Das Feuer fraß sich langsam durch das trockene Holz des Scheiterhaufens, bis es auf die in Öl getränkten Leinenstreifen traf, die es gierig zu verschlingen begann.
Der Geruch von verbranntem Fleisch breitete sich schnell in der weitläufigen Höhle aus, während natürliche Löcher in der Decke als Abzug für den schwarzen Rauch dienten und dafür sorgten, dass Alexey nicht einfach erstickte.
Vor Jahren hatte er diesen geheimen Ort durch Zufall entdeckt und nun schickte er hier seine Opfer durch die reinigenden Flammen auf ihre letzte Reise. Später kam er zurück, um die Asche zu holen und an einem friedlicheren Ort im Wind zu zerstreuen.
Er mochte vielleicht oftmals mehr Tier als Mensch sein, doch er respektierte die Toten, und ihnen den Übergang auf die andere Seite zu erleichtern war das Mindeste, das er für sie tun konnte, nach allem, was sie durch ihn hatten erleiden müssen.
Für gewöhnlich dauerte Alexeys Totenwache so lange, bis das Feuer beinahe gänzlich erloschen war, doch heute blieb ihm nicht genug Zeit dafür.
Getrieben von einem einzigen Gedanken, der ihn die ganze Zeit über, seit er wieder klar denken konnte, verfolgt hatte, verließ er die Höhle mit eiligen Schritten und schwang sich auf sein Pferd, das er davor an einem Baum festgebunden hatte.
Alexey würde nicht noch einmal eine so günstige Gelegenheit bekommen, seinen Gedanken in die Tat umzusetzen und er wollte verdammt sein, wenn er seine Chance nicht nutzte, solange Fortuna auf seiner Seite stand. Also trieb er das Tier unbarmherzig an, dabei die nahende Morgendämmerung im Nacken spürend.
Vor dem Eingang zu den Ställen kam ihm Rashad mit zwei Leibwächtern entgegengeritten.
Ohne sie eines Blickes zu würdigen, preschte Alexey an ihnen vorbei und ließ sich geschmeidig vom Rücken seines Pferdes gleiten, noch bevor es gänzlich zum Stehen kam.
Wortlos drückte er dem völlig verängstigten Stallburschen, der dem Bluthund der Domina erst ein paar Mal begegnet war, die Zügel in die Hand und eilte weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen.
In der Villa erwachte bereits alles wieder zum Leben, obwohl es noch nicht einmal dämmerte, doch der Haushalt war groß und es gab viel zu tun, bevor einer der Herrschaften auch nur einen Fuß aus dem Bett setzte.
Alexey marschierte zielstrebig weiter, während ihm dutzende Sklaven über den Weg liefen, die ihm angstvoll auswichen, oder sobald sie ihn sahen, sofort umdrehten und einen anderen Weg nahmen, nur um ihm nicht in die Quere zu kommen.
Nun, da er nicht an der Seite der Domina war, die ihn an der kurzen Leine hielt, fürchteten sie ihn ganz besonders, obwohl sie gerade dann am wenigsten zu befürchten hatten. Doch Alexey konnte ihnen das schwerlich begreiflich machen, weshalb er es schweigend hinnahm, dass jeder Einzelne von ihnen ihn wie die Pest mied.
An diesem Morgen kam ihm das sogar zugute. Denn während er sich seinen Weg durch die Villa bahnte, liefen ihm immer weniger Menschen über den Weg, bis er in den verlassenen Flur einbog, der zu Rashads Räumen führte und er völlig unbemerkt hinter der Tür verschwinden konnte.
Es war fast vollständig dunkel in dem großen Raum, der sich vor ihm erstreckte, doch Alexeys beachtliches Sehvermögen gewöhnte sich nur allzu schnell daran.
Er war schon sehr lange nicht mehr hier gewesen, doch Rashad hatte nicht besonders viel verändert.
Direkt vor ihm stand immer noch der große Holztisch, auf dem schon unzählige Kranke und Verletzte gelegen hatten. Er selbst hatte auch schon ein paar Mal das Vergnügen gehabt, darauf Platz zu nehmen und der Eimer voll Sand, der stets wartend direkt unter dem Tisch stand, weckte unerfreuliche Erinnerungen.
Alexey riss sich davon los und ging weiter, während er versuchte, nicht zu tief den Gestank von altem Blut, Kräutern und Krankheit einzuatmen.
Er kam an den vollgestopften Regalen vorbei, in denen sich alte Schriften, Fläschchen, Tiegel und allerlei anderes Zeug häufte, das Rashad für sein Handwerk benötigte.
