Asurai war zwar ein normaler Mensch, aber nicht schwach. Zwar konnte ich ihm ansehen, was für Schmerzen er ertragen musste, aber das erinnerte mich zu sehr an mich selbst. Auch ich musste vor kurzem noch unerträgliche Schmerzen über mich ergehen lassen.
„Ich bin mir nicht sicher, als was ich dich ansehen soll, alter Mann. Mutter sagte mir, dass wir nicht miteinander verwandt sind.“
„Siehe mich ruhig als alten Mann an, der als Oberhaupt von diesem Klan vor dir steht. Aber, ich möchte dir etwas zeigen. Doch dafür, müsstest du mir helfen, aus diesem Bett aufzustehen.“
Ich blickte zur Türe.
„Seid ihr euch sicher? Ich meine, es ist schon spät. Und Rin wird das sicher nicht gefallen, wenn ich mit euch hier herumlaufe!“
Ein dunkles Kichern entfuhr ihm und er legte mir eine Hand auf den Kopf.
„Es ist, wirklich bemerkenswert, was aus dir geworden ist, junger Akumaru. Aber wie ich schon bei der Zusammenkunft unten im Saal ansprach, entscheide immer noch ich, wann ich abtrete und nicht Rin. Und ich habe entschieden, dass ich dir etwas zeigen will.“
Er bat mich darum ihm seinen Stock zu geben und dann ein paar Schritte mit ihm zu gehen.
„Und was wollt ihr mir zeigen?“
„Dort hinten, an der Wand. Führe mich hin.“
Das tat ich dann auch. Und dort auf einer Kommode, stand ein Sockel, auf dem ein Schwert ruhte. Ein Katana wohl gemerkt. Doch die Klinge war viel länger als bei Tomoes Waffe. Auf dessen Schwertrücken, konnte ich mehrere kleine spitzer „Zähne“ erkennen und auf der Klinge selbst, befand sich ein gewellter rötlicher Schimmer. Der Griff war mit schwarzen und roten Bändern versehen. Über dem Schwert, hing ein Bild das offenbar Asurai und jemand anderen zeigte. Und ich wusste nicht wieso, aber dieses Katana, löste in mir eine merkwürdige Unruhe aus. So als ob es besessen wäre und zu mir sprechen würde.
„Wem hat es gehört?“, fragte ich.
„Es gehörte einst meinem Bruder Shirahama. Als er heiratete und seinen eigenen Klan gründete, lies er dieses Schwert zurück.“
„Warum hat er den Klan verlassen? Gab es Streitigkeiten?“,fragte ich.
Er nickte.
„Sicher. In einer Familie gibt es immer Streitigkeiten. Aber das ist normal. Allerdings, weiß ich nicht mehr genau, weswegen wir gestritten haben. Vielleicht war es die Erbschaft unseres Vaters. Jedoch übergab er mir das Schwert zur Versöhnung. Und bis heute, weiß ich nicht, was ich mit diesem Schwert noch anfangen soll. Auf der einen Seite erinnert es mich an den Schmerz, das Shirahama den Klan verlassen hat. Gleichzeitig erinnert es mich auch an gute Zeiten, die wir miteinander hatten. Aber auf der anderen Seite, setzt es hier auch nur unnötig Staub an. Eine Schande, wenn du mich fragst.“
Er nickte wieder zum Bett und ich führte ihn dorthin.
„Braucht ihr noch irgendetwas?“, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
„Alles was ich dir noch zu sagen habe, kann bis morgen warten. Dann wirst du eine kleine Prüfung absolvieren.“
„Eine Prüfung?“, wiederholte ich,“Und wie sieht die aus?“
„Lass dich überraschen. Ich freue mich schon darauf, wie und ob du sie bestehen wirst.“
„Wenn das so wird wie die Aufnahmeprüfung der Todai, dürft ihr nicht zu viel von mir erwarten.“, sagte ich Achsel zuckend.
Er gluckste vergnügt.
„Du bist zu streng mit dir.“, er reichte mir die Hand,“Lass mich dir noch eine Sache sagen, bevor du zu Bett gehst.“
„Ich höre euch zu.“, sagte ich.
„Gut.“, er umschloss meine Hand mit seinen Händen und lächelte,“Ich weiß nicht, wann ich diese Welt verlassen werde, aber......ich bin froh, dich endlich kennengelernt zu haben. Ich vermag nicht mal im Ansatz den Schmerz in deinem Inneren auch nur im entferntesten zu begreifen, aber glaube mir, dass du mein vollstes Mitgefühl hast. Und ich bedaure, wie die Welt mit Deinesgleichen umgeht. Sei dir jedoch darüber bewusst, dass du keinesfalls ein Monster bist, dass von allen nur verachtet und gemieden wird. Uns, musst du nicht beweisen, dass du kein Ungeheuer bist. Denn nur diejenigen die sich anmaßen wollen dich zu beherrschen und zu brechen – das, sind die wahren Monster. Die Menschheit ist grausam, doch lasse dich davon nicht in die Knie zwingen. Gleichzeitig darfst du die Menschen aber auch nicht hassen für ihre Taten. Sie wissen es nun mal nicht besser.“
Ich schluckte.
„Und.......wenn ich daran zerbreche?“
„Dann musst du wieder aufstehen. Egal wie oft dich diese Welt auch immer wieder in den Dreck wirft – du darfst niemals aufgeben. Niemals. Und sei für deine liebe Mutter da. Tust du das für mich?“
Ich blickte über die Schulter in Richtung von Mutters Zimmer.
„Verlasst euch auf mich.“, murmelte ich.
„Sehr gut.“, sagte er lächelnd,“Und nun, entlasse ich dich.“
Der nächste Morgen lies sehr lange auf sich warten, da ich zwar schlafen konnte, aber dennoch keine Ruhe hatte. Lag es daran, dass ich nervös war wegen der Prüfung die ich abliefern sollte? Möglich. Oder konnte es sein, dass sich in mir, diese Depression die mir seit geraumer Zeit das Leben schwer machte, seit den letzten Stunden in der Residenz, auflöste? Könnte sein. Aber das ganze wurde aus meinem Kopf kurzzeitig verdrängt, als Asurai mich am Fuß der Treppe abfing und nach dem Frühstück, in den Garten begleitete.
„Ich hoffe, dass du besser schlafen konntest als ich.“, sagte er, als er neben mir über die Veranda schritt.
„Das gleiche wollte ich gerade auch sagen.“, erwiderte ich,“Aber ich denke mal, der Husten spricht für sich.“
Ein schmales Lächeln und ein dunkles Kichern seinerseits , bestätigten meine Annahme.
„Eines muss man dir schon lassen. Du bist scharfsinnig. Aber ja – die Erkältung nagt immer noch an mir. Hoffentlich habe ich nicht allen anderen, so wie dir, den Schlaf geraubt.“
„Nicht doch. Ich konnte ohnehin keine Ruhe finden.“
„Dafür muss ich mich entschuldigen.“, sagte er geknickt,“Ich habe deinen Verstand, so scharfsinnig er auch ist, wohl ein wenig überfordert. Aber ich verspreche, dass ich mich dafür noch revanchieren werde. So fern es mir möglich ist.“
„Quatsch! Das habt ihr doch nicht nötig!“, lenkte ich ab.
Wir kamen an einen kleinen Schrein an, der etwas abseits vom Teich stand. Dieser, erinnerte mich an denen, die im Wald von Kamakura standen. Auch hier standen einige kleine und große Fuchsstatuen. Bloß sahen dieser hier etwas „aggressiver“ aus. Mit offenen Mäulern und ebenfalls den neun Schwänzen, die dieses mal nicht so weit gefächert waren. Im Schrein stand eine rechteckige Steintafel mit abgerundeten Ecken. Hier und da bröckelte sie schon ein wenig und offenbar waren dort mehrere Worte eingemeißelt. Nur konnte man diese kaum noch lesen.
„Kannst du mir, verraten was darauf geschrieben steht?“, fragte ich neugierig.
Es schien ihn sichtliches Unbehagen zu bereiten, als ich ihm diese Frage stellte. Sein Auge zuckte und er schob mich zunächst noch sanft beiseite und wies in Richtung des großen Gartens, der hinter der Residenz lag.
„Wir sollten los. Meinst du nicht auch?“, sagte er leicht säuerlich.
„Aber, ich will wissen was da drauf steht! Jetzt sag schon, Alterchen!“
Ich hatte etwas zu viel gesagt. Also gab er mir einen kurzen aber schmerzhaften Hieb mit seinem Spazierstock auf den Kopf und schubste mich nun fast in Richtung Garten.
„Na los, immer einen Schritt nach den anderen. Du willst doch nicht die Prüfung schwänzen, oder?“
„Menno, ich wollte doch nur wissen was auf der Steintafel drauf steht! Musste der Schlag wirklich sein?!“, jammerte ich.
„Allerdings.“, seufzte er,“Ein Glück ist dein erster Eindruck auf mich immer noch unerschütterlich. Aber warten wir ab, was du gleich noch präsentieren wirst.“
Wie die eigentliche Prüfung aussah, erfuhr ich kurz darauf, als wir zu den anderen in den Garten stießen. Mutter arbeitete gerade an einem Banner, was sie extra für mich anfertigen wollte, aber es war im Moment nur halb-fertig. Asurai setzte sich direkt hinter den anderen auf einen prunkvollen Sessel.
„Also gut!“, rief er,“Da wir nun alle vollzählig sind, begrüße ich euch herzlich zu dieser kleinen Prüfung. Wenn ich also Ayako bitten dürfte, sich zu erheben.......“
Das tat meine Cousine dann auch. Voller Stolz und Arroganz stand sie auf und warf mir sogleich einen Blick der Verachtung zu.
„Ich bin bereit.“, sagte sie kühl.
„Und der verlorene Sohn des Klans.“, sprach Asurai weiter und wies auf mich.
Mutter jubelte mir sogar zu und mein Onkel tat es ihr gleich. Die anderen nickten mir nur respektvoll zu.
„Darf ich erfahren, worum es in dieser Prüfung überhaupt geht?“, fragte ich und stellte mich neben Ayako.
„Tse, das darf ja nicht wahr sein.“, stöhnte sie,“Es ist wirklich eine Schande, dass du so wenig weist!“
Ich rollte mit den Augen.
„Ja, natürlich. Ich habe ja nicht mein ganzes Leben damit verbracht überhaupt, lebend durch zu kommen! Vielen dank für deine Anteilnahme!“, knurrte ich.
„Beruhigt euch ihr zwei.“, sagte Asurai,“Also, die Prüfung – oder besser gesagt die „Vorführung“ ist ganz einfach. Du und Ayako, ihr werdet abwechselnd eure Telekinese präsentieren und zeigen, wie stark sie ausgeprägt ist.“
Ich zuckte zusammen und musste mir seinen letzten Satz noch mehrmals durch den Kopf gehen lassen.
„Wie bitte?! Sie.....ein normaler Mensch, beherrscht.....Telekinese?! Aber.....wie?! Wie ist sowas möglich?! Ich will Antworten haben und zwar sofort!“
Asurai schien vergnügt über meinen Gefühlsausbruch zu sein.
„Es ist wirklich erstaunlich, was die Evolution alles bewirken kann. Nicht wahr? Ayako stammt von einer Generation ab, bei der so etwas wie Telekinese, Vektoren und die Hörner, einfach abgeprallt sind. Sie wurden übersprungen. Ayako beherrscht aber nur die einfache Telekinese. Allerdings nicht so ausgeprägt wie bei dir und deiner Mutter.“
Doch Ayako winkte das gelassen ab.
„Ich bitte euch. Das wird ein leichtes sein, diesen Dummkopf in den Schatten zu stellen!“
„Dann fangt bitte an. Wir sind gespannt.“, erwiderte der Oberhaupt.
Ich lies Ayako den Vortritt, was sie natürlich mit bodenloser Arroganz annahm und ihre Arme ausbreitete. Und ich konnte tatsächlich einen kleinen Druck auf den Schläfen spüren, was sich für mich aber eher so anfühlte wie eine kleine lästige Mücke die zu nah an meinem Ohr vorbei flog. Alles was sie bewirkte, waren ein paar kleine Kieselsteine die aufstiegen und um sie herum schwebten. Ein etwas größerer Stein, wurde von ihr kurzer Hand einige Meter weit geworfen, womit ihre Vorstellung auch schon endete. Alle klatschten, wobei Mutter so unauffällig wie möglich, gähnte. Aber nun, war ich an der Reihe. Jedoch, war ich leicht nervös, da ich beim letzten mal noch Ärger und Drohungen von Tomoe bekommen habe. Also ging ich zu Mutter und bat sie um Rat.
„Was ist denn?“, flüsterte sie.
„Was wenn ich es wieder übertreibe?!“, zischte ich,“Tomoe wird mir den Hals umdrehen!“
„Ach Unsinn!“, sagte Mutter,“Hör mal, hier bist du unter deines Gleichen. Na ja, mehr oder weniger. Wir alle wissen über deine Herkunft Bescheid, über deine Fähigkeiten und über deine Stärke. Du kannst sie hier bedenkenlos freisetzen.“
„Ich weiß nicht.“, druckste ich herum.
„Sicher ist das eine enorme Last die du mit dir herumträgst, Rayo.“, sagte mein Onkel,“Aber das darf nicht alles in deinem Leben sein. Lass einfach alles raus.“
„Er hat recht, mein kleiner Prinz!“, sagte Mutter breit grinsend,“Sollte Tomoe später wieder Einwände haben, übernehme ich die Verantwortung. Und jetzt, will ich das du da rausgehst und dieser kleinen arroganten Zicke zeigst, was du drauf hast! Aber ja: übertreibe es nicht! Ich werde schon ein Zeichen geben, wenn du zu weit gehst. Und jetzt los!“
Ich blickte zu Asurai und Ayako. Meine Cousine wurde ungeduldig und befahl mir fast schon, meine Vorführung hinter mich zu bringen. Mutter zeigte mit den Daumen nach oben und schickte mich nach vorne. Also stellte ich mich vor den Herrschaften hin, verneigte mich kurz und atmete tief durch. Alle außer Mutter hielten die Luft an. Dann, ballte ich meine Fäuste, konzentrierte mich auf einen ganz bestimmten Punkt. Die Dielen der Veranda begannen zu knarzen, der Wind frischte ungemein auf und die vielen kleinen Kieselsteine unter mir, wurden von mir weg gedrängt. Und dann, lies ich einfach alles raus. All der Schmerz, der sich seit der Erkenntnis von Sakis Tod in mir angestaut hatte. Ein starker Windstoß, erfasste alle Zuschauer und hob sie fast von ihren Plätzen. Asurai blieb jedoch eisern sitzen und ich konnte sein Lächeln sehen, wie es breiter und vielleicht auch etwas dunkler wurde. Meine Hörner bohrten sich langsam aber sicher wieder aus ihrer Verankerung heraus, der Schweiß lief mir in Strömen von der Stirn.
Und Asurai, kippte kurz nach vorne und begann zu lachen. Er warf den Kopf zurück und wieder spürte ich diese Dunkelheit die er ausstrahlte, aber auch eine gewisse, Erleichterung die von ihm ausging. Es war ein wahres Wechselbad von Gelassenheit und Respekt die ich von ihm empfing.
„„Sehr gut! Das gefällt mir! Shiori, du kannst stolz auf ihn sein! Jetzt,……kann ich glücklich sterben!“, rief Asurai mit Begeisterung.
Mutter wies mich an, aufzuhören nur um mit offenen Armen auf mich zu zu rennen und mich in selbigen einzuschließen. Ayakos Eltern waren erbleicht und schienen sich zu schämen, während Ayako selbst auf die Knie gefallen und völlig bewegungslos so verharrte, so als hätte ich gerade ihr gesamtes Weltbild, was sie sich über all die vergangenen Jahre aufgebaut hatte, zertrümmert hätte. Und es gefiel mir.