Val wusste nicht, wie lange sie bereits dastand und Kores leblose Gesichtszüge studierte.
Ihr Atem ging inzwischen jedoch wieder ruhig und ihre Arme hatten sich von der massiven Kraftanstrengung – in gleichmäßigem Takt gegen Kores Brustkorb zu drücken – weitestgehend erholt.
Sie hatte lange um ihre Freundin gekämpft; sich in dem Gefühl eines grausamen Déjà-vus verloren und dabei ihre körperlichen Grenzen über die Maßen strapaziert. So wie sie es schon einmal bei Daniel getan hatte.
Vergeblich.
Auch Kore war tot.
Nichts auf der Welt konnte daran noch etwas ändern.
Vals starrer Blick fiel auf ihre blutverschmierten Hände, die immer noch die kalte Hand ihrer Freundin hielten, ehe sie für einen Augenblick ihre brennenden Augen schloss.
Was hatte sie nur übersehen? Hatte sie Kore tatsächlich nicht gründlich genug untersucht?
Schloss die Tatsache, dass ihre Freundin äußerlich keine Anzeichen von sexueller Gewalt aufgewiesen hatte, tatsächlich grobe Gewalteinwirkung auf ihre inneren Organe aus?
Warum war Kore dann allem Anschein nach innerlich verblutet?
Ihr Blick war eiskalt wie das Gefühl in ihrer Brust, als Val wieder hoch und Alexey direkt ansah, der kaum zwei Meter vor ihr stand und sie die ganze Zeit über still beobachtet hatte. Ihren verzweifelten Kampf um Kores Leben, und auch die darauffolgende erschütternde Niederlage, als es ihr nicht gelungen war, ihre Freundin zurückzuholen.
Keine Regung an ihm verriet seine Gedanken oder Gefühle.
Einen Moment lang war Val versucht, ihm über den Leichnam ihrer Freundin hinweg an die Kehle zu gehen und ihn für Kores Tod zu bestrafen. Ob er nun daran schuld war oder nicht, spielte dabei keine allzu große Rolle. Sie wollte einfach nur nicht länger diese eisige Kälte in ihrer Brust spüren, die ihr Herz immer fester zu umschlingen begann und sich stattdessen einfach heißer Wut hingeben.
Es stand außer Frage, dass Alexey körperlich dazu in der Lage gewesen wäre, ihrer Freundin so etwas anzutun, auch ohne deren Wissen oder Einverständnis, schließlich hatte Kore sich an nichts mehr erinnern können.
Vielleicht war diese Amnesie sogar Folge eines schweren psychischen Traumas gewesen?
Aber dann hätte Kore gerade unmittelbar nach der Tat bluten müssen und nicht erst drei Tage später.
Natürlich könnte Alexey ihr das Blut abgewaschen und Kore ihr eine spätere Blutung verschwiegen haben, doch hatte sich ihre Freundin nicht im Geringsten beklagt. Es war ihr den Umständen entsprechend gut gegangen, und wenn schon nicht ihr, so hätte doch zumindest Ceara etwas auffallen müssen, die sehr viel mehr Zeit mit Kore verbracht hatte, als es Val möglich gewesen war. Doch auch sie hatte nichts erwähnt.
Was also war passiert?
Die Frage ließ ihr einfach keine Ruhe ...
Da Val von Alexey mit Sicherheit keine Antwort darauf bekommen würde, was in jener Nacht wirklich mit Kore in diesem verdammten Zimmer geschehen war, und sie ihm ohnehin nicht glauben würde, egal wie die Antwort ausfiele, ließ sie es ganz bleiben. Stattdessen löste sie langsam ihre verkrampften Finger von Kores Hand, warf einen flüchtigen Blick zu Rashad hinüber, der immer noch Ceara zu trösten versuchte, und machte sich stattdessen entschlossen ans Werk, ihre eigenen Antworten zu finden.
Zuerst suchte Val etwas, das sie als Stütze für Kores Oberkörper hernehmen konnte, und fand diese in Form einer kleinen Holzschatulle, die ihren Zweck erfüllen würde.
Danach schaffte sie einen kleinen Beistelltisch heran, auf dem sie dann nacheinander eine große Schüssel, eine wesentlich kleinere Schale, ausreichend saubere Tücher und einen Krug mit frischem Quellwasser vorbereitete.
Rashad sah ihr dabei wortlos zu, wie Val sich einfach in seinen Arbeitsräumen bediente. Er ließ sie gewähren, vermutlich in der Annahme, sie wolle den Leichnam ihrer Freundin säubern und ihn somit für die wie auch immer geartete Bestattung vorbereiten.
Wie sehr er sich doch irrte, würde er schon bald herausfinden.
Auf einem zweiten Beistelltisch, den Val auf ihrer anderen Seite platzierte, rollte sie schließlich ein ledernes Bündel aus, das einen Teil von Rashads feinsäuberlich aufgereihter Arbeitsutensilien offenbarte und ihn nun doch skeptisch aufschauen ließ, als er es bemerkte.
Es war Vals Glück, dass sie ihn einmal dabei beobachtet hatte, wo und wie er seine feinsäuberlich gepflegten Instrumente aufbewahrte, die sie nun so dringend für ihr Vorhaben benötigte.
Sobald sie nach dem für ihre Zwecke geeigneten Messer griff, das überraschend große Ähnlichkeit mit einem modernen Skalpell aufwies, löste Rashad sich von Ceara und eilte auf Val zu, bis sie ihm die frischgeschärfte Klinge vor die Nase hielt und er mit beschwichtigend erhobenen Armen stehenblieb.
Val verstand seine leise gesprochenen Worte nicht, die sie offenbar beruhigen sollten, und sie wollte es auch gar nicht. Stattdessen schnitt sie ihm mit einem glatten „Genug!“, das Wort ab und deutete dann mit ihrem Kinn zur Tür.
„Holen Ceara vor Tür!“
Holen? Nein, das war nicht das richtige Wort und auf die Schnelle, wollte es ihr auch nicht über die Lippen kommen, weshalb sie noch nachdrücklicher mit dem Skalpell zuerst zu ihrer Freundin und dann zur Tür deutete.
„Ceara. Vor Tür!“
Rashad reagierte nicht darauf, stattdessen versuchte er erneut, beschwichtigend auf sie einzureden, bis es Val endgültig reichte.
Sie setzte sich die Klinge an ihre eigene Kehle.
„Sofort!“ Ihre Stimme war kalt und befehlsbetont. Sie duldete keine Widerrede.
Die Augen des Arztes weiteten sich zunächst noch ungläubig, doch die stille Drohung zeigte schließlich seine Wirkung, woraufhin er beinahe über seine eigenen Füße stolperte, um Vals Forderung umgehend nachzukommen und die vor Trauer betäubte Ceara endlich vor die Tür brachte.
Ihre Freundin musste das hier nicht mit ansehen. Selbst Val durfte nicht zu sehr über ihr Vorhaben nachdenken, sonst wäre sie nicht dazu im Stande, es durchzuziehen. Doch das musste sie, wenn sie zumindest eine ihrer vielen Fragen beantwortet haben wollte.
Sie musste wissen, was die wahre Ursache für Kores Tod und bei wem die Schuld zu suchen war.
Kaum dass Rashads Kahlkopf zur Tür hinaus war, nahm Val das Messer von ihrer Kehle und richtete es stattdessen auf Alexey, den die ganze Aktion nicht im Geringsten beeindruckt zu haben schien.
„Licht!“ Sie deutete auf den Kerzenständer, der ihm am Nächsten stand, und sah ihn auffordernd an.
Im Gegensatz zu dem Arzt, schien er keinerlei Probleme damit zu haben, ihre Anweisungen zu verstehen und sie auch zu befolgen, was Val für einen Moment sogar wunderte, doch nur soweit, wie es ihre absolute Konzentration zuließ.
Als er mit dem zusätzlichen Licht an den Untersuchungstisch herangetreten war und Val den ersten Schnitt ausgehend von Kores linkem Schlüsselbein setzte, kam Rashad zurück, der bestürzt von ihrem Vorhaben wild gestikulierend auf sie zugestürmt kam, bis Alexeys Hand an seiner Brust ihn nicht nur zum Schweigen, sondern auch nachdrücklich wieder etwas auf Abstand brachte.
In diesem Moment war Val dem Hünen sogar dankbar dafür. So konnte sie auch den zweiten, sehr viel kürzeren Schnitt von Kores anderem Schlüsselbein ausgehend mit ruhiger Hand vollführen und schließlich zu Rashads noch größerem Entsetzen den Leichnam öffnen.
Der grausige Anblick ließ den Arzt regelrecht erbleichen.
Val kümmerte es nicht. Sie war viel zu sehr auf ihr Vorhaben fixiert.
Wie sie es schon geahnt hatte, war Kores Bauchhöhle voll mit Blut, sodass Val das Skalpell weglegen und zuerst einmal weitestgehend die Organe mit dem vorbereiteten Wasser und den Tüchern säubern musste, ehe sie sich auf die Suche nach dem Grund für diese massive Einblutung machen konnte.
Es dauerte eine ganze Weile, das viele Blut ganz ohne moderne Technik auf diesem primitiven Weg zu entfernen. Die ganze Zeit über spürte Val dabei nur zu genau die angespannten Blicke der beiden Männer auf sich ruhen.
Alexeys Schweigen war sie gewohnt, doch auch Rashad schienen ihre Taten und vor allem der routinierte Umgang mit einer menschlichen Leiche endgültig die Sprache verschlagen zu haben. Das war auch gut so. Val musste sich voll und ganz auf die Bewegungen ihrer Hände konzentrieren. Jede Ablenkung hätte vermutlich die zerbrechliche Ruhe in ihrem Inneren zerstört und sie womöglich ins Chaos gestürzt. Zumindest jetzt durfte sie sich das noch nicht erlauben. Später war immer noch die Zeit, um zu trauern.
Nachdem Val endlich freie Sicht hatte, begab sie sich auf die Suche nach inneren Verletzungen angefangen bei den Geschlechtsorganen, die sie zuerst in Verdacht hatte.
Sie wurde sogar überraschend schnell fündig, jedoch nicht, was ihre Vermutung die äußerliche Gewalteinwirkung betreffend anging, stattdessen hatte Kores Tod letzten Endes eine gänzlich andere sehr viel unerwartetere Ursache.
Ihr rechter Eileiter war vollständig durchtrennt, beinahe regelrecht auseinandergerissen worden, darum auch die starke Einblutung in die Bauchhöhle und der damit rasch eingetretene Tod.
Nicht unweit davon entfernt fand Val schließlich auch den Urheber für diese tödliche Verletzung. – Ein fremdes, kleines Gewebestück, das sie vorsichtig in die vorbereitete Schale legte und mit klarem Wasser abspülte.
Der Anblick, der sich ihr kurz darauf offenbarte, war beinahe zu viel für sie.
Val musste sich ein paar Schritte vom Behandlungstisch entfernen und mehrmals tief durchatmen, dabei immer noch das Bild des kleinen Würmchens vor Augen, das ungewollt den Tod seiner Mutter und somit auch seinen eigenen verursacht hatte.
Kore starb an einer nicht entdeckten Eileiterschwangerschaft, die infolgedessen zu einem Eileiterbruch geführt hatte.
Für diesen unglücklichen Zustand konnte niemand etwas. Nicht einmal das verdammte Arschloch, das sie vor ungefähr sieben bis acht Wochen geschwängert haben musste, der Größe des Embryos nach zu urteilen.
Verdammt noch mal, Val hatte nicht einmal gewusst, dass Kore überhaupt schon Sex gehabt hatte, geschweige denn schwanger gewesen war!
Was war ihr noch alles entgangen?
Val erstarrte sowohl innerlich als auch äußerlich.
War Kore etwa auch vergewaltigt worden? So wie Vanadis?
Ihr Verdacht fiel zuerst für einen flüchtigen Augenblick auf Alexey, dem sie vor kurzem noch so eine Tat zugetraut hätte; doch den Gedanken verwarf Val so schnell wieder, wie er gekommen war. Es war einfach zu absurd.
Die Eiskönigin würde ihm niemals erlauben, mit einer anderen Frau zu schlafen, ob in ihrem Beisein oder nicht war hierbei egal. Dafür war sie viel zu besessen von ihrem menschlichen Sexspielzeug und die Natur ihrer Eifersucht bestimmt tödlich für jede Art von Nebenbuhlerin.
Außerdem hielt Val Alexey noch immer nicht für einen Mann, der sich einer Frau einfach so aufdrängte, schon gar nicht, nachdem er selbst zu wissen schien, wie sich das anfühlte.
Eigentlich gab es hier unter diesem Dach nur einen Mann, der ihr in den Sinn kam, dem sie so etwas zutraute und von dem sie auch wusste, dass er keine Bedenken hatte, Frauen zu vergewaltigen.
Der Perverse hatte wirklich Glück, dass er sich derzeit nicht in der Villa aufhielt.
Gerade in diesem Augenblick war Val nicht vernunftbegabt genug, um das Schwein, das sich wahrscheinlich auch an Kore vergangen hatte, einfach so davonkommen zu lassen. Schon gar nicht, wenn sie dabei an ein Skalpell herankam.
Im Grunde genommen änderte es jedoch nichts an der momentanen Situation. Kore war unwiederbringlich tot. Doch zumindest kannte Val nun den wahren Grund dafür, und vor allem, bei wem die Schuld daran zu suchen war.
Indirekt natürlich bei dem perversen Schwein, das ihre Freundin mit hoher Wahrscheinlichkeit geschwängert hatte, doch auch Val war nicht ganz frei von Schuld.
Wenn sie rechtzeitig über Kores Zustand bescheid gewusst hätte, hätte sie vielleicht sogar unter diesen primitiven Bedingungen, die hier vorherrschten, ihrer Freundin das Leben retten können.
Sie war sich da sogar fast sicher.
Doch Val war nichts aufgefallen, bis es zu spät war.
Ihre eigene Nachlässigkeit im Umgang mit ihrer Freundin hatte Kore am Ende das Leben gekostet.
Natürlich könnte Val sich damit herausreden, dass sie gar nicht die Möglichkeit gehabt hatte, sich ihre Freundin gründlicher anzusehen und entsprechend zu reagieren, doch das waren nur Ausflüchte.
In dem sie es zuließ, dass ihr Leben von anderen bestimmt wurde, gab Val vielleicht ihre Freiheit auf, doch nicht ihre Verantwortung gegenüber den Menschen, die ihr etwas bedeuteten.
Sie hatte fahrlässig gehandelt und Kore dafür den Preis bezahlt, so wie es Vanadis zuvor schon getan hatte.
Gerade als Val glaubte, auf der Stelle an der noch weiter zunehmenden Kälte in ihrem Inneren erfrieren zu müssen und nie wieder atmen zu können, legte sich eine große Hand unglaublich warm auf ihre Schulter. Tröstend – obwohl sie so etwas wie Trost absolut nicht verdient hatte.
Rashads gefühlvolle Geste verfehlte völlig seine Wirkung, nur ... dass er ihr nicht seine Hand auf die Schulter gelegt hatte, sondern sich stattdessen einige Schritte von ihr entfernt gerade über die Schale mit dem toten Embryo beugte, um diesen besser betrachten zu können.
Vals Blick richtete sich nun doch auf die Hand, die sie da berührte, wanderte den muskulösen Arm hinauf über eine ziemlich breite Schulter und prallte schließlich an der blankpolierten Oberfläche einer dämonischen Fratze aus Metall ab.
Alexey ...
Erst als Val spürte, wie sein Blick den ihren erwiderte, obwohl sie seine Augen in den dunklen Höhlen seines Helms nicht erkennen konnte, wurde ihr wirklich bewusst, dass weder der Gedanke an seinen Namen noch seine Nähe irgendeine Emotion in ihr auslöste.
Sie empfand einfach nichts mehr.
Lediglich das simple Gefühl von Wärme auf ihrer kalten Haut konnte sie spüren, der sie sich schließlich aber entzog, um zu Kores Leichnam zurückzukehren.
Es war an der Zeit, ihre Freundin wieder zuzunähen, und sie nun tatsächlich für eine Bestattung vorzubereiten. Alles andere konnte warten. Selbst Vals Trauer und die damit verbundenen Schuldgefühle.
***
„Die Sklavin ist tot?!“
Hedera drehte sich so unvermittelt auf dem kleinen Hocker zu Rashad herum, dass Briseis beinahe die blonde Perücke fallenließ, welche sie ihrer Herrin soeben hatte aufsetzen wollen.
Auch der Medikus zuckte überrascht von der unerwartet heftigen Reaktion auf seine düstere Nachricht zusammen.
Keiner von beiden konnte wissen, was Kores Leben für Hedera inzwischen bedeutet und wie sehr sie Alexey dadurch in der Hand gehabt hatte.
Diese Bürde war ihm mit dem Tod der jungen Sklavin nun wieder genommen worden, doch es änderte nichts an der Tatsache, dass diese Erleichterung keine war und zudem äußerst bitter schmeckte. So wie der Geschmack von verwelktem Jasmin, den Alexey immer noch auf der Zunge zu haben glaubte.
Nicht nur Kore war heute Nacht gestorben, sondern mit ihr auch etwas im Herzen der kleinen Kriegerin.
Es war in jenem Moment geschehen, als Valeria ihre bebenden Hände vom Brustkorb ihrer Freundin genommen und somit den Kampf um ihr Leben schließlich endgültig aufgegeben hatte.
Die Veränderung war so schwer fassbar, wie sie dennoch offensichtlich gewesen war.
Immerhin hatte es die kleine Kriegerin vermocht, selbst ihn mit ihrer überraschend blutigen Tat zu schockieren und doch war ihm schon in dem Moment die Gewichtigkeit ihres Tuns bewusst geworden, als sie sich selbst die Klinge an den Hals gesetzt und den Medikus dadurch zum Handeln gezwungen hatte.
Valeria war keine gewöhnliche Frau.
Nichts hätte das klarer zeigen können, als jene Momente, in denen sie mit ruhiger und entschlossener Hand vollkommen nüchtern und frei von Emotionen, den Körper ihrer eigenen Freundin aufgeschnitten und mit einem ganz bestimmten Ziel vor Augen nach dem Grund für deren unerwarteten Tod gesucht hatte.
Sie hatte ihn tatsächlich gefunden, doch schien das Wissen darum, die Veränderung in ihr nur noch weiter vorangetrieben zu haben.
Alexey hatte sich beim Anblick der kleinen, bebenden Gestalt mit den blutverschmierten Händen nicht länger zurückhalten können.
Er hatte versucht, der kleinen Kriegerin zumindest etwas Trost zu spenden, so wenig es von seiner Hand auch gewünscht sein mochte, doch sie hatte ihn einfach nur angesehen.
Die Glut in ihren Augen schien erloschen, jede Regung von Gefühl aus ihren Zügen verschwunden zu sein. Was am Ende noch zurückgeblieben war, war Leere und der Geschmack von welkem Jasmin in seinem Mund.
„Woran ist sie gestorben?“
Hederas Frage riss Alexey wieder aus seinen tiefen Gedanken und zugleich beschleunigte sie seinen Herzschlag.
Mit angehaltenem Atem fieberte er der Antwort des Medikus entgegen, die so vieles verändern konnte, nachdem was Valeria getan hatte.
„Sie hatte eine schwere Fehlgeburt“, log Rashad ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. „Es gab Komplikationen, infolgedessen Kore verblutet ist.“
Alexey wollte schon erleichtert aufatmen, als Hederas Blick plötzlich auf ihn fiel und ihn noch weiter erstarren ließ.
„Sie war also schwanger?“ Ihre schmale Augenbraue zog sich wissend in die Höhe, bevor sie sich wieder an Rashad wandte. „Hatte ich dir nicht strickte Anweisungen gegeben, dich um derlei unnützen Ballast zu kümmern, so bald er im Entstehen begriffen ist? Ich dulde keine lärmenden Bälger unter meinem Dach, egal wie locker der Schwanz meines Mannes hängt.“
„Vergib mir, Herrin.“ Der Medikus spielte die Rolle des zerknirschten Untergebenen in der Tat vortrefflich. „Bis vor dieser Nacht wusste ich nichts vom Zustand der Sklavin.“
„Dann rate ich dir, in Zukunft besser darauf zu achten, und jetzt verschwinde!“ Hedera machte eine unwirsche Handbewegung, die zusammen mit dem Geruch ihrer Wut nur allzu deutlich verriet, wie wenig erfreut sie über diese Entwicklung aber auch über die nächtliche Störung war.
An Briseis gewandt befahl sie: „Schaff den dürren Hintern der kleinen Ägypterin her. Sie soll gefälligst um ihre Freundin trauern, wenn ich sie nicht mehr brauche. Bis dahin hat sie hier zu sein, wenn man mich schon vor Tagesanbruch aus dem Bett holt!“
„Sehr wohl, Domina.“
Briseis ließ sofort alles stehen und liegen, um hinter Rashad den Raum zu verlassen, sodass Alexey mit Hedera schließlich alleine war.
Sie erhob sich von dem kleinen Hocker vor ihrem Frisiertisch und legte stattdessen ihre Hände an Alexeys Helm, um ihm diesen vom Kopf zu ziehen.
Seine Gesichtszüge verhärteten sich vollends, noch bevor Hedera auch nur ein Gefühl aus ihnen herauslesen konnte.
„Du wusstest, um den Zustand dieser armseligen Sklavin und hast sie deshalb verschont, nicht wahr?“
Alexey rührte sich nicht. Atmete noch nicht einmal.
Hedera schien es dennoch als Antwort zu genügen.
„Selbst nach so vielen Jahren schlägt immer noch ein mitfühlendes Herz in deiner Brust.“ Sie schnaubte angewidert.
„Das ist so erbärmlich. Als stünden wir wieder am Anfang und als wärst du erneut der leichtgläubige Jüngling von damals, der die Scheiße, die um ihn herum geschieht, entweder nicht sehen oder wahrhaben will.“
Alexey entließ seinen angehaltenen Atem in einem wilden Knurren, nachdem sie so ungerührt in dieser alten Wunde gebohrt hatte, ehe er Hedera leise fauchend entgegen schleuderte: „Ich sehe und leugne nicht, was direkt vor mir steht!“
Für einen Moment machte sie seine unerwartete Erwiderung tatsächlich sprachlos, doch Hedera erholte sich nur allzu schnell wieder von der Überraschung.
„Du klopfst große Sprüche, doch in Wahrheit haben deine Worte keinen Bestand!“
Grob packte sie sein Kinn und zog ihn daran ein Stück weit zu sich herunter, damit sie ihm besser in die Augen sehen konnte.
„Hätte ich vor so vielen Jahren an deiner Stelle deine Kraft, deine Schönheit und vor allem deinen Schwanz besessen – die Welt wäre mir zu Füßen gelegen. Doch schon damals hattest du nicht die Eier dazu, dich zu etwas Höherem aufzuschwingen; dich aus der Menge hervorzutun und die Macht zu ergreifen, die dir so offen dargeboten wurde. Stattdessen hast du dich von deiner einzigen Schwäche leiten und dich von mir so überaus leichtfertig unterwerfen lassen.“
Hedera lächelte boshaft und ließ von ihm ab, nachdem sie Alexey den Helm in seine vor Wut bebenden Hände gedrückt hatte.
„Es gab Momente, da hast du mir mit deiner naiven Verliebtheit sogar fast leidgetan.“
Sie nahm wieder auf dem kleinen Hocker Platz und griff nach dem kleinen Spiegel auf dem Tisch, um sich selbst die Augen zu schminken.
„Aber eben nur fast.“
Alexey setzte sich den Helm wieder auf, ehe er wütend seine Fänge bleckte.
So hart Hederas Worte auch waren, entsprachen sie doch der Wahrheit, und das war eine Tatsache, die er ebenfalls nicht leugnen konnte.
„Der Tod dieser Sklavin ist zwar bedauerlich“, begann sie ganz unvermittelt von Neuem, „jedoch spielt das schon bald keine Rolle mehr. In zehn Tagen steht wieder ein schwarzer Mond am Himmel, und ich bin äußerst zuversichtlich, dass das feurige Blut dieser kleinen Ägypterin dir dieses Mal auch noch den letzten kümmerlichen Rest deines Widerstands austreiben wird. Mit etwas Glück vielleicht sogar dein erbärmlich mitfühlendes Herz.“
***
Val fühlte sich mehr denn je in einem immerwährenden Alptraum gefangen, dem sie einfach nicht entkommen konnte.
Die Welt schien ihre Farben, Gerüche, Geschmäcker und vor allem auch all ihre Wärme verloren zu haben. Alles, was blieb, war kalte Leere und das Gefühl niederschmetternder Schuld.
Val ertrug es kaum, in der Nähe ihrer letzten verbliebenen Freundin zu sein, welche gerade die ihre so dringend suchte und brauchte.
Nachts lagen sie zu zweit und doch verlassen in ihrer kleinen Kammer eng aneinandergekuschelt da. Ceara erschöpft vom vielen Weinen tief und fest schlafend, während Vals offene Augen starr in die Dunkelheit blickten und doch soviel mehr sahen als die Schwärze der Nacht.
Sie sah Vanadis' Kopf getrennt von ihrem Körper über den Boden rollen.
Sie sah Kores offendaliegenden Leib.
Sie sah ... das kleine Leben in dieser kalten Schale liegen, in die sie es selbst gebettet hatte.
So viel gab es da, das bei diesen Erinnerungen in ihr hochkommen wollte und doch nicht durch die dicke Eisschicht in ihrem Inneren hindurch kam.
Val hatte für Kore keine einzige Träne vergossen. Sie konnte einfach nicht.
Zu weinen, bedeutete zu trauern. Zu trauern, bedeutete Erleichterung zu erfahren.
Sie hatte keine Erleichterung verdient, hatte sie doch nichts unternommen, um ihre Freundinnen zu beschützen.
Dafür war Val dazu verdammt, weiterzumachen, und die leeren Tage an der Seite einer Frau zu verbringen, für die sie bloß Verachtung übrig hatte. Unfähig zu fliehen, oder wenigstens Ceara zu retten.
Stattdessen ließ sie es zu, dass man sie wie eine Figur auf einem Spielbrett hin und her schob, über ihren Kopf hinweg über sie bestimmte, ohne dass sie sich auch nur einmal dagegen auflehnte.
Val hatte keine Kraft mehr zu kämpfen.
Nicht einmal dann, als die Pläne der Eiskönigin für sie etwas vollkommen Neues vorsahen.
Es hätte ihr Misstrauen wecken sollen, als eines Tages nicht Alexey, sondern die Sklaventreiberin Gràinne vor ihrer Tür stand, um sie abzuholen, und das etliche Stunden später, als sie es gewohnt war.
Wortlos nahm Val es einfach hin; ließ sich von der älteren Frau wegbringen, keinen Gedanken daran verschwendend, wohin diese sie führte oder was dort auf sie wartete. Es hatte ohnehin keine Bedeutung mehr.
Nicht einmal der Anblick des antiken Badezimmers konnte noch irgendein Gefühl in Val wecken, selbst dann nicht, als sie selbst es war, die man in das mit warmem Wasser gefüllte Becken führte, nachdem man sie von dem metallenen Ring um ihren Hals befreit hatte.
Briseis war da und auch die beiden anderen Sklavinnen, die für das Badewasser zuständig waren.
Unter dem strengen Blick der Sklaventreiberin wurde Val von den Dreien eingeseift, geschrubbt, durchgeknetet und so akribisch von jedem noch so winzigen Schmutzpartikel befreit, als würde deren Leben von Vals Sauberkeit abhängen.
Danach wurde sie abgetrocknet und auf eine steinerne Bank verfrachtet, wo sie es schweigend hinnahm, wie man ihr mit einer klebrigen Paste zu Leibe rückte, mit der man sie vom Hals abwärts von sämtlicher Körperbehaarung befreite.
Es war eine äußerst unangenehme Prozedur, vor allem, als die drei Frauen ihr anschließend auch noch mit Pinzetten zusetzten, um auch wirklich kein Haar mehr stehenzulassen.
Nachdem das Werk vollbracht war, landete Val erneut im Wasser und musste sich ein weiteres Mal von aufdringlichen Händen am ganzen Körper waschen lassen, bis die Sklaventreiberin sich endlich zufriedengab.
Danach rieb man Val mit wohlduftenden Ölen ein, trocknete gründlich ihr langes Haar, kämmte es und hüllte sie schließlich in einen seidenen Umhang von solch roter Farbe, dass sie sich an das Märchen vom Rotkäppchen erinnert fühlte.
Wer wohl der böse Wolf war, der am Ende auf sie wartete?
Val bekam schon bald die Antwort darauf: Es waren mehrere Wölfe.
Genauer gesagt brachte die Sklaventreiberin sie zur Eiskönigin und deren drei Freundinnen, die bereits seit zwei Tagen in der Villa residierten und irgendetwas zu feiern schienen.
Zumindest wirkten die vier Frauen vom vielen Wein, der bereits geflossen sein musste, deutlich angeheitert, und die Stimmung im Raum war ausgelassen.
Von Alexey fehlte jede Spur, dafür hielten Claudius und das brutale Schwein Cicero Wache.
Erst als die Queen Val vor den Augen der beiden Männer den Umhang wegnahm und sie für alle gut sichtbar entblößte, begann sich so etwas wie Widerstand in ihr zu regen.
Claudius besaß noch so viel Anstand, etwas unsicher von einem Bein auf das andere zu treten und immer wieder seinen Blick zu senken, doch Cicero verschlang sie ganz offen mit seinen gierigen Augen.
Val wurde schlecht.
Erst recht, als die wild durcheinander plaudernden Frauen sie einzukreisen und schamlos zu betatschen begannen. Nicht auf sexuelle Art und Weise, sondern viel mehr so, als ob sie Val wie Vieh begutachten und ihren Kommentar dazu abgeben würden.
Dabei sprachen sie so schnell durcheinander, dass sie kein relevantes Wort von ihnen verstand.
Gefühlte Stunden später ließen sie endlich von ihr ab, setzten sich und tranken noch etwas Wein, während sie sich unterhielten, bis die Stimmung mit einem Schlag kippte, die Frauen wie auf ein stilles Zeichen reagierend verstummten und zeitgleich ihre Köpfe zu Val herumdrehten.
Ihr kroch bei diesem unheimlichen Anblick eine Gänsehaut über den Körper, der keinen Moment später von einem Adrenalinschub durchflutet wurde, als die Eiskönigin sich mit ernstem Gesichtsausdruck erhob und die beiden Wachen zusammen mit den restlichen Sklavinnen aus dem Raum schickte.
Auch ihre drei Freundinnen blieben nicht untätig, begannen sich im Raum zu verteilen, zündeten zusätzliche Kerzen und Räucherwerk an, während die Queen selbst schließlich mit einer goldenen Schale und einem Dolch bewaffnet auf sie zukam.
Val wollte vor ihr zurückweichen, doch Hände packten sie von hinten und hielten sie fest.
Die Eiskönigin lächelte unheilverkündend.
Anstatt Val jedoch mit der Klinge die Kehle durchzuschneiden und ihr Blut mit der Schale aufzufangen, stach die Queen ihr lediglich mit der Spitze des Dolchs in den Finger und ließ ein paar Tropfen ihres hervorquellenden Blutes in die bereits mit roter Flüssigkeit gefüllte Schale fallen.
Wessen Blut war das, wenn nicht ihres? War es überhaupt Blut?
Val wusste es nicht und kurz darauf wollte sie es auch gar nicht mehr so genau wissen, denn nachdem die Eiskönigin mit ihrem Zeigefinger ausgiebig in der roten Flüssigkeit herumgerührt hatte, begann sie damit, Symbole in Vals Gesicht zu malen, und dabei in einer vollkommen fremden Sprache irgendetwas zu murmeln.
Die rote Farbe verursachte ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut, während sie trocknete, und obwohl Val nichts lieber getan hätte, als sich das Zeug sofort abzuwaschen, zwang man sie dazu, stillzuhalten und die sich wiederholende Prozedur von Neuem zuzulassen, während die vier Frauen auf diese Weise Vals gesamten Körper nach und nach mit runenartigen Symbolen überzogen.
Als sie endlich damit fertig waren, drückte man Val einen Becher mit Wein in die Hand, den sie leeren sollte.
Immer noch hatte sich ihr Magen nicht beruhigt. Ganz im Gegenteil war Val inzwischen total schlecht bei dem Gedanken, diese Weiber hätten sie mit Blut vollgeschmiert, und dennoch zwang sie sich dazu, den Becher leerzutrinken, nachdem sie noch allzu deutlich die Erinnerung im Kopf hatte, was das letzte Mal passiert war, als sie sich geweigert hatte.
Bei der Flüssigkeit handelte es sich um extrem starken Gewürzwein, der sie auf ihren nüchternen Magen schon nach kurzer Zeit schwindeln ließ.
Jemand musste Val stützen, da sich ihre Beine plötzlich wie Gummi anfühlten und sich die Welt um sie herum zu drehen begann.
Man warf ihr erneut den seidenen Umhang über, kurz bevor sie aus dem Raum geführt wurde.
Vals Übelkeit wurde stärker, während ihr zugleich immer weiter die Sinne schwanden, bis sie es nicht länger aushielt.
Zum Glück befand sie sich im Freien, als sie sich von den Armen, die sie hielten, losriss und sich wenige Schritte später heftig übergab, um das grauenvolle Zeug wieder loszuwerden.
Das Würgen klärte zumindest etwas ihre Gedanken und weckte ihre Lebensgeister, die sofort auf die groben Hände reagierten, die sie erneut zu packen versuchten.
Sie gehörten zu Cicero, der sie dreckig angrinste, bis Val ihm ihre Faust gegen sein Ohr donnerte und erneut zu entkommen versuchte, als er vor Schmerz aufheulte.
Leider erholte er sich viel zu schnell wieder von ihrem Angriff, bekam sie an der Hand zu fassen und riss sie brutal zu sich herum.
Er traf sie mit voller Wucht am Kinn.
Sterne explodierten vor Vals Augen. Danach folgte Dunkelheit.