An der gegenüberliegenden Wand glimmten noch die letzten Reste der Glut in der Feuerstelle und verbreiteten Wärme, obwohl es bereits erdrückend warm im Raum war. Rechts daneben führte eine schlichte Holztür in Rashads persönliche Kammer, wo er seine Habseligkeiten aufbewahrte und auch schlief.
Ein langer Vorhang, der sich von einer Seite des Raums zur anderen erstreckte, teilte den Arbeitsbereich von dem Teil ab, in dem die kranken und verletzten Sklaven genesen sollten, bis sie wieder an die Arbeit gehen konnten.
Alexey teilte den undurchlässigen Stoff lautlos in der Mitte und riskierte einen Blick. Erst als er nur eine der Pritschen besetzt vorfand, wagte er es hindurchzugehen, blieb aber auf der anderen Seite des Vorhangs zögernd stehen.
Sein Herz klopfte ihm plötzlich heftig in der Brust und er musste sich regelrecht dazu zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Er hatte ihren schwarzen Haarschopf sofort erkannt, auch wenn der Rest von ihr so vollkommen anders aussah als er in Erinnerung hatte.
Das Gesicht der kleinen Kriegerin war eingefallen. Ihre wächserne Haut von einem ungesunden Grauton und ihre Lippen waren spröde und an den Mundwinkeln aufgerissen.
Die violettschimmernden Augenlider waren geschlossen, doch selbst wenn sie es nicht gewesen wären, Alexey bezweifelte, dass sie auch nur einen Bruchteil von dem mitbekam, was um sie herum geschah. Das Fieber hatte sie nur allzu fest im Griff und zehrte an ihrem ohnehin schon geschwächten Körper.
Alexey warf einen flüchtigen Blick zum Vorhang und dann zu den geschlossenen Fensterläden, bevor er es wagte, seinen Helm abzunehmen.
Er kniete sich neben die schmale Pritsche auf den Boden, legte den Helm zur Seite und wusch sich rasch die schmutzigen Hände in der Schüssel mit lauwarmem Wasser, die auf einem kleinen Schemel direkt danebenstand.
Vermutlich hatte Rashad sich noch einmal um die kleine Kriegerin gekümmert, bevor er zum Markt aufgebrochen war, denn das Bettzeug war sauber und der Schweißgeruch ihres fiebrigen Körpers frisch.
Ganz vorsichtig, als könnte sie bereits unter der leisesten Berührung zerbrechen, legte Alexey ihr die Hand auf die bebende Schulter und hob die Decke leicht an, um sich selbst davon zu überzeugen, dass zumindest mit ihren Wunden alles in Ordnung war.
Er konnte weder Fäulnis noch frisches Blut daran wittern. Rashad hatte also die Wahrheit gesagt. Es lag nicht an den Verletzungen, dass es ihr so schlecht ging.
Dennoch strahlte ihr Körper eine unangenehme Hitze aus, während sie vor Kälte zitterte.
Da sie nicht dazu in der Lage war, durch die Nase zu atmen, hatte der Medikus gut daran getan, sie auf die Seite zu drehen ohne ein Kissen unter ihrem Kopf, an dem sie im Schlaf ersticken könnte.
Das Atmen fiel ihr schwer und zeugte von ihrer Erschöpfung, während ihr Herz viel zu schnell in ihrer kleinen Brust schlug. Alexey konnte es deutlich hören, umso mehr noch als er sich zu ihrem Gesicht beugte und mit angehaltenem Atem lauschte.
Auch ohne sein Ohr direkt an ihre Brust zu legen, konnte er das Rasseln in ihrer Lunge hören und die Krankheit in ihrem Atem riechen.
Alexey hatte schon zu viele Menschen sterben sehen, um nicht zu erkennen, wenn der Tod bereits auf einen weiteren lauerte.
Rashad hatte also auch in diesem Punkt die Wahrheit gesagt, doch Alexey bezweifelte stark, dass es dem Medikus möglich war, die kleine Kriegerin zu retten. Selbst wenn es ihm wie durch ein Wunder gelingen sollte, würde sie danach nicht mehr dieselbe sein.
Ihre Genesung würde sehr lange dauern und selbst dann blieb fraglich, ob sie wieder ihre alte Kraft zurückgewann. Doch die würde sie brauchen, um unter diesem Dach so lange wie möglich überleben zu können.
Ob nun dem Tode nahe oder nicht, Alexey hatte sich bereits seit dem Gespräch zwischen Hedera und Rashad dazu entschlossen, ihr zu helfen.
Es war sehr riskant und er würde einen hohen Preis dafür bezahlen, sollte das jemals ans Licht kommen, doch für die kleine Kriegerin würde er jede Widrigkeit in Kauf nehmen. Nicht nur, dass er es ihr nach allem, was er getan hatte, schuldete, er hatte auch das Verlangen, ihr zu helfen.
Er verstand es selbst nicht. Aber das musste er auch nicht.
Ganz behutsam schob Alexey seine Hand unter ihren Kopf und hob ihn leicht an, während er sich fest auf den Daumen seiner anderen biss, bis er sein eigenes Blut schmecken konnte. Er führte die kleine Wunde an ihre geöffneten Lippen, verteilte die rote Flüssigkeit zuerst darauf, bevor er damit ihre trockene Zungenspitze benetzte, bis der Quell wieder versiegte.
Alexey war sich bewusst, dass es vergebens sein würde, sie zum Schlucken zu bewegen, dennoch biss er sich erneut ins Fleisch, um sein Blut auch unter ihrer Zunge und an der Innenseite ihrer Wangen zu verteilen, wo ihre Haut die heilende Wirkung hoffentlich zu Genüge aufnehmen würde.
Dann wartete er ab, während er das leichte Brennen in seinen Augen zu ignorieren versuchte, das den nahenden Tag in all seiner Pracht ankündigte.
Zunächst schien nichts dergleichen zu geschehen, obwohl er auf jede noch so kleine Regung achtete. Doch dann fiel Alexey auf, dass sich etwas an den vollen Lippen der kleinen Kriegerin tat.
Nur um ganz sicher zu gehen, wischte er das fast getrocknete Blut ab und darunter kam weiche unversehrte Haut zum Vorschein.
Ihre Mundwinkel waren vollkommen geheilt, und auch die rissige Haut war verschwunden.
Als Alexey ihr seine Hand auf die Stirn legte, glaubte er sogar zu spüren, dass sich auch ihre Temperatur etwas herabgesenkt hatte, während sie nicht mehr so stark schwitzte.
Auch ihre Atmung hatte sich verändert. Sie war jetzt ruhiger und nicht mehr so schwer.
Die Genesung hatte offenkundig eingesetzt.
Es war für ihn an der Zeit, zu gehen.
Vorsichtig bettete Alexey den Kopf der kleinen Kriegerin wieder auf die Matratze und wollte gerade nach seinem Helm greifen, als sie sich plötzlich zu regen begann. Nicht sehr stark doch deutlich genug um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Inzwischen war aus dem leichten Brennen in seinen Augen ein heißes Glühen geworden, das seine Netzhaut folterte und ihn immer heftiger zum Blinzeln brachte.
War es vorhin im Raum noch dunkel gewesen, so reichte schon das sanfte Licht der Morgendämmerung, das durch die Ritzen der Balken fiel, aus, um die Welt um ihn herum immer schneller und stärker in gleißendes Licht zu tauchen.
Und inmitten dieser zerstörerischen Helligkeit blickten die seelenvollsten Augen, die ihm je begegnet waren, zu ihm auf.
Es lag kein Erkennen darin und doch gelang es ihr, seinen Blick zu fesseln, bis das Tageslicht ihn letztendlich mit brutaler Gewalt davon losriss.
Unfähig, noch eine Sekunde länger seine lädierten Augen offenzuhalten, wandte Alexey sich von ihr ab, griff nach seinem Helm und kam schwungvoll auf die Füße.
Beim Hinausgehen wischte er sich die Tränen von den Wangen, ehe er sich den Helm wieder aufsetzte und nach dem Griff der Tür tastete, bevor er Rashads Räume und somit auch die kleine Kriegerin endgültig verließ.
Nichts an seiner aufrechten Haltung oder dem entschlossenen Gang verriet, dass er blind den Weg zu seiner Kammer fand, lediglich geleitet von seinem Gedächtnis und den Eindrücken seiner restlichen Sinne.
Bis auf die wenigen Eingeweihten durfte niemals jemand von dieser fatalen Schwäche erfahren. Wer es dennoch tat, musste sterben.
***
Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren.
Val wusste nicht, ob sie erst wenige Stunden oder sogar Tage lang weggetreten war, bevor sie auch nur wieder einen einzigen klaren Gedanken fassen konnte.
Vage konnte sie sich daran erinnern, dass sich jemand um sie gekümmert hatte. Zu schwach um die Augen zu öffnen oder sich in irgendeiner Form zu bewegen, da ihr ganzer Körper entsetzlich schmerzte, hatte sie nicht gesehen, wer ihr da bittere Tränke eingeflößt, ihre Verletzungen versorgt oder sie gewaschen hatte.
Stunde um Stunde war ihr Verstand auf Reisen gewesen, um der harten Realität zu entfliehen, die nichts als Schmerz und Leid für sie bereithielt.
Sie hatte von ihrem alten Leben geträumt. Von der Zeit mit Daniel, als sie beide noch zusammen glücklich gewesen waren. Von ihrer Arbeit, die sie selbst nach all den Jahren noch schmerzlich vermisste. Auch die finstere Zeit im Gefängnis war ihr das eine oder andere Mal untergekommen, aber diese Erinnerungen machten ihr keine Angst mehr.
Val war den Weg bis zum bitteren Ende inzwischen gegangen und was auch immer danach passiert war, die quälenden Jahre im Gefängnis hatte sie nun endgültig hinter sich gelassen.
Es wurde Zeit, dass sie wieder nach vorne blickte, auch wenn sie nicht wusste, wie das funktionieren sollte. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob sie nicht vielleicht doch in ihrer ganz persönlichen Hölle gelandet war. Es würde zumindest sehr viel mehr Sinn ergeben als alle anderen Erklärungen, die ihr einfielen.
Die einzige Frage die am Ende blieb, war die Frage, nach dem Was.
Was hatte sie getan, um das alles zu verdienen?
Val war absolut nicht perfekt. Das war ihr klar. Dennoch hatte sie sich immer für einen guten Menschen gehalten. Nicht nur, was ihre Taten anging, sondern auch dem Gefühl in ihrem Herzen nach zu urteilen.
Warum also wurde sie dann so sehr bestraft?
Es gab niemanden, der ihr das beantworten konnte.
Val wusste nur, dass sie irgendwann aus ihren Träumen gerissen und in die grausame Realität zurückgeworfen wurde, begleitet von einem ungewöhnlichen Geschmack auf ihrer Zunge, der so köstlich wie unbekannt für sie war, aber auch um so vieles besser als alles, was sie jemals geschmeckt hatte.
Und zum ersten Mal seit einer sehr langen Zeit, wie es schien, hatte sie auch wieder die benötigte Kraft, ihre Augen zu öffnen und sich ihrer neuen Realität zu stellen.
***
Der Arzt, der sich um sie kümmerte, hieß Rashad. Zumindest soviel hatte Val verstanden, als er sich offiziell bei ihr vorgestellt hatte, nachdem sie nicht länger ihre Zeit im Delirium verbrachte.
Er war seinem Äußeren nach zu urteilen orientalisch angehaucht, aber weder sein Aussehen noch sein Name gaben ihr irgendwelche Anhaltspunkte seine Herkunft betreffend, und das war auch nicht wirklich wichtig. Das Einzige, was zählte, war die Tatsache, dass der Kerl genauso seine Rolle in diesem morbiden Theater spielte, wie alle anderen es bisher auch getan hatten.
Der Ort, an dem er sie versorgte, war wirklich unterirdisch und eigentlich war es fast schon ein Wunder, dass sie die echte Grippe, die sie befallen hatte, ohne Antibiotika und entsprechender fachmännischer Behandlung überlebt hatte.
Realistisch betrachtet hätte Val eigentlich tot sein müssen. Schon wieder. Aber sie war bestimmt die Letzte, die sich deshalb beschweren würde.
Ihre täglichen Mahlzeiten schmeckten fade. Die Matratze, auf der sie schlief, war unerträglich hart und sie musste ihre Notdurft in einem Nachttopf erledigen. Aber einmal von diesen unbequemen Umständen abgesehen, wurde sie von Rashad wirklich gut behandelt. Besser als von den Leuten, die sie zu ihrer Belustigung ausgepeitscht und erniedrigt hatten. Und dafür war sie ihm mehr als dankbar.
Anfangs hatte er noch versucht, in einer fremdländischen Sprache mit ihr zu reden, dann auf Latein, als er bemerkte, dass sie ihn nicht verstand. Es war jedoch sehr schnell klar geworden, dass auch das sie beide nicht besonders weit bringen würde und so hatten sie sich mit einfachen Gesten zumindest gegenseitig ihre Namen mitgeteilt.
Val hatte sich für ihr Medizinstudium eine Weile mit dem klassischen Latein beschäftigen müssen, bei dem es hauptsächlich um das geschriebene Latein gegangen war. Es war ein Fach gewesen, das sie wenig interessierte, weshalb sie sich vor jeder Prüfung das Wissen in den Kopf gestopft und dann wieder vergessen hatte. Zudem war es Jahrzehnte her, dass sie sich wirklich damit auseinandergesetzt hatte. Es war also kein Wunder, dass sie kaum noch etwas von dieser Sprache verstand.
Doch jetzt drehten sich ihre Gedanken hauptsächlich darum, während sie untätig herumlag und darauf wartete, dass es ihr von Tag zu Tag besser ging, damit sie wieder aufstehen und von diesem unwirklichen Ort verschwinden konnte.
Rashad half ihr ein wenig mit den Vokabeln, während er sie versorgte und die Dinge, die er dabei in die Hand nahm, beim Namen nannte. Seine stoische Ruhe und unendliche Geduld waren wirklich bemerkenswert und Val musste sich nach einer Weile sogar eingestehen, dass sie den Kerl immer mehr zu mögen begann. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass sie unzählige Fragen hatte, die ihr niemand beantworten konnte. Auch er nicht.
Die Stunden, die sie allein verbrachte und in denen sie nicht wie eine Tote schlief, nutzte sie, ihre Umgebung, aber allen voran auch sich selbst besser zu erkunden.
Wie auch immer es möglich war, der Körper, in dem sie steckte, war nicht der ihre. Nichts an ihm war ihr auch nur irgendwie vertraut und vor allem war es ganz bestimmt nicht der Körper einer Mittvierzigerin. Noch nicht einmal der einer erwachsenen Frau.
Val steckte verdammt noch mal im Körper eines Teenagers fest.
Das Einzige, was sie zumindest etwas tröstete, war die Tatsache, dass sie nicht weiß war. Das hätte dem Ganzen wohl noch die Krone aufgesetzt.
Zwar war ihr die Hautfarbe der Menschen egal, sonst hätte sie kaum einen weißen Mann geheiratet, aber sie war auch immer stolz darauf gewesen, schwarz zu sein und dennoch so viel in ihrem Leben erreicht zu haben.
Allerdings hatte sie im Augenblick nur sehr wenig davon.
Da Rashad noch mindestens eine gefühlte Stunde lang weg sein würde, kämpfte Val sich auf der unbequemen Pritsche hoch und stellte vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf den kühlen Steinboden.
Eigentlich sollte sie noch nicht aufstehen. Zumindest war ihr Arzt in diesem Punkt immer sehr deutlich gewesen, auch ohne dass sie seine Worte verstand. Doch Val konnte nicht länger untätig im Bett herumliegen und darauf warten, dass etwas passierte.
Von alleine würden die Antworten auf ihre vielen Fragen ganz bestimmt nicht zu ihr kommen. Dafür musste sie schon selbst den Arsch hochkriegen.
Das war sogar leichter als gedacht.
Zwar musste Val ihrem Kreislauf einen Moment Zeit geben, bis er sich an die ungewohnte Belastung gewöhnt hatte, doch dann fielen ihr die paar Schritte zu einem der offenen Fenster nicht wirklich schwer.
Es war warm draußen und obwohl sie nur eine schlichte Tunika am Leib trug, die ihr wenigstens bis über die Knie ging, fror sie nicht. Dafür fühlte sich die warme Berührung der Sonne auf ihrer Haut einfach zu gut an.
Von dem kleinen Fenster aus konnte Val eine sehr weitläufige Hügellandschaft erblicken, deren Hänge unterschiedlich bebaut worden waren.
Weinreben und Obstbäume erstreckten sich Reihe um Reihe vor ihren Augen. Erst sehr viel weiter in der Ferne war eine unbefestigte Straße und dahinter ein kleines Wäldchen zu erkennen.
Die Gerüche in der Luft waren ihr zwar schon vorher aufgefallen, aber jetzt am offenen Fenster, wo der Wind ihr sanft ums Gesicht wehte, waren sie beinahe überwältigend.
Hatte sie überhaupt jemals so saubere Luft eingeatmet?
So ganz ohne den Staub der Straßen und den städtischen Smog war das tatsächlich ein Erlebnis für sich. Eines das Val allerdings nicht lange genoss, den schon begann ihr Verstand wieder zu arbeiten.
Unter dem Fenster, an dem sie stand, ging es sehr steil und sehr tief bergab. Zu weit, um sich bei einem Fluchtversuch nicht den einen oder anderen Knochen zu brechen. Also wandte sie sich von der ländlichen Aussicht ab und ging zu dem dicken Vorhang hinüber, hinter dem Rashad immer verschwand, wenn er ihr Wasser oder etwas zu Essen holte oder wieder irgendetwas Ungenießbares für sie zusammenbraute.
Wäre er da gewesen, hätte sie ihn bestimmt gehört, weshalb sie nicht lange zögerte und sich durch den Vorhang hindurchschob, nur um auf der anderen Seite überrascht stehenzubleiben.
Hatte sie tatsächlich angenommen, dass sich hier das Bild des Altertümlichen ganz ohne Technik und Fortschritt einfach vor ihr auflösen würde?
Ganz im Gegenteil ging diese beeindruckende Zurschaustellung besonderer Detailverliebtheit weiter und Val war umgeben von antiken Möbeln und Gegenständen, von denen sie bei Letzteren nicht immer den genauen Namen kannte oder wofür sie gut sein sollten.
Sogar das schwache Licht kam lediglich von mehreren Öllampen an den Wänden.
Immer noch nicht zur Gänze überzeugt marschierte sie zu den Regalen hinüber, auf denen sich unzählige Fläschchen, Tiegel und allerhand undefinierbares Zeugs in Tonschalen tummelte.
Bei dem meisten davon handelte es sich, dem Geruch nach zu urteilen, um verschiedene Kräuter, aber es gab auch allerhand undefinierbares Zeugs dabei, von dem Val gar nicht genauer wissen wollte, um was es sich wirklich handelte.
Viel interessanter waren da die vielen Schriftrollen, die sich auf einem anderen Regal regelrecht auftürmten.
Val nahm eine davon in die Hand und entrollte vorsichtig das beeindruckende Pergament. Das darauf Geschriebene war nicht zu entziffern. Es handelte sich nicht einmal um Buchstaben. Zumindest konnte sie nicht wirklich welche erkennen.
Noch verwirrter als vorher rollte sie das Schriftstück wieder behutsam zusammen und legte es weg. Bei den anderen, die sie sich ansah, kam sie zu dem gleichen Ergebnis. Die Texte waren zwar eindeutig eine Sprache, aber keine, die sie auch nur annähernd hätte entziffern können.
Letztendlich brachte sie das auch nicht wirklich weiter, also richtete Val ihre Aufmerksamkeit wieder auf andere Dinge.
Im Raum gab es noch zwei Türen. Die eine führte anscheinend zu Rashads Zimmer, das wie erwartet sehr spartanisch und ebenso rustikal eingerichtete war wie alles andere an diesem Ort, und die andere brachte sie auf einen schwach beleuchteten Flur, der nur in eine Richtung führte.
Bingo!
Auf jedes noch so kleine Geräusch achtend schlich Val sich leise an der Wand entlang den Flur hinunter bis zu dessen Ende, wo eine breite Treppe nach oben führte.
Vorsichtig und mit wildklopfendem Herzen erklomm sie jede Stufe einzeln, immer darauf bedacht, sofort umzukehren, sollte irgendjemand in ihre Richtung kommen. Doch niemand behelligte sie auf ihrer Erkundungstour.
Aus der Ferne konnte sie seltsame Geräusche hören. Es klang wie Holz, das auf Holz geschlagen wurde, und dazwischen mischte sich immer wieder das leise Stöhnen und Ächzen aus Männerkehlen.
Vals Gefühl sagte ihr, dass sie besser umkehren sollte, doch ihre Neugierde und das Verlangen nach Antworten waren einfach stärker, also ging sie weiter, bis sie plötzlich fast im Freien stand. Allerdings nicht richtig im Freien, denn es war mehr so eine Art Hof, der von allen Seiten von einer überdachten Terrasse umschlossen war, die noch zu anderen Teilen des Gebäudes führte.
Der Boden unter Vals Füßen bestand aus großen Steinplatten, die von der Sonne noch ganz warm waren, während der große Innenhof selbst mit feinem Sand befüllt war und darauf bot sich ihr ein Spektakel, wie sie es höchstens einmal im Fernsehen gesehen hatte.
Auch wenn niemand auf sie achtete, huschte Val eilig hinter eine der zahlreichen Säulen, die den Hof umsäumten, damit sie am Ende nicht doch noch entdeckt wurde, während sie einfach nicht anders konnte, als zu starren.
Vier halbnackte Männer mit Holzschwertern, wobei jeder Einzelne von ihnen einem Bodybuilder alle Ehre gemacht hätte, attackierten unablässig einen Fünften in ihrer Mitte, den Val nicht richtig erkennen konnte.
So wie es aussah, verpassten sie dem armen Kerl eine ganz schöne Abreibung, und auch wenn es nur Schwerter aus Holz waren, musste es dennoch wahnsinnig wehtun, mit so einem verprügelt zu werden.
Val begann sogar den irrsinnigen Gedanken zu hegen, ob sie nicht vielleicht eingreifen sollte. Sie in ihrer flatternden Tunika war zwar bestimmt nicht furchteinflößend, aber vielleicht lenkte ihr Erscheinen die Männer so weit ab, dass –
Einer der Angreifer flog plötzlich in hohem Boden durch die Luft und landete keine drei Meter vor ihr mit dem Rücken im Sand.
Das Geräusch von Holz, das auf Holz traf, wurde mit einem Mal hektischer und kaum, dass es Val gelang, ihre Aufmerksamkeit von dem betäubten Mann am Boden loszureißen, zuckte sie erneut erschrocken zusammen.
Ach du heilige Scheiße!
Der Hüne mit der Metallfresse!
Val nahm sofort alles wieder zurück. Von ihr aus konnten die restlichen drei Typen das verfluchte Arschloch restlos fertigmachen. Nach dem, was er ihr angetan hatte, hätte er es mehr als verdient.
Allerdings sah es ganz danach aus, als wäre er es, der die anderen auf einmal niedermachte.
Soweit Val das beurteilen konnte, waren alle verdammt gut mit ihrem Schwert und wussten, wie sie damit umzugehen hatten, aber der Hüne war bei weitem besser.
Zwar trafen seine Hiebe mehrmals ins Leere, doch dafür bewegte er sich für seine beachtliche Größe verflucht schnell, so dass Val Mühe hatte, dem Geschehen richtig zu folgen. Seinen Angreifern erging es ähnlich, denn sie erwischten ihn kein einziges Mal, obwohl sie ihn von allen Seiten attackierten. Er wich immer im letzten Moment aus oder parierte.
Selbst Angriffe, die er mit seinem Helm eigentlich gar nicht hätte kommen sehen dürfen, da damit seine Sicht bestimmt stark eingeschränkt war, bereiteten ihm keine Probleme.
Mehr und mehr gewann Val den Eindruck, dass der Kerl vorhin mit seinen Angreifern nur gespielt hatte, denn nun behielt er eindeutig die Oberhand.
Er kam noch nicht einmal ins Schwitzen, während bei den anderen der Schweiß nur so in Strömen an ihren gestählten Körpern hinabfloss.
Val versteckte sich rasch wieder hinter der Säule, als nun auch der Fünfte im Bunde auf die Beine kam und sich erneut dem Trubel anschloss.
Sie sollte gehen. Je länger sie hier stand, umso größer war die Wahrscheinlichkeit, dass man sie entdeckte. Auch Rashad müsste bald zurückkommen, und wenn er sie hier stehen sah, würde das sicher Ärger geben.
Val wusste, was sie tun sollte, doch dieses brutale Spektakel war so unglaublich faszinierend anzuschauen, dass sie noch einen weiteren Blick riskierte.
Wann in den letzten zehn Jahren war es ihr auch vergönnt gewesen, so viel nackte Haut, Berge von Muskeln und Testosteron geschwängertes Gehabe mit anzusehen?
Eigentlich hatte sie so etwas überhaupt noch nie gesehen. Zumindest nicht live und so hautnah, dass sie die Männer sogar riechen konnte, aber gerade deshalb wurde sie nur allzu deutlich mit der Nase auf die Tatsache gestoßen, dass sie die letzten zehn Jahre entweder alleine, oder zum Großteil nur mit Frauen verbracht hatte.
Dieser Überfluss an attraktiven Männern, die sich in diesem großen Sandkasten für Erwachsene austobten, war daher schon irgendwie überwältigend.
Selbst der Hüne, den sie eigentlich hasste, schaffte es, sie zu beeindrucken. Auch wenn es eher ein mit Adrenalin geschwängertes Gefühl war, das sich bei seinem Anblick in ihr ausbreitete.
Dennoch erwischte Val sich dabei, wie ihre Augen seinen geschmeidigen Bewegungen folgten, als würden sie daran festkleben, und während sie ihm dabei zusah, wie er mit kräftigen Hieben einen Gegner nach dem anderen niedermähte, fragte sie sich, was sich wohl unter dem Helm verbarg.
Wollte sie das wirklich wissen?
Der Kampf war so plötzlich zu Ende, wie er begonnen hatte und der Hüne stand als Einziger auf seinen Beinen da, die Schwerter fest in seinen Händen haltend. Sein mächtiger Brustkorb dehnte sich deutlich sichtbar vor Anstrengung, aber auch jetzt noch war seine ebenmäßige Haut völlig schweißfrei.
Nein!, war Vals entschiedene Antwort auf ihre eigene Frage, ob sie einen Blick unter den Helm erspähen wollte, während sie ertappt hochfuhr, als sich der Kopf des Hünen mit einem Mal genau in ihre Richtung drehte und er sie direkt ansah.
Hastig stolperte sie einen Schritt zurück, bevor sie sich umdrehte und loslaufen wollte. Stattdessen prallte sie mit voller Wucht in einen anderen Körper, verlor ihr Gleichgewicht und fiel mit dem Rücken voran auf den Boden.
Dabei machte ihr Kopf eine innige Bekanntschaft mit dem harten Stein, so dass Sterne vor ihren Augen explodierten und sie zumindest etwas von ihrem schmerzhaft protestierenden Rücken ablenkten.
Als sie wieder halbwegs klar sehen konnte, kniete Rashad mit sorgenvoller Miene über ihr und betastete die riesige Beule an ihrem Hinterkopf.
Auch die verschwitzten Kerle standen in einem Kreis um sie herum und gafften, bis der Arzt sie alle bis auf einen davonscheuchte.
Derjenige, der bleiben durfte, hatte eine aufgeplatzte Wunde über der rechten Augenbraue, die ihn aber überhaupt nicht zu stören schien. Es war der Kerl, der vorhin als Erstes im Sand gelandet war, inzwischen aber wieder ganz fit wirkte.
Zumindest war er solider auf den Beinen, als es Val im Augenblick zustande gebracht hätte. Denn schon allein bei dem Versuch sich aufzusetzen, begann sich die Welt um sie herum zu drehen und sie sank halb ohnmächtig wieder zurück.
Auf einmal wurde sie von zwei kräftigen Armen hochgehoben und ihr Kopf fiel gegen eine nackte, verschwitzte Männerbrust, die ganz und gar nicht unangenehm roch.
Wenn ihr im Augenblick nicht so schwindlig gewesen wäre, hätte sie das Gefühl sogar genießen können.
Aber auch so fühlte es sich verdammt gut an, auf Händen getragen zu werden und was konnte mit Rashad an ihrer Seite großartig schiefgehen?
***
Sie war also wieder auf den Beinen. Viel früher als er angenommen hatte. Vielleicht sogar zu früh?
Rashad hatte in seinen Berichten über die kleine Kriegerin nichts Ungewöhnliches erwähnt, das die Aufmerksamkeit von Hedera auf sich hätte ziehen können. Dennoch war Alexey über die rasche Genesung beunruhigt.
Hatte er ihr vielleicht zu viel von seinem Blut gegeben? Würde Hedera ihm am Ende sogar auf die Schliche kommen? Wenn ja, was wurde dann aus der kleinen Kriegerin? Würde man sie ebenfalls bestrafen?
Alexey hätte sie zu gerne mit seinen eigenen Augen dort im Schatten einer Säule stehen gesehen, während sie ihm und den anderen beim Üben zugeschaut hatte. Der Anblick hätte ihn vielleicht sogar etwas beruhigen können, immerhin war sie das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, todkrank gewesen und allein dafür war es das Risiko wert gewesen, ihr sein Blut zu geben.
Aber natürlich musste er wieder alles ruinieren, indem er sie erschreckte, sodass sie den Geräuschen nach zu urteilen direkt mit dem Medikus zusammenstieß und dann auch noch hinfiel.
Dass er kein Blut wittern konnte, beruhigte ihn nicht im Mindesten, vor allem, da seine Übungspartner sofort zu ihr eilten, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.
Alexey blieb, wo er war, während sich seine Hände fester um die Griffe seiner Schwerter schlangen.
„Na los, ihr Tölpel, macht Platz und gebt ihr gefälligst mehr Luft zum Atmen!“ Rashads herrische Stimme wehte zu ihm herüber, und Alexey neigte leicht den Kopf, um besser hören zu können.
„Valeria? Kannst du mich hören?“
Valeria also ...
„Nein, bleib liegen. Du hast dir ziemlich hart den Kopf gestoßen!“
„Versteht sie überhaupt, was du sagst?“ Die Frage kam von Azuro.
„Nicht im Mindesten und im Augenblick schon gar nicht. Also hilf mir mit ihr, bevor sie uns endgültig umkippt. Dann kann ich mir bei der Gelegenheit auch gleich deine Verletzung ansehen und ihr anderen verschwindet. Unnütze Gaffer kann ich nicht gebrauchen."
Ein kollektives Murren war zu hören, bevor drei Paar Füße wieder den Sand betraten und zu ihren achtlos hingeworfenen Übungsschwertern marschierten. Derweil entfernten sich Azuros Schritte und die des Medikus'.
„Hübsches kleines Ding, nicht wahr. Ein bisschen ungeschickt vielleicht, aber hätte ich vorher gewusst, dass Azuro sie in Rashads Räume tragen darf, nur weil er eine auf die Rübe bekommen hat, hätte ich mir auch eine verpassen lassen. Diesen Körper hätte ich gerne einmal eingehender befühlt.“
Ciceros schmutziges Lachen führte Alexeys Faust direkt ins Ziel. Der widerwärtige Abschaum ging daraufhin sang- und klanglos zu Boden und rührte sich nicht mehr.
„Bist du noch ganz bei Trost? Was soll das?“ Claudius war sofort zur Stelle, um seinen Freund zu verteidigen.
Alexey lächelte kalt, ohne dass es jemand sehen konnte.
„Ich gab ihm nur, wonach er verlangt hat. Außerdem habe ich ihm schon tausend Mal gesagt, dass er seine Deckung nicht fallenlassen soll.“
„Und deshalb musstest du ihn gleich bewusstlos schlagen?“
Entweder das, oder Alexey hätte ihn eiskalt umgebracht.