Im Nachhinein, habe ich mir selbst auf die Zunge gebissen, als ich nach Yanagi verlangte. Seit der Zeit damals in der Forschungseinrichtung, hatten wir nicht gerade viele Worte miteinander gewechselt. Auch wenn sie wie eine Ersatzmutter für mich war, so konnte ich mich nicht an diese Zeit erinnern. Und dass sie freiwillig ihren Tod vorgetäuscht hatte um dem Generaldirektor zu entkommen, konnte ich auch nicht so ganz glauben.
Ich hatte keine Ahnung davon wo sie mich hinschob und besonders viel hatten wir in den letzten fünf Minuten auch nicht geredet.
„Wo fahren wir hin?“, brummte ich und blies mir die Haare aus dem Gesicht.
Vor dem Tag meiner Anmeldung an der Todai, hatte man sie mir geschnitten, doch jetzt, hingen sie nicht nur über meinen Rücken, sondern auch teilweise im Gesicht. Meine Augen waren blutunterlaufen, denn der Schlaf wurde mir immer wieder entzogen.
„Wirst du schon sehen. Bin mal gespannt wie du deine Vor und Nachteile abwiegen willst, ob House die helfen soll.“
„Wunderbar, Kompromisse schließen.“, stöhnte ich, “Wie in alten Zeiten, nicht wahr?“
„Und schon wieder spielst du das Unschuldslamm.“, konterte sie und gab mir einen Klapps auf den Hinterkopf, “Hey, du hast Recht! Es ist wirklich wie in alten Zeiten.“
„Wieso Unschuldslamm ich habe nie........“, wir hielten an und der Drang sterben zu wollen, war stärker denn je, “Oh nein! Das ist nicht ihr Ernst, oder?!“
„Allerdings.“, sagte Yanagi kühl.
Wir waren auf der Kinderstation gelandet. Laut kreischende kleine Bälger die sich scheinbar von einem Mann mit Kamera bespaßen ließen.
„Was wollen wir hier? Sie sagten, sie wollten nur sehen wie es mir nach dem essen geht!", knurrte ich.
"Stell dich nicht so an du alter Griesgram.", antwortete Yanagi.
"Ich hätts wissen müssen. Euch Menschen kann man einfach nicht vertrauen.", fluchte ich und zeigte mit dem Finger auf sie.
"Jetzt übertreib mal nicht. Das Gespräch mit House, hat dich wohl etwas mehr gereizt als ich erhofft hatte. War ja zu erwarten. Aber ich wollte dir etwas zeigen."
Kurz darauf, traf mich ein greller Blitz und meine Augen begannen fürchterlich zu brennen.
„Verdammt noch mal! Was soll denn das?!“, rief ich und rieb mir die Augen, “Das ist ja schlimmer als direkt in die Sonne zu starren!“
Der Kerl grinste mich nur an und fuhr mir durch die Haare.
„Du bist witzig wenn du dich aufregst.“
„Na toll. Großartig Ryutaro, jetzt hast du meine ganze Vorarbeit zerstört! Ich hatte ihn soweit, dass er sich ein wenig beruhigen konnte.“
Yanagi schien meine Schlechte Laune nun zu teilen. Ob das an diesen schrägen Typen mit der Kamera lag?
„Komm schon, das war doch nur ein harmloses Foto. Siehst du?“
Wieder schoss er ein Foto und Yanagi sah aus, als ob sie ihn eigenhändig erdrosseln würde.
„Du hast Glück das gerade die Kinder in der Nähe sind. Sonst würde ich dir Dinge antun, die selbst dem Tod zu wider wären.“
Das hatte er wohl verstanden. Also schnappte er sich eines der Kinder und zog von dannen.
„Komm schon Schatz, sonst verwandelt uns die böse Hexe in Frösche!“, sagte er schief grinsend und verschwand.
„Hätten sie ihn nicht umgebracht, hätte ichs getan.“, flüsterte ich, “Wer war das?“
„Ein alter Bekannter aus dem Studium.“, erklärte sie.
„Hat er auch Medizin studiert?“
„Anfangs ja, doch dann hatte ihn die Leidenschaft fürs fotografieren gepackt und er gab es auf. Das kleine Mädchen was er bei sich hatte, war seine Tochter.“
„Und warum ist sie hier?“
Yanagi setzte sich neben mich und schlug die Beine übereinander. Sie sah niedergeschlagen aus und mit einem Stoßseufzer, nahm sie ihre Brille ab.
„Sie hat Leukämie. Aber sie wird wieder gesund. Man hat es früh genug festgestellt. Morgen beginnt bei ihr die Chemo.“
Ich schluckte und lies den Blick schweifen.
„Was ist Leukämie?“, fragte ich weiter.
„Blutkrebs. Aber darüber wollte ich nicht mit dir reden.“
„Kann ja nur besser werden.“, murmelte ich.
„Sieh dir die Kinder an. Alle nacheinander. Was siehst du?“
Irgendwie kam mir diese Aufforderung bekannt vor. Aber, damit die ganze Sache schnell über die Bühne ging, tat ich ihr diesen Gefallen.
„Sie scheinen glücklich zu sein. Keinerlei Probleme. Zumindest die meisten von ihnen. Andere sitzen nur an ihrem kleinen Katzentisch und starren ins Leere.“, fasste ich zusammen, “Was soll das alles? Wollen sie mich noch mehr deprimieren?“
„Wenn ich dich deprimieren wollen würde, hätte ich dich schon längst zu den wirklich bedauernswerten Patienten gebracht, die weder sprechen noch laufen können.“, sagte sie mit ernster Mine, “Aber nein, ich will dich keines Falls deprimieren. Sieh sie dir mal genauer an. Ich weiß, dass du es in deinem Leben noch schwerer hattest als diese Kinder. Unabhängig davon das du Hörner hast. Klar, auf den ersten Blick wirken sie sorgenfrei, ganz ohne Stress und Beschwerden. Aber, jeder dritte von ihnen, hat schon mal etwas verloren. Sie haben alle eine schwere Last hinter sich gelassen, mussten leiden und das oft ohne ihre Eltern.“
„Jeder von uns hatte eine schwere Kindheit.“, flüsterte ich und drehte mich weg.
„Ja, das ist richtig. Aber sie haben ihr ganzes Leben noch vor sich und müssen jetzt schon irgendwie damit fertig werden, dass sie ein Elternteil verloren haben. Oder sie haben keine Eltern mehr und müssen die nächste Zeit in einem Waisenhaus verbringen. Natürlich wirst du dabei auch berücksichtigt. Allerdings, hast du deine Eltern noch. Einige von ihnen haben dunkle Zeiten hinter sich gebracht und dabei sind es noch Kinder. Jünger als du damals.“
„Was wollen sie mir erzählen?“, seufzte ich erschöpft, “Im Grunde, hatte ich keine richtige Kindheit. Das meiste ist einfach aus meinem Gedächtnis verschwunden. Sicher werden es diese Kinder nie so schwer haben wie ich! Zeigen sie mir nur ein einziges Kind, dass dieselben Schmerzen wie ich erdulden musste!“
Man merkte mir schon an, dass ich äußerst gereizt war. Musste wohl am Schlafmangel liegen.
„Ach ja, die alte Geschichte.“, sagte sie, “Oftmals denken wir, dass der Schmerz der tief in unserem Herzen wuchert, schlimmer ist, als das Leid der Anderen. Wir denken immer, dass wir es am schwersten haben und das niemand uns verstehen kann. Unser Problem ist es einfach, sich in die Köpfe unserer Mitmenschen hineinzuversetzen. Wir kennen es nun mal nicht anders. Aber bedenke diese eine Sache: Diese Kinder haben Menschen verloren und sie werden sich früher oder später damit auseinander setzen müssen. Sie müssen noch wachsen und lernen, was es heißt, geliebte Menschen für immer zu verlieren. Es mag sein, das du damals die meiste Zeit alleine warst, aber dennoch wusstest du dir zu helfen, bis zu einem gewissen Zeitpunkt versteht sich. Ich will dir nicht sagen, dass du kein Recht hast über diese Kinder zu urteilen und was für einen Schmerz sie später durchleiden müssen. Aber du musst dir immer im Hinterkopf behalten, dass es anderen ähnlich schlecht oder noch schlechter geht als dir momentan. Und wenn diese Kinder es geschafft haben diesen Schmerz zu überwinden und damit später fertig werden,......glaubst du nicht, dass du das auch könntest?“
Wie schon so oft, blickte ich nach oben und suchte verzweifelt nach einer Antwort. Ich fand mich wieder an diesem einsamen Strand. Und da saßen plötzlich auch Nana, Kaede, Kota und........ Tomoe. Jeder von ihnen hatte geliebte Menschen verloren. Doch sie alle, wanden sich von mir ab und ließen mich mit meinem Schmerz alleine, als ich sie um Hilfe bat. Niemand wollte mir einen Rat geben. Nur Tomoe blieb noch da und starrte auf das graue Meer hinaus. Sie alle hatten Verluste erlitten, genau wie ich. Vielleicht sollte ich, mich nicht mehr an diesen Schmerz klammern und mich den Leuten zuwenden, die mir helfen wollten.
„Was für einen Sinn hat dann mein Dasein? Wieso verspüre ich dann nur Leid und Schmerz?“
„So ist nun mal das Leben. Natürlich gibt es Freude, Spaß und Liebe. Aber auch Leid und Schmerz müssen wir ertragen. Es kann nicht immer so ablaufen, wie du es für richtig hältst. So ist es nie. Wir wollen das du weiter lebst. Auch wenn du hinfällst und dir ein Knie aufschlägst. Leben, bedeutet nun mal auch, Schmerz.“
So viele Gedanken rasten gerade in meinem Kopf herum. Immer im Kreis, prallten gegen jede Gehirnwindung, bis ich irgendwann Kopfschmerzen bekam und die Farben verschwammen. Ich versuchte alle Gedanken zu ordnen und kam dann schlussendlich, an einem Scheideweg an.
„Kann.......House mir helfen?“, sagte ich erschöpft.
„Ich arbeite zwar erst ein knappes Jahr mit ihm, aber er hat schon vielen Menschen geholfen. Du kannst ihm vertrauen, Rayo.“, bestätigte sie mir und legte mir ihre Hand auf die Schulter.
„Und wann.......würde die Behandlung anfangen?“, fragte ich vorsichtig.
Sie zuckte die Schultern.
„Wann immer du bereit bist.“
Sie reichte mir einen Eisbeutel.
„Dieses Fauchen in meinem Schädel....., glauben sie, er könnte herausfinden woher es kommt?“, fragte ich weiter.
„Ganz bestimmt. Im übrigen, musst du es mal so betrachten, dass du über diesen Kindern stehst. Du könntest ein Vorbild sein. Wenn du irgendwann mal Nachwuchs in die Welt setzt, könntest du ihnen diese Dinge beibringen. Dann bist du an der Reihe, der nächsten Generation das Wissen mit auf dem Weg zu geben. Und glaub mir, der Weg ist immer lang und schwierig.“
Ich legte mir den Eisbeutel auf die Stirn und lehnte mich im Rollstuhl zurück.
„Bringen sie mich zurück auf mein Zimmer.“
„Bist du sicher? Die Kinder malen grade mit Fingerfarben. Das willst du doch sicher nicht verpassen.“
Und schon verdunkelte sich wieder meine Mine.
„Lassen sie die Scherze.“, sagte ich angespannt, “Ich......habe mich....entschieden.“
Ein schmales Lächeln umspielte ihre Lippen und das, verwandelte sich schnell in ein diabolisches Grinsen.
„Also gut. Aber erst.....“, sie stand auf und rief die Kinder, “Was meint ihr, soll euer großer Freund hierbleiben und mit malen?“
„Yanagi......noch ein weiteres Wort und ich......“, zischte ich.
„Ja, er soll hier bleiben!“, riefen sie alle im Chor.
Jetzt fragte ich mich, ob ich überhaupt eine Wahl hatte. Selbstständig weglaufen konnte ich nicht. Und Yanagi, würde mich sicher nicht freiwillig zurück auf mein Zimmer bringen. „Gott.......ich hasse Kinder!“