Kaum war dieser Holzkopf wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden, wurde auch mein Leben wieder etwas einfacher. Nach all den ganzen Strapazen, wollte ich noch einmal kurz zu Shiori und mit ihr einige Sachen besprechen. Ganz oben auf der Liste stand der Bericht über Rayos Trauma, was während seiner Operation angefertigt wurde. Keiner von uns, noch nicht einmal Kaede und ich hatten den Bericht bisher gelesen. Ich dachte, dass Shiori ihn zu erst lesen sollte, auch wenn ich wusste, das sie gerade wichtigere Dinge zu tun hatte.
Als ich schließlich an ihrer Haustür klingelte, wurde ich sofort mit offenen Armen empfangen. Naomi strahlte mich zunächst an, doch ihre Mine verblasste rasch.
„Ich hab gedacht das mein großer Bruder uns besuchen kommt.“, schmollte sie und blähte die Backen auf.
„Ja ich bin auch froh wieder hier zu sein.“, äffte ich sie nach,“Ist deine Mutter zu Hause?“
„Mami ist gerade.......“
„Naomi!“, rief Shiori aus dem Wohnzimmer,“Du hast noch nicht aufgegessen!“
Wir trotteten ins Wohnzimmer und wie ich vermutet hatte, hatte Shiori gerade wirklich wichtige Dinge zu tun. Sie lag halb schlafend auf dem Sofa, während Hikari im Sessel hockte und vor sich hin döste.
„Ich hatte eigentlich erwartet, das du für Rayo irgendwas kochst.“, sagte ich,“Sonst bekommt er doch auch immer ein All-you-can-eat-Buffet. Außerdem ist er doch wieder aus dem Krankenhaus raus.“
„Ja schon.“, sagte Shiori gelangweilt,“Und ich freue mich wirklich für meinen kleinen Prinzen, aber es gibt nichts zu tun. Meine Verehrer sind alle uninteressant geworden.“
„Dann hab ich hier etwas Beschäftigung für dich.“, erwiderte ich und hielt ihr den Briefumschlag hin,“Der Bericht von Rayos Trauma.“
Sofort wurde sie hellhörig und nahm den Umschlag an sich.
„Und du und Kaede habt noch nicht hinein gesehen?“
„Nein.“, sagte ich Kopf schüttelnd,“Ich dachte mir, du als seine Mutter, die ihn über alles vergöttert und sogar auf Händen tragen würde, wärst interessiert daran, es zuerst zu lesen.“
Sie verdrehte die Augen und lächelte verschmitzt.
„Wie Rücksichtsvoll von dir. Hoffentlich ist mein kleiner Prinz schon bereit für einen weiteren Besuch von mir. Es gibt nämlich ein paar wichtige Leute, die ihn endlich mal kennenlernen würden.“
Ich traute mich gar nicht erst zu fragen. Ich war müde und erschöpft von der elendig langen Busfahrt bis hierhin. Und mein anderes, persönliches Anliegen an Shiori musste noch warten.
„Meint ihr, das Yu mal herkommen könnte, um euch mal kennen zu lernen......“, wollte ich Shiori fragen.
Doch ihr verblasstes Lächeln lies mich stocken. Ihr linkes Auge begann zu zucken und die eben noch heiter gestimmte Naomi, die ihre Mutter zu einer Partie Jenga herausfordern wollte, zuckte zusammen als sie ihr Gesicht sah.
„Mami?“, fragte sie vorsichtig und stellte den Karton auf den Boden.
Diese unheimliche Stille die sich breit machte, schien auch Senichi bemerkt zu haben, der mit weit aufgerissenen Augen zu uns stieß und den Atem anhielt.
„Oh.....bitte nicht schon wieder.“, hauchte er,“Äffchen, hol mal schnell deinen Bruder. Wir fahren kurz nach Akihabara.“
Ich verstand absolut nichts mehr und erst jetzt, bemerkte ich, wie Shioris Gesichtszüge immer dunkler wurden. Man hörte ein leichtes Knarzen vom Tisch und ich spürte einen seltsamen Druck auf den Schläfen.
„Shiori?“, fragte ich,“Was steht denn nun in dem Bericht?“
Doch sie antwortete mir nicht. Stattdessen erhob sie sich und blieb mit geschlossenen Augen stehen. Kurz darauf, packte mich Senichi am Arm und zog mich mit Hikari und den Zwillingen, nach draußen vor die Haustüre.
„Papi......“, sagte Naomi mit zitternder Stimme,“Hat Mami etwa wieder.......“
„Sieht so aus Äffchen.“, schluckte Senichi,“Wie es scheint, hat Mami mal wieder einen Ausfall!“
„Was soll denn das heißen?“, fragte ich verwirrt.
„Du wirst gleich schon sehen........“, warf Hikari ein, hockte sich hin und hielt sich die Ohren zu.
Ein paar Sekunden später verstand ich auch endlich, warum. Ein furchterregendes, ohrenbetäubendes Kreischen, das mir das Blut in den Adern gefrieren lies, dröhnte aus dem Haus, einmal quer durch die Gegend. Und......einen Moment..., vibrierte der Boden?
„Ein Erdbeben?!“, rief ich und versuchte einen festen Stand zu behalten.
„Ganz recht.“, rief Senichi und schluckte,“Ich habe das ganze nur einmal erlebt. Ob das jetzt nun gut oder schlecht für mich ist, weiß ich bis heute nicht. Es war damals, als ich beschlossen habe sie........na ja, nach der Schwangerschaft mit Rayo, zu verlassen.“
Von Hikari kam ein Kieselstein geflogen, der seinen Kopf traf.
„Du bist und bleibst ein kaltschnäuziger Vollidiot, Senichi!“, fluchte sie.
„Ist sie ausgerastet, als du es ihr gesagt hast, oder nachdem du gegangen bist?!“, schnauzte ich ihn an,“Kein Wunder das Rayo nicht sonderlich viel von dir hält.“
Er lies den Kopf hängen und zeigte offenbar Reue. Also sank er zusammen und raufte sich die Haare. Eine Geste die ich schon des öfteren bei Rayo gesehen habe.
„Glaubt ihr etwa das mich das kalt gelassen hat?“, sagte er,“Es waren zwar keine guten Gründe, aber.........ach vergessen wir das „Aber“! Ich war ein Idiot okay?!“
„Und was waren deine Gründe?“, fragte ich weiter.
„Erstens: Ich war noch nicht bereit für Kinder. Wir waren jung, wir waren sehr verliebt ineinander......und dann passierte es einfach. Zweitens: Ich hatte Angst vor Shiori. So wie fast alle Männer damals in meinem Alter.“
„Das kann ich bestätigen!“, sagte Hikari.
„Das soll alles sein?!“, knischte ich.
„Natürlich nicht. Es waren diese Wutausbrüche die mich verjagt hatten. Zwar mögen Shiori und ich nicht über Vektoren verfügen, aber über einen Grad der Telekinese. Bei ihr ist es damals so ausgeartet, das sie mich beinahe mit ihren telekinetischen Kräften, pulverisiert hätte.“
„Und wie war das damals, als ihr Naomi und Seiryu bekommen habt? Ich meine, da bist du ja auch einfach abgehauen.“, harkte ich weiter nach.
„Nun ja, ganz so einfach ist das nicht, Tomoe.“, sagte er.
„Jetzt bin ich gespannt!“, erwiderte Hikari.
Er seufzte und sah uns dann betreten an.
„Sie hat mich rausgeworfen.“
Kurz nach dem das vermeintliche Erdbeben wieder aufgehört hatte, schlichen wir langsam wieder ins Haus und fanden ein Schlachtfeld vor. Das Sofa war zerfetzt, der Boden aufgerissen und der Tisch war zertrümmert. Die Küche musste offenbar zum Krisengebiet erklärt werden, da man dort keinen Fuß mehr vor den anderen setzen konnte.
Naomi und Seiryu versteckten sich sogar hinter Senichi und krallten sich an seinen Beinen fest.
„Mami?“, fragte Naomi.
„Großer Gott Shiori!“, zischte Senichi,“Du rauchst?! Dabei dachte ich, das du dass endgültig aufgegeben hättest.“
Shiori saß tatsächlich ruhig und fast schon beängstigend gelassen da und nahm einen weiteren Zug ihrer Zigarette.
„Sah es damals auch schon so furchtbar aus?“, fragte ich.
Senichi seufzte und nahm die Zwillinge auf den Arm.
„Wir fangen schon mal an alles aufzuräumen.“, sagte er und ging nach oben.
Ich und Hikari blieben zurück.
„Jetzt weiß ich endlich, woher Rayo sein aufbrausendes Temperament hat.“, sagte Hikari zu mir.
„Dabei dachte ich, dass er mehr nach Senichi kommt.“, erwiderte ich.
„Ja gut, das auch. Aber Shiori hat wohl den Löwenanteil bei der Verteilung der Gene beigetragen.“
Es war mittlerweile die zweite Nacht, in der ich wieder im Ryokan schlief. Am Tag zuvor, hatte ich versucht mit Kanako endlich über den Vorfall nach der Feier an der Todai zu sprechen. Jedoch versagte ich dabei. Entweder wollte sie mir gezielt aus dem Weg gehen, weil sie wohl zu schüchtern war, oder aber sie hatte viel zu tun. Ersteres, würde laut Keitaro aber gar keinen Sinn ergeben, da Kanako alles andere als schüchtern war. Als Naru damals schwerwiegende Probleme damit hatte, ihre Gefühle für Keitaro einzugestehen, hat Kanako fast nichts unversucht gelassen um sich an ihm ran zu machen. Fast jedes Mittel war ihr recht. Ob nun leicht bis kaum bekleidet. Sogar vor Verfolgungen machte sie nicht halt, aber wie schon so oft, schweife ich schon wieder einmal ab. Entschuldigt bitte.
Der nächste Morgen begann für mich aber etwas weniger erfreulich. Eine Vision suchte mich heim und auch wenn sie dieses mal nicht so düster und morbide war, wollte ich so schnell wie möglich aufwachen um ihr zu entkommen. Dieses mal, war es ein riesiger, dunkler Raum. Alles flackerte und ich hörte das rascheln von Ketten, die über einen Stahlboden kratzten. Irgendetwas war dort angekettet, es greinte und klagte über seine Misere in der das Wesen steckte. Es gab wehleidige Laute von sich. Ich ging näher um herauszufinden was sich dort befand, doch plötzlich, rissen ein paar blutig roter Augen in der Dunkelheit auf und bedrängten mich.
Mit leichten Schweißtropfen auf der Stirn wachte ich auf und erschrak zunächst, als ich die unzähligen, blutigen Handabdrücke an der Decke und den Wänden sah. Doch nach einen langen blinzeln, waren sie wieder verschwunden. Von draußen hörte ich lautes Fußgetrappel. Leicht säuerlich, nahm ich mir meine Krücken und humpelte nach draußen. Alle waren aufgeregt, klopften gegen die Fenster und waren mit Werkzeugen bewaffnet und sie schienen mich nicht wirklich zu beachten. Also begab ich mich ins Foyer und fand dort Haruka und Naru auf.
„Habt ihr auch alles gründlich kontrolliert?“, fragte sie Haruka.
„Ja.“
„Sind eure Fenster noch alle heil? Keine Schränke umgefallen?“
„Alles ist da wo es hingehört.“, erwiderte Naru und harkte alles auf einer Liste ab.
„Sagt mal, was soll denn der ganze Lärm? Wozu die Aufregung?“, fragte ich und humpelte zu ihnen.
„Ah guten Morgen Dornrösschen.“, grüßte mich Haruka und fuhr mir durch die Haare,“Darfst du schon aufstehen?“
„Das du überhaupt so lange durchschlafen konntest ist uns immer noch ein Rätsel.“, sagte Naru.
„Wieso? Was ist denn eigentlich los?“, hakte ich nach.
„Ja, hast du denn überhaupt gar nichts mitbekommen? Es gab ein Erdbeben!“, erklärte mir Naru.
„Erdbeben?“, wiederholte ich,“Nie davon gehört.“
„Es hat doch alles gewackelt. Zwar nicht besonders lange, dafür aber schon etwas intensiv.“, sagte Haruka,“Hast du wirklich nichts bemerkt?“
Ich zuckte die Schultern.
„Jetzt macht doch mal nicht so'n Fass auf, nur weil das Haus ein bisschen gewackelt hat. Davon geht die Welt nicht unter.“, maulte ich.
„Du machst wohl Witze.“, kam es von Motoko,“Auf der Welt hat es schon schlimme Erdbeben gegeben die ganze Städte zerstört haben.“
„Mag sein. Aber ich kenne so was auch nicht. Und, wieso habt ihr mich nicht geweckt, wenn das so gefährlich sein soll?“
„Haben wir ja versucht, aber du warst ja durch nichts wach zu kriegen!“, konterte Motoko.
„Kann man es ihm denn verübeln?“, sagte Shinobu die gerade mit Eimer und Wischmob des Weges kam, “Er hat Wochen im Krankenhaus gelegen, hatte furchtbare Albträume und dann noch diese ständigen.....na ihr wisst schon.“
„Sie hat recht.“, ergriff Haruka wieder das Wort, “Der Knirps kann froh sein mal durchgeschlafen zu haben. Aber das Erdbeben war auch nur sehr kurz, da haben wir noch mal Glück gehabt.“
Ich seufzte.
„Musste der „Knirps“ wirklich sein? Ich bin kein Kind mehr!“, meckerte ich.
„Oh tut mir leid, du kleiner Giftzwerg.“, grinste Haruka mich an und kniff mir in die Wange, “Die Mädels machen mit dir gleich weiter deine Gymnastikübungen. Sollst ja lernen, wieder richtig laufen zu können.“
„Sag mal, machst du das mit Absicht?“, fragte ich.
„Was? Der „Giftzwerg“? Nicht unbedingt. Aber wenn du willst, hör ich gerne auf damit, du alter Griesgram.“
Wieder fuhr sie mir durch die Haare.
„Ich hab schon verstanden. Botschaft angekommen.“, sagte ich entschieden und humpelte nach draußen,“Das werd ich mir merken!“
„Er hat seine schlechte Laune wieder. Das ist doch schon mal was.“, kicherte Naru.
„Sollten wir nicht eher daran arbeiten, seine Laune zu heben?“, fragte Shinobu verwirrt,“Ich meine er hat doch immer noch.....“
„Ach was.“, winkte Haruka ab,“Er weiß das wir ihn damit nur necken wollen. Außerdem kann man ihn so leichter ärgern.“