Nayara
Es ist, als hätte es der Wind auf mich abgesehen. Er verfolgt mich, wohin ich auch gehe, überzieht mich mit einem eisigen Schauer.
Zum wiederholten Mal in dieser Nacht tauche ich meine Füße in den glitzernden Schnee, weiß schon gar nicht mehr, wie weit ich gelaufen bin. Man sollte meinen, das Stechen würde nachlassen, doch selbst meine bereits gefrorenen, tiefblauen Zehen fühlen die Kälte bei jedem Schritt – oder bilde ich mir das nur ein?
Ich schlinge die zitternden Arme um meinen nackten Leib, presse trotzig die bebenden Lippen aufeinander.
Hör auf so schwach zu sein, so menschlich...
Stur setze ich meinen Weg fort, mitten durch den Schneesturm. Langsam aber sicher kann ich außer dem tobenden Weiß nichts mehr erkennen. Obwohl hier oben in den Bergen sowieso nichts außer diesem ewig währenden Schnee zu sehen ist. Wie ich es doch hasse.
Auf wackeligen Beinen stolpere ich voran, denn zurück kann ich nicht mehr. Ein Zurück existiert nicht...Nicht für mich.
Der Wind, mein Verfolger, schubst mich in seinen Wogen umher, ringt mich nieder. Unsanft lande ich in dem meterhohen Schnee, er fühlt sich beinahe weich an, gemütlich. Für einen Sekundenbruchteil überlege ich, einfach liegen zu bleiben. Schlafen. Gehüllt in eine Decke aus Eis und Frost.
So verführerisch dieser Gedanke auch sein mag, ich erliege ihm nicht. Ich zwinge meinen ermüdeten Körper wieder aufzustehen, weiter zu laufen, denn aufgeben gehörte noch nie zu meiner Persönlichkeit. Und lebe ich nun auch ein anderes Leben – es wird niemals eine meiner Eigenschaften werden.
Es geht immer weiter vorwärts, bis mich mein Schicksal findet...oder der Tod. Je nachdem wer schneller ist.
Und im Augenblick scheint Letzterer direkt auf meiner Fährte zu sein. Jeder Schritt wird mühsamer, der Sturm hüllt mich ein, saugt mich in sich auf und präsentiert sich in voller Pracht, als würde er um mich werben. „Bemerke mich!“, scheint er zu schreien.
Früher mochte ich Schneestürme, habe mit ihnen gespielt. Flink und dennoch graziös bin ich hindurch gerannt, habe versucht, die wild umher tanzenden Flocken mit meinem Maul einzufangen. Kaum hatten sie meine Zunge berührt, lösten sie sich auf. Sie schmeckten nach Leben, Abenteuer und nach...mehr. Doch jetzt schmecken sie nach Nichts. Nach gar nichts.
Innerlich verfluche ich diesen Körper, er ist nicht gemacht für diese Welt. Für meine Welt!
Dumme, dumme Menschen...Seid ihr überhaupt zu Irgendetwas im Stande?
Die Wut in meinem Bauch lässt mich nach dem Wind schlagen, aber er verspottet mich nur und wirbelt weiter unerbittlich um mich herum, als wäre es ein Spiel. Fast schon enttäuscht senke ich den Blick und starre meine Hände an. Doch sie bleiben leider wie erwartet und verwandeln sich nicht zurück in die strahlend weißen Pfoten mit den silbrigen Krallen. Nein, sie bleiben menschlich. Dünn, zittrig und absolut nutzlos!
Den kurzen Moment meiner gedanklichen Abwesenheit nutzt das Unwetter um Herr meines Körpers zu werden, eine Gefangene aus mir zu machen. Erneut lande ich in dem eisigen Pulver.
Ich darf nicht aufgeben!
Lautstark brülle ich meine Entschlossenheit zum Mond hinauf, doch es klingt nicht nach mir. Es ist nicht das so vertraute Geheul, sondern das Schreien einer Fremden. Ich balle die Hände zu Fäusten und kämpfe gegen den wirbelnden Eiswind an. Ich muss vorwärts, um zurück zu finden. Zurück, zu meinem alten Ich.
***
Stumme Worte verlassen deinen Mund,
doch fangen kannst du sie nicht.
Du magst Herr ihrer Sprache sein,
doch verstehen kannst du sie nicht.
Deine Augen erblicken die Welt,
doch siehst du sie nur verschwommen.
Dein Blick passt sich ihr völlig an,
doch plötzlich bist du blind.
Du hältst dein Herz in deiner Hand,
doch das Pochen fühlst du kaum.
Du klammerst dich fest an dein Leben,
doch erloschen ist es schon längst.
Nichts ist, wie es einmal war,
doch begreifen willst du es nicht.
Die Vergangenheit versucht zu fliehen,
aber halten kannst du sie nicht…
***
Mein Kopf schmerzt, als hätte ich einen dumpfen Schlag abbekommen, doch ich kann mich nicht daran erinnern. Genau genommen kann ich mich an gar nichts erinnern, bis auf diesen Sturm und...
„Oh, du bist wach, wie schön.“ Eine fremde Stimme dringt an mein Ohr, der Tiefe nach zu urteilen gehört sie einem männlichen Wesen. Ich versuche die Augen zu öffnen, etwas zu sehen, doch meine Lider sind unendlich schwer. In meinem Inneren breitet sich etwas Seltsames aus – Angst. Es zieht unangenehm, kribbelt in meinem ganzen Leib. Ich fühle mich so schrecklich wehrlos.
Schritte folgen, klingen, als würden sie sich nähern. Ich bewege die Lippen, bleibe dennoch stumm.
Hat man mir nun auch die Stimme genommen? War mein Körper nicht genug?
Verwirrt versuche ich die Augenlider erneut aufzuschlagen, das Adrenalin, das nun durch meine Adern gepumpt wird, verleiht mir die Kraft dazu. Schwärze. Dann wird es schlagartig gleißend hell und verformt sich zu einem verschwommenen...Etwas.
Irritiert zucke ich zusammen. Was ist nur los?
„Ruhig, nicht zu hastig! Du musst dich wohl erst mal an das Licht gewöhnen.“ Wieder diese Stimme, sie gehört mit Sicherheit einem Menschen – ich kann es riechen. Auch wenn meine Sinne um einiges schwächer geworden sind, einen solchen Gestank können nur diese niederen Kreaturen aussenden. Der Gedanke von solch einer Gestalt auch nur angesehen zu werden widert mich an.
Angestrengt versuche ich mich zu bewegen, doch meine Glieder sind bleiern. Es ist nicht nur die stets währende Müdigkeit, seit ich in diesem Körper stecke, die mich hier hält. Irgendetwas macht es mir unmöglich, mich auch nur aufzusetzen.
Ich versuche bedrohlich zu knurren, in der Hoffnung, so meiner hilflosen Situation entfliehen zu können, aber meine Kehle ist zu trocken. Fast schon staubig.
Mühsam winde ich mich, kämpfe dagegen an, doch ich bleibe eine Gefangene.
„Hab keine Angst, ich tue dir nichts.“
Dass ich nicht lache, jämmerlicher Mensch! Du wärst niemals im Stande mir etwas anzuhaben.
Wie gerne würde ich ihn anspringen und sein Gesicht zerfleischen. Mir das warme, süßliche Blut von den Lippen lecken.
Doch seit ich in dieser Hülle eingesperrt wurde, bin ich nichts weiter als eine Gefahr für mich selbst – unfähig zu überleben.
Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass er sein Wort hält. Wie erbärmlich ich doch geworden bin!
Langsam verschwindet der Schleier vor meinen Augen, lässt mich die Umgebung ein wenig erkennen. Endlich.
Aber der erste Anblick lässt mich wünschen, erneut zu erblinden: Stechende Augen, schwarzgraues, mittellanges Haar und ein markantes Kinn. Abstoßend, diese Menschen. Einfach grauenhaft!
Er verzieht die geschwungenen Lippen, zu einem schiefen Grinsen. „Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht...“
Sorgen? Um mich? Als wäre das nötig!
Mein Blick bleibt an seinem Mund haften, seine Worte klingen so ehrlich und dennoch glaube ich ihm nicht.
Es dauert eine Weile, bis ich wieder klare Gedanken fassen kann. Auch wenn ich es ungern zugebe, die vielen neuen Eindrücke überfordern mich ein wenig.
Die fremden Gerüche: Holz, Vanille und frisch gebackenes Brot. Allerdings ist der des Menschen am stärksten. Der, des Feindes!
Es kostet mich all meine Konzentration einen neuen Versuch des Redens zu starten. Meine Zunge fühlt sich taub an, schwer.
„Wo bin ich?“
„In Sicherheit.“ Seine Worte klingen so klar und deutlich und dennoch so fern.
Als ob.
Er schnaubt belustigt als könne er meine Gedanken lesen. „Du solltest dich jetzt nicht darum kümmern, erhole dich erst einmal wieder vollständig.“
„Es geht mir gut“, krächze ich heiser, versuche mich aufzurichten. In meinen Händen und Armen breitet sich ein unangenehmes Kribbeln aus. Ich fühle mich schlapp und schwach. Jämmerlich und… menschlich.
Wie konnte ich nur in diese Situation geraten?
Meine Augen glitzern feucht, ich versuche die aufsteigenden Tränen der Verzweiflung und der Wut zurückzuhalten. Doch sie sind stark, drohen mich zu überwältigen.
„Du solltest wirklich liegen bleiben.“ Mein kleiner Gefühlsausbruch hat mich alles andere um mich herum völlig vergessen lassen, wie ungewöhnlich für mich. Der Mensch beugt sich zu mir herunter und drückt mich an den Schultern zurück auf den harten Untergrund. Vorsichtig und dennoch bestimmt.
Ich versuche mich dagegen zu wehren. Alles in mir sträubt sich gegen seine Berührung, doch sie fühlt sich irgendwie warm an. Vertraut. Und sie gibt mir etwas meiner Energie zurück, die sich hitzig in meinem Inneren ausbreitet und das taube Kribbeln aus meinen Gliedern vertreibt.
„Fass mich nicht an!“, fauche ich und schlage nach ihm. Für den Bruchteil einer Sekunde klinge ich wieder wie ich selbst. Es ist die Stimme einer Wölfin.
Doch sofort bereue ich die hastige, kraftvolle Bewegung, die wie eine stechende Welle durch meinen Körper zuckt und sich in einem dröhnenden Brummen in meinem Kopf ausdehnt.
Mein Gegenüber fällt zurück, landet unsanft mit dem Hintern auf den Boden. Doch er ist weder schockiert noch überrascht. Er lacht. Das ist alles. Ein einfaches, heiteres Lachen.
„Was soll das alles?“ Ich lasse ihn keinen Moment aus den Augen, beobachte jede seiner Bewegungen. Angespannt, wie auf der Lauer.
Ich will endlich wissen was los ist. Wo bin ich? Was ist passiert? Und wie zur Hölle kann ich zu meinem alten Ich zurückkehren?
„Tut mir leid“, sagt er dann räuspernd und bringt etwas Entfernung zwischen uns, „ich wollte dir wirklich nicht zu nahe treten.“
Seine Augen fixieren mich, beißen sich in meinem Blick fest. Diese Augen… Ich kann wirklich nichts darin finden. Kein einziges Anzeichen, ob er es ernst meint. Ob er sich wohl wirklich um mich sorgt und mir helfen will? Oder geht von ihm wohl möglich doch eine Bedrohung aus?
Ich schüttle den Kopf, die langen Haarsträhnen wirbeln wie ein Sturm um mich. Das ist alles so verwirrend!
Was mache ich jetzt bloß?
„Ich weiß, das ist alles nicht leicht für dich…allerdings solltest du wirklich erst wieder zu Kräften kommen, danach werde ich dir all deine Fragen beantworten. Versprochen.“
Ich starre auf meine Knie, ziehe sie an und schlinge die Arme darum, presse die Lippen fest aufeinander. Ich fühle mich noch immer etwas erschöpft, aber die Bewegungen fallen mir nicht mehr so schwer. Ein schwaches Nicken meinerseits. Dann lege ich mich zurück auf den Boden, wickle die kuschelige Decke, in die ich zuvor gehüllt war, um meinen Körper und schließe die schweren Augenlider.
Ich sollte ihn in dem Glauben lassen, dass ich wirklich so schnell und kampflos nachgebe.
Er steht auf, seine Schritte dringen an meine Ohren. Sie entfernen sich. Langsam und zögerlich. Mit ihm verschwindet auch der Nebel in meinem Kopf, der Gedankendunst löst sich auf.
Ich weiß nicht viel, aber einer Sache bin ich mir definitiv sicher: Ich muss so schnell wie möglich von hier verschwinden.