Nayara
Mein Körper fühlt sich taub an, müde. Alles scheint so unwirklich zu sein. Aidens Verrat, hat selbst mich schockiert. Er hat seine Freunde, seine Familie verstoßen und wofür? Für die Unsterblichkeit. Und Faye. Mein lieber Faye. Er ist der Schicksalswolf, niemals hätte ich das gedacht. Aber mehr noch... er hat sich für mich geopfert.
Zwischen all der Leere in meinem Inneren breitet sich ein schmerzliches Gefühl in meine Brust aus.
Ich werde dich vermissen. So schrecklich vermissen.
Ich schlucke fest, um die Gedanken und Emotionen beiseite zu schieben. Wir müssen uns jetzt auf Felans Rettung konzentrieren. Und dafür brauchen wir Hilfe.
Tarun's Stimme dringt schon von weitem an mein Ohr, Leana und Dante lachen im Hintergrund. Urplötzlich versteife ich mich, werfe einen Blick zu Talib, der lässig an der Wand lehnt. Doch seine Muskeln sind angespannt, über seinem Gesicht liegt eine gefühllose Maske.
Als ich ihre Schritte direkt vor dem Eingang wahrnehme, wende ich mich der Tür zu, die in die Küche führt. Ich will gerade durchgehen, als Talib mir den Weg versperrt. „Du bleibst hier“, sagt er mit einem solchen Nachdruck in der Stimme, dass ich für einen Moment erstarre. Unfähig etwas zu sagen.
Was soll das?
„Spinnst du?“, zische ich als ich mich aus der Starre löse, dränge mich an ihm vorbei in die kleine Küche. Weiße Fliesen, silberne Waschbecken und Tresen, auf denen die Sonne ihre Strahlen wirft. Weiße Schränke. Der Raum wirkt so hell, dass er mich fast blendet. Ich durchquere ihn, um durch die Schwingtür in den Gästeraum zu gelangen, doch Talib reißt mich am Arm zurück. Er ist weder zärtlich noch xx.
„Ich meine es ernst!“ Dieses Mal ist es eine Warnung. „Ich will erst mit ihnen reden, bevor ich sie in deine Nähe lasse.“
„Ich lasse dich doch nicht alleine da raus gehen!“ Ich verenge meine Augen zu Schlitzen. Im Hintergrund erklingen Rufe. „Hallo?“ Ein leises Klopfen an der Eingangstür. „Seid ihr sicher, dass das der richtige Laden ist?“ Das ist eindeutig Leanas Stimme. Erneut klopft es, dieses Mal lauter.
„Bitte, warte hier. Nur bis ich mir sicher sein kann, dass sie nicht direkt auf uns losgehen.“
Ich nicke, bin aber alles andere als glücklich darüber. „Eine Minute“, knurre ich, „dann komme ich dazu.“
Er legt im Vorbeigehen seine Hand auf meinen Rücken, es ist nur eine flüchtige Geste, aber eine warme Brise rauscht durch meinen Körper. Ich verliere einen winzigen Teil meiner Anspannung.
Ich bleibe hinter der Schwingtür stehen, beobachte Talib durch das runde Glas, das in der hellen Tür eingelassen ist. Er läuft schnellen Schrittes durch die in rot gehaltene Stube, zwischen all den Tischen und Stühlen vorbei, auf die Tür zu, um sie zu öffnen. Seine Muskeln sind nun noch angespannter als zuvor. Sofort macht er einen Schritt ins Innere um die drei reinzulassen.
„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“, begrüßt ihn Tarun, der zu einem Handschalg ansetzt, doch Talib rührt sich nicht.
Stirnrunzelnd tritt sein Bruder ein. Leana folgt ihm, ihr eben noch so freundliches Lächeln ist wie eingefroren. Dante, den sie an der Hand hält, blickt finster drein. „Wie siehst du denn aus? Und was ist hier überhaupt los?“
Talib schlägt die Tür hinter Dante geräuschvoll zu. „Das wüsste ich gerne von euch“, raunt er nun.
Leana zuckt unter dem bedrohlichen Ton in Talibs Stimme zusammen.
„Alter, lass den Mist und sag uns was passiert ist“, fordert ihn Tarun auf, er macht einen Schritt auf seinen älteren Bruder zu. Dieser wendet sich stumm zu mir um, die Blicke der anderen folgen ihm. „Nayara“, ruft Leana fröhlich aus, doch sie klingt nicht so unbeschwert wie sonst.
Leana, bitte sag mir, dass du nicht wirklich Aidens finstere Pläne verfolgst. Bitte!
Sie läuft auf mich zu, doch Talib ist schneller. Er stellt sich vor sie und hindert sie am Weitergehen.
„Was soll das?“ Dante zieht seine Freundin ein Stück zurück und funkelt Talib böse an. „Was ist dein Problem? Erst bestellst du uns hierher und bittest uns Ersatzkleidung mitzunehmen, wir dachten schon, du veranstaltest eine kleine Übernachtungsparty oder so. Aber stattdessen landen wir in diesem heruntergekommen Schuppen und nun benimmst du dich wie ein Idiot. Sagst du mir nun was los ist oder muss ich es aus dir herausprügeln?“
„Versuchs doch“, knurrt Talib, baut sich bedrohlich vor ihm auf. Augenblicklich stoße ich die Tür auf und trete auf sie zu. „Nicht!“ Ich will ihn wegziehen, doch er stößt mich zurück. Sanft aber entschlossen. „Du sollst hinten bleiben, hab ich gesagt!“
Die anderen Drei schauen verunsichert zwischen Talib und mir hin und her, als würden sie die Welt nicht mehr verstehen.
„Wenn sie uns angreifen wollten, hätten sie das bereits getan. Außerdem, würden sie sich nicht wundern, warum ich hier bin, wenn sie auf Aidens Seite sind?“
„Wieso sollten wir euch angreifen?“ Leane wirkt sichtlich irritiert.
„Auf Aidens Seite?“ Dantes Augenbrauen schießen nach oben. „Was soll das bedeuten?“
„Hat er sich an deine Kleine rangemacht und jetzt spielen wir Kindergarten oder was?“, feixt Tarun, doch niemand außer ihm lacht.
Die Situation ist zum Zerreißen angespannt, in der Luft scheint es zu knistern. Leana schüttelt den Kopf, geht langsam auf mich zu. „Nayara, was ist mit dir passiert? Du siehst ja furchtbar aus. Lass mich das ansehen.“
Sie streckt die Hand nach mir aus, doch Talibs Warnung lässt sie sofort innehalten. „Fass sie nicht an!“
Leana sieht ihn beinahe ängstlich an, schaut dann verwirrt zu mir. Ich spanne mich unter ihrem Blick nur noch weiter an. Dantes Geduldsfaden scheint gerissen zu sein, er geht so schnell auf Talib los, dass ich überhaupt nicht reagieren kann. Schwungvoll krachen die beiden Männer gegen einen der Tische, Talib fällt rücklings darauf, während Dante über ihm thront und fest am Kragen packt. „Reiß dich zusammen und sag uns was das alles soll!“
Talib stemmt sich dagegen, knurrt ihn bedrohlich an.
„Aufhören!“, fauche ich so laut, dass sein schwarzer Lockenkopf überrascht zu mir herumfährt. „Lass ihn sofort los“, sage ich mit einer so festen Stimme, dass er meiner Warnung nachgeht. „Nur wenn ihr uns sagt, was ihr verheimlicht.“
„Wir?“ Talib richtet sich wieder auf, schubst Dante von sich runter.. „Ihr habt uns doch belogen.“
Tarun stößt genervt die Luft aus. „Schluss mit der Geheimniskrämerei. Mit was genau sollen wir gelogen haben?“
Als Talib seinen jüngeren Bruder anblickt, entdecke ich den Schmerz in seinem Blick. Den Schmerz darüber, dass Tarun die Wahrheit am aller meisten verletzen könnte.
Wenn er erfährt, dass Aiden all diese finsteren Pläne verfolgt und Tarun dafür verantwortlich macht...Wird er sich selbst die Schuld an allem geben? Wir er das verkraften?
„Habt ihr Aiden dabei unterstützt Nayara zu entführen, um sie zu opfern?“
„Was?“ Leana schnappt nach Luft, ihre Augen sind weit aufgerissen. Schockiert schaut sie mich an. „Aber...wieso?“, stottert sie.
„Was redest du da für einen Müll?“, wirft Dante ein, seine Gesichtszüge wirken nun noch ernster als zuvor. „Wieso sollte mein Bruder das tun?“
„Das frage ich euch!“, feuert Talib zurück und will erneut auf ihn losgehen, doch ich halte ihn zurück. „Es bringt doch nichts, wenn wir uns die ganze Zeit nur anschreien.“
Er nickt nur, scheint meine Worte aber nicht wirklich zu beherzigen.
Ich wende mich an die anderen und atme tief durch. „Gestern Abend war ich mit Faye unterwegs als wir von einem Bären angegriffen wurden. Ich kann mich nicht erinnern was danach passierte, aber als ich aufwachte, war ich in einer Zelle mit einem Soldaten, der sich der schwarzen Magie bemächtigt.“
Ich muss eine kurze Pause machen, um das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. Talib legt seinen Arm um meine Schulter, sieht mich aufmunternd an.
„Wer ist Faye?“, wirft Tarun ein, schaut mich fragend an. Eine Flutwelle an Emotionen scheint mich zu überrollen, als Fayes Gesicht vor meinem inneren Auge erscheint. „Er ist...war... mein bester Freund“, erkläre ich leise. Zwinge mich dazu stark zu bleiben. „Das ist jetzt auch nicht so wichtig“, mischt sich Talib ein, versucht mich zu unterstützen.
„Dieser Soldat ist der Ansicht, dass ich mit dem Schicksalswolf in Verbindung stehe, er hat mich... gefoltert, damit ich ihm erzähle, wer es ist.“
Leana schlägt die Hand vor den Mund. „Oh Gott, geht es dir gut?“
Ich nicke schwach, gehe nicht weiter darauf ein. „Ich glaube, dass Faye der Schicksalswolf war.“
„War?“, fragt Tarun stirnrunzelnd.
„Und was hat das mit meinem Bruder zu tun?“, wirft Dante ein, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hat, doch ich ignoriere seine Frage.
„Faye ist tot. Er ist gestorben als er versucht hat, mich zu beschützen.“ Ich unterdrücke den Schmerz in meiner Brust, die aufkeimenden Tränen. Einfach alles.
„Als ich ihm nicht sagen wollte, wer es ist, hat er mich weiter gequält. So lange, bis ich bewusstlos wurde. Doch als ich wieder aufwachte war da Talib, sie haben ihn ebenfalls gefangen genommen und gefoltert.“ Nun treten die Tränen doch aus meinen Augen, ich kann sie nicht länger zurückhalten. Talib drückt mich an sich, reibt beruhigend über meine Oberarme. Ich schluchze, fühle mich nicht in der Lage, weiterzusprechen.
„Aiden ist aufgetaucht und hat gesagt, er will sich an den Menschen rächen, an all denen, die uns Wölfe unterdrückt haben. Er hält mich für einen Verräter, mich und...Tarun. Er hat mir erklärt, dass er mich die ganze Zeit über bereits loswerden wollte, aber nun, da ich seine Pläne durchkreuze, ist der Zeitpunkt wohl gekommen.“ Talibs Stimme ist eiskalt, düster.
Hinter mit Tränen verschwommener Sicht beobachte ich die anderen. Aus Leanas Gesicht ist jegliche Farbe gewichen, Tarun sieht ebenso geschockt aus. „Weil ich in einer menschlichen Form geboren wurde?“
Niemand traut sich ihm zu antworten, dass müssen wir auch nicht. Tarun versteht unsere Blicke nur allzu gut.
„Tarun, wir beide wissen, dass das Unsinn ist!“ Talib hat sich aus seiner Starre gelöst und drückt ihm sanft die Schulter.
Leana und ich pflichten ihm bei. „Du hast nichts schlimmes getan“, sage ich und lege all meinen Zuspruch in meinen Blick. „Du bist einer von uns“, bekräftigt die rothaarige Frau mit einem ehrlichen Lächeln.
Allein Dante blickt zu Boden, beißt fest die Kiefer zusammen. „Aiden...mein Bruder soll was getan haben?!“
„Er will ein dunkles Ritual durchführen, um unsterblich zu werden. Er hat sich mit ein paar Soldaten, sowie mit Felan und Candra verbündet, um die Welt neu zu gestalten. Frei von Schwächlingen.“ Talib schnaubt spöttisch. „Dafür wollte er das Herz des Schicksalswolfes nutzen, da er aber nicht an ihn rankommt, hat er sich an Nayara gehalten. Er sagte, als dessen Schützling, würde ihr Herz auch ausreichen.“
Sein Griff um mich wird fester, er drückt mich beschützend an sich und ich schmiege mich an ihn. Sein vertrauter Duft hüllt mich ein. Beruhigt mich.
„Du lügst!“ Dante stürmt auf ihn zu, packt Talib am Kragen und reißt ihn von mir. „Aiden würde uns niemals hintergehen! Niemals!“
Ich will gerade dazwischengehen, doch noch im selben Augenblick lässt Dante von ihm ab, sackt wimmernd zu Boden. „Das kann nicht sein! Bitte, sag mir, dass das ein Scherz war. Ein wirklich, wirklich schlechter Scherz.“
Leana eilt sofort an seine Seite, kniet sich neben ihn und drückt seinen Kopf an ihre Brust, fährt ihm beruhigend durchs Haar.
„Ist das wahr?“ In Taruns Augen tritt ein trauriger und zugleich ungläubiger Glanz.
Wären sie wirklich böse, wären sie jetzt nicht so geschockt! Diese Gefühle können unmöglich gespielt sein.
Ich wische mir die Tränen aus den Augen, gehe auf ihn zu. „Es...tut mir so leid.“
„Und wo ist er jetzt? Wo ist Candra... und Felan? Ihr habt doch von seinem Handy aus angerufen, also muss er irgendwo hier sein oder nicht?“
„Er wollte uns etwas Zeit verschaffen und Aiden ablenken, damit wir fliehen können. Aber er ist nicht wie vereinbart hier aufgetaucht, also glauben wir, dass...“, erkläre ich vorsichtig.
Tarun, der uns immer noch nicht so recht zu glauben scheint, lacht freudlos auf. „Okay, haha, sehr witzig. Felan, du beschissener Idiot, kommt raus!“
Talib tritt an seinen kleinen Bruder heran, sieht ihm tief in die Augen. „Er ist nicht hier. Tarun, hör zu, das ist kein Witz. Ich wünschte es wäre so, okay? Aber es ist alles wahr, ob du es nun glauben magst oder nicht!“
„Was habt ihr mit ihm gemacht?“, brüllt Tarun ihn an. Er wirkt so hilflos und verletzt. „Wo zum Teufel ist er?“
„Wir wissen es nicht!“, brüllt Talib jetzt. „Deshalb brauchen wir eure Hilfe.“
***
Nachdem wir ihnen wieder und wieder erzählt haben, was vorgefallen ist, hat sich ihr Entsetzen in Bewusstsein umgewandelt. Dante, der zwar immer noch bestürzt ist, scheint den ersten Schock, dank Leanas Mithilfe, überwunden zu haben. „Ich habe es irgendwie gespürt“, murmelt er leise vor sich hin. „Er wurde so verbittert und voller Hass, als er in einen Menschen verwandelt wurde. Ich habe versucht ihm zu helfen, habe ihm immer wieder klar gemacht, dass das hier nur ein Teil unserer Reise ist. Dass wir nicht für immer so bleiben müssen. Und ich dