackerte und sich sein Kopf noch nicht ganz entschieden hatte, ob er nicht doch noch einen Schlafzyklus probieren sollte, um den Schmerzen zu entkommen. Dass er dann allerdings nicht auf einer weichen Matratze sondern auf hartem Stein landen würde, machte diese Wahl jedoch eher unattraktiv.
Alexey schloss seine nutzlosen Augen und versuchte ruhig zu atmen. Er konzentrierte sich auf das Ausdehnen seiner Brust, während er tief einatmete und wie sie sich wieder zusammenzog, sobald er den Atem aus seinen Lungen entließ. Ein und aus. Ein und aus.
Gefühlte Stunden später saß er immer noch aufrecht und schaffte es sogar mit seinen Händen – die so stark zitterten, als wäre er ein alter Greis – seinen Umhang um sich zu schlingen und vorne zusammenzuhalten.
Wirklich wärmer wurde es dadurch nicht, doch der grobe Stoff um seine Schultern und über seinen halb angezogenen Knien gaben Alexey das Gefühl von Schutz. Zumindest ein wenig.
Lange Zeit saß er einfach nur da und lauschte seinem eigenen Herzen und den regelmäßigen Atemzügen, da nichts anderes zu ihm durchdrang. Alexey schlief nicht direkt ein, sank jedoch irgendwann in einen Dämmerzustand, der dem des Schlafes recht nahe kam. Zumindest entgingen ihm dadurch die leisen Schritte draußen im Gang und dass sich jemand seiner Tür näherte.
Erst als Valerias Stimme vom dicken Holz gedämpft zu ihm durchkam, riss es Alexey so heftig aus seinem Halbschlaf, als hätte sie ihm direkt ins Ohr geschrien.
„Alexey?“
Seine Nerven lagen für einem Moment völlig blank und er wusste nicht, was real und was Traum war. Seine eigenen gehetzten Atemzüge waren so laut, dass er nichts anderes hören konnte und er glaubte schon, er hätte sich ihre Stimme nur eingebildet, als …
„Alexey? Kannst du … mich hören?“
Bevor er überhaupt darüber nachdenken konnte, war er auch schon aufgesprungen, um zur Tür zu eilen. Was sich im Nachhinein als richtig beschissene Fehlentscheidung herausstellte, denn seine praktisch nicht vorhandenen Fußsohlen wurden von seinem massiven Gewicht und dem rauen Untergrund geradezu durch die Mangel gedreht. Die hauchdünne Haut platzte unter der Belastung auf, seine nicht vorhandenen Zehen und viel zu schwachen Beine konnten seine Balance nicht halten und somit dem Schwung nichts entgegensetzen. Alexey schlug der Länge nach auf, seine Arme dabei nutzlos im starren Stoff seines Umhangs gefangen, sodass nichts seinen Sturz bremste. Von seinem Gesicht abgesehen und der Schulter und seinen Händen, die er geradezu mit seinem Oberkörper unter sich zermalmte. Zumindest fühlte es sich so an.
Da ihm schlagartig die Luft aus den Lungen gepresst wurde, entkam ihm auch nicht mehr als ein klägliches Keuchen, als der alles verzehrende Schmerz durch seinen gesamten Körper jagte und sein Bewusstsein gnadenlos in die Dunkelheit mit sich riss.
Wann sich der Schmerz wieder soweit beruhigt hatte, dass er Alexey aus den Klauen der Bewusstlosigkeit entließ, konnte er nicht so genau sagen, doch bestimmt war Valeria inzwischen wieder gegangen und das war auch besser so. Sie musste nicht hören, wie er sich leise stöhnend und ächzend auf die Seite kämpfte, um die Belastung von seinem zerfetzten Rücken und den Druck von seinem vor Schmerz laut kreischenden Geschlecht zu nehmen.
„Alexey?“
Er fluchte zeitgleich mit Valeria, aber wenigstens so leise, dass sie es nicht hören konnte.
„Alexey?!“ Ihre Stimme klang panisch und das Rascheln von Stoff war zu hören, ehe ihre Stimme noch ein wenig lauter zu ihm drang, als würde sie ihren Mund direkt an den Spalt zwischen Rahmen und Tür pressen. „Alles in Ordnung?“
„Ja.“ Nein. Nicht einmal im Entferntesten.
Valerias Schweigen verriet ihm, dass sie ihm seine Lüge nicht glaubte. Es spielte auch keine Rolle. Alexey schluckte schwer, wobei seine ausgedörrte Zunge ihm am Gaumen kleben blieb, und krächzte hoffentlich laut genug: „Du solltest … nicht hier sein …“
Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn man sie vor seiner Tür fand!
„Soll ich … gehen?“
„Ja.“ Nein, verdammt noch mal! Ihre leise Stimme fühlte sich im Augenblick wie ein heller Sonnenstrahl inmitten eines heftigen Unwetters an. Sein Verstand klammerte sich geradezu an jedes einzelne Wort von ihr und allein das Wissen, dass sie bei ihm war, wenn auch durch eine Tür getrennt, ließ alles andere in den Hintergrund treten.
Glücklicherweise hörte seine kleine Kriegerin nicht auf ihn. Sie schwieg zwar erneut, doch er konnte nicht hören, dass sie sich entfernte. Was er dafür mitbekam war ihr rasender Herzschlag. Es zog Alexey geradezu zu der Stelle hin, wo er ihn ausmachen konnte, weshalb er schließlich auch darauf zu kroch, bis seine Fingerspitzen raues Holz berührten und seine kleine Kriegerin plötzlich so nahe war, dass er durch den winzigen Spalt unter der Tür hindurch einen Hauch von Jasmin erhaschen konnte.
Götter, der Trost, den ihm ihre Anwesenheit schenkte, drohte ihn beinahe zu überwältigen. Sein schwerer Atem geriet ins Stocken und er musste mehrmals heftig blinzeln.
„Es tut mir leid …“ Ihre sanfte Stimme klang unendlich traurig. Die Last der ganzen Welt schien auf ihren Schultern zu ruhen.
„Nicht … deine Schuld …“ Alexey ließ seinen schweren Kopf mit der Wange voran auf den kühlen Stein sinken. Zu sprechen schien ihm zusammen mit seinen aufwallenden Gefühlen noch den letzten verbliebenen Rest an Kraft aus dem Körper zu ziehen.
„Ich hätte …“ Sie schien um die richtigen Worte zu ringen, ehe sie schwer seufzte. „Mein Blut … es hätten dir helfen, ja?“
Alexey schluckte hart bei dem Gedanken, wie ihr köstliches Blut seine trockene Zunge benetzte und die entsetzliche Dürre in seiner Kehle beendete. Er konnte sich kaum noch an ihren Geschmack erinnern oder an den von Wasser.
„Nein … Es hätte dich … uns … verraten …“ Vielleicht wäre seine kleine Kriegerin gar nicht mehr am Leben, wenn sie ihm auf diese Weise geholfen und Hedera es herausgefunden hätte.
„Dann Wasser … Ich hätte dir Wasser –“
„Nein. Es hätte alles … verlängert.“ So wurde das, was er ohnehin nicht verhindern konnte, zumindest nicht unnötig in die Länge gezogen. Das Unvermeidliche blieb unvermeidbar, doch wenigstens würde es schneller gehen. Wie auch immer das hier endete.
„Lässt sie dich … sterben?“ Valerias Stimme war so leise, dass Alexey angestrengt lauschen musste, um sie zu verstehen.
„Nein.“ Er atmete einmal tief ein. „Sie lässt mich … aushungern, bis ich …vor Durst … wahnsinnig werde und dann …“ Alexey wollte den Gedanken nicht zu Ende spinnen. Alles in ihm weigerte sich.
„Und dann?“
Gequält verzog er das Gesicht. Es gab nicht viele Möglichkeiten. Dafür eine umso größere Wahrscheinlichkeit, dass seine kleine Kriegerin …
„… schickt sie jemanden … zu mir …“
„Für Blut?“
Alexey nickte schwach. Ihn erfasste plötzlich eine bleierne Schwere. Als hätte jemand eine Kutsche auf ihm abgestellt. Ebenso bedrückend war die sich ausbreitende Stille zwischen ihnen, da er nicht wirklich geantwortet hatte. Doch das musste er auch nicht. Valeria verstand auch so.
„Wann?“
„Ich weiß es … nicht. Eine Woche … vielleicht ein paar Tage mehr.“ Es war schwer zu sagen. Alexey hatte nie wirklich ausprobiert, wie weit er gehen konnte, bevor er tatsächlich vor Blutdurst wahnsinnig wurde und auch Hedera hatte ihr Spiel mit den Mädchen zu sehr genossen, um ihn zuvor vollkommen auszuhungern. Also hatte sie ihn gefüttert, ehe er wirklich gefährlich werden konnte. Zudem hatte sie nie lange zusehen können, wenn er verletzt gewesen war. Zumindest nicht in diesem Ausmaß. Doch nun hatte sie den blonden Schönling … Ihr widerliches Verlangen trieb sie also nicht länger an, ihn schnell wieder auf die Beine zu bringen, damit er sich zwischen den ihren nützlich machen konnte.
„Hast du dabei schon … töten?“ Die Frage kam so leise, dass Alexey sich nicht sicher war, ob er sie richtig verstanden hatte. Aber die Tatsache, dass sein Herz wie verrückt in seiner Brust pochte und sich kaltes Grauen über seinen Körper zu legen begann, reichte aus, um ihn zu einer Antwort zu bewegen. Einer ehrlichen Antwort.
„Ja.“ Wieder schluckte er trocken und mühte sich um eine kräftige Stimme oder zumindest um eine, die Valeria durch die dicke Holztür verstehen konnte. Dabei fühlte sich seine Zunge wie ein pelziger Fremdkörper in seinem Mund an, den er hin und her schob. „Hedera … spielt gerne. Blut von … zuvor getrunkenem Wein verunreinigt … entfesselt die Bestie … in mir.“ Ein Geständnis, das ihm auf keinen Fall leicht über die Lippen kam. Eigentlich wollten die Worte kaum aus Alexeys Mund und dennoch zwang er sich, weiterzusprechen. „So sollte es … nicht sein … sondern wie …“
„… bei uns?“, unterbrach seine kleine Kriegerin seine stockenden Worte. „Als du … mich beißen?“
Wieder nickte Alexey, wobei seine Wange über den rauen Stein an seinem Gesicht rieb. „Ja. Es soll … nicht wehtun und auch nicht … tödlich enden. Alles andere … ist nicht … richtig.“ Wider die Natur sozusagen, doch es war genau jene wahre Natur seines Wesens, die schon bald offengelegt werden würde. So Hederas Plan genau das vorsah, doch irgendwie bezweifelte Alexey, dass er sich in diesem Punkt irren könnte. Dafür kannte er seine Peinigerin zu gut.
Götter, er wollte nicht länger über diese Sache nachdenken und schon gar nicht darüber reden. Der körperliche Schmerz hielt ihn schon jetzt vollkommen am Boden, würde er auch noch darüber nachsinnen, was wäre, wenn Hedera seine kleine Kriegerin zu ihm schickte, sobald er wahnsinnig wurde …
Nein, er … konnte das im Augenblick einfach nicht.
„Valeria?“
„Ja?“
„Bitte … rede mit mir. Aber nicht … darüber.“
Wieder war das Rascheln von Stoff zu hören und ein weiterer schwacher Luftzug trug ihm den Duft seiner kleinen Kriegerin zu. Alexey ließ die Augen geschlossen und sog ihn tief in seine Lungen, während er an nichts anderes zu denken versuchte.
„Ich weiß nicht … worüber. Die Worte … fallen schwer.“
Sie klingt müde, dachte Alexey bei sich. Unendlich müde. Er konnte nur erahnen, wie schwer es für sie sein musste, sich auf eine andere Sprache zu konzentrieren, wenn einen die eigene Erschöpfung übermannte, und doch … Er wollte nicht, dass sie ihn schon verließ. Ihre Nähe, selbst durch diese Tür getrennt, linderte mehr als nur die Einsamkeit in seinem Herzen. Sie nahm ihm auch ein wenig von seinem Schmerz, da sie ihm etwas gab, auf das er sich konzentrieren konnte. Zumindest solange, bis sie ihn wieder verlassen musste.
Alexey schwieg eine Weile. Sie beide dachten darüber nach, worüber sie sprechen konnten, ohne die Stimmung noch weiter in den Abgrund zu ziehen. Im Grunde genommen war es auch sehr angenehm, sie einfach nur bei sich zu wissen. Keinen halben Meter von ihm entfernt saß seine kleine Kriegerin vermutlich am Boden, den Kopf am Rahmen der Tür gelehnt, damit sie zu ihm sprechen konnte. Oder eben auch nicht.
Die Stunden ohne sie würden sich bis ins Unendliche ausdehnen und ihn schneller verrückt machen, als es sein Blutdurst könnte.
„Kommst du … morgen Nacht erneut?“, hörte er sich zu seiner eigenen Verblüffung fragen, ehe Alexey sich hart auf die Zunge biss. Denn obwohl er sich so sehr nach seiner kleinen Kriegerin sehnte, dass er einfach alles nehmen würde, was er nur von ihr bekommen konnte, wollte er sie dennoch nicht in Gefahr bringen. Es war riskant, dass sie hier vor seiner Tür saß. Äußerst riskant und das sollte …
„Ich versuchen.“
Alexey verfluchte sein verdammtes Herz dafür, dass es bei ihren Worten vor Freude einen Satz machte. „Nein, es … Tut mir leid. Du solltest … nicht hier sein … Zu gefährlich … Egal, was ich … mir wünsche …“
„Ich wünsche mir auch, Alexey.“ War ihre Stimme näher gekommen?
Alexey hob mühsam den Kopf und gestärkt durch ihre Worte, zwang er seinen nutzlosen Körper noch ein wenig weiter über den Boden, bis seine Stirn schließlich das Holz der Tür berührte und er seine Hand flach darauf legen konnte. Er wünschte so sehr, er könnte sie berühren.
***
Vals Hand lag auf dem Holz der Tür, hinter der Alexey so endgültig weggeschlossen worden war, als wäre seine Kammer Fort Knox. Ihr liefen schon eine ganze Weile stumme Tränen über die Wangen, die sie von Zeit zu Zeit mit dem Zipfel der Wolldecke, in die sie gewickelt war, wegwischte. Aber es kamen immer wieder welche nach, sodass sie es langsam aufgab.
Den ganzen Tag hatte sie sich den Kopf zermartert, wie sie zu Alexey gelangen konnte, ohne dabei aufzufliegen. So viele Ideen sie auch gehabt hatte, ebenso viele hatte sie wieder verworfen, da eine verrückter als die andere gewesen war. Dabei war es im Grunde genommen simpel. Sie müsste nur das Schloss knacken. Ganz einfach. Nur leider wurde ihnen während des Medizinstudiums nicht beigebracht, wie man einen Dietrich benutzte oder antike Schlösser aufbrach. Das hatte nicht auf ihrem Lehrplan gestanden und auch früher war Val während ihrer Jugend nicht in den Genuss einer exzellenten Ausbildung als Einbrecherin gekommen.
An den Schlüssel selbst konnte Val aus offensichtlichen Gründen nicht rankommen und ob es einen Zweitschlüssel gab, wusste sie nicht. Aber selbst wenn, auch an diesen wäre sie nur schwer rangekommen, bedachte man, mit wem sie die meiste Zeit des Tages hatte verbringen müssen.
Letztendlich hatte Val es aufgegeben und noch nicht einmal den Versuch gestartet, irgendwie zu Alexey zu gelangen. Sie war so unglaublich erschöpft gewesen. Den ganzen Tag über, doch am Abend hatte ihre Müdigkeit sie regelrecht mit dem Vorschlaghammer niedergeschlagen, bis sie mitten in der Nacht aufgeschreckt war und nicht länger hatte schlafen können. Also war sie hierher geschlichen, in dem Wissen, dass sie vor dieser verdammten Tür bleiben würde und nichts für Alexey tun konnte. Zumindest fast nichts.
Obwohl er sie nicht hier haben wollte, weil er sich um ihre Sicherheit sorgte, war nur zu offensichtlich, dass er ihre Nähe brauchte. Er klang so unglaublich schwach und der Krach, der vorhin bis zu ihr durchgedrungen war, hatte sie fast zu Tode erschreckt. Als wäre er gestürzt. Er musste immer noch wahnsinnige Schmerzen haben und inzwischen auch stark dehydriert sein. Der Mangel an Nahrung war weniger ein Problem. Menschen konnten eine ganze Weile ohne Essen auskommen. Aber ohne Flüssigkeit und dann auch noch mit seinen Verletzungen …
Nur das Alexey kein Mensch war und je mehr er darüber erzählte, was seiner wahren Natur entsprach, umso mehr neigte Val dazu, ihm zu glauben. Scheiße, eigentlich musste sie verrückt sein, wenn sie ihm nach allem, was sie wusste, nicht glaubte.
Dennoch war sie froh, als er nicht länger über die Sache mit dem Blut, dem Trinken und dem Töten reden wollte. Allein daran zu denken, bescherte ihr eine Gänsehaut und Val wollte sich diese Horrorvorstellung nicht unbedingt öfter geben, als zwingend notwendig. Überhaupt wollte sie im Moment nicht an die kommenden Tage und Nächte denken. Denn vielleicht irrte Alexey sich ja und diese miese Schlampe würde ihren Verstand wieder finden und diese beschissene Tür öffnen, damit Alexey ausreichend versorgt werden konnte. Wenn auch nur mit genügend Wasser.
Träum weiter.
Val unterdrückte einen deftigen Fluch und wischte sich grob die Nässe von den Wangen. Er wollte, dass sie über irgendetwas sprach. Doch über was? Sie war immer noch so verdammt müde, dass sie auf der Stelle hätte einschlafen können, wenn der Adrenalinpegel in ihrem Blut nicht beständig dafür gesorgt hätte, dass sie wach blieb und immer wieder horchte, ob nicht vielleicht doch jemand in den hintersten Teil des Flurs kam, in dem Alexeys Kammer lag.
„Valeria … Kannst du mich … deine Worte lehren?“
Die Frage kam so überraschend, dass Vals Kopf wieder in Richtung Tür ruckte. „Jetzt?“
„Ja. Wenn du nicht … zu müde.“
Eigentlich war sie viel zu müde, doch wenn reden alles war, was sie für Alexey tun konnte, dann würde sie verdammt noch mal genau das tun. Nur wo anfangen?
„Beim Anfang“, schlug Alexey vor, sodass Val erst dadurch bewusst wurde, dass sie ihre Frage laut ausgesprochen hatte.
„Wie stellt man sich … vor?“, wollte er wissen und Val erklärte es ihm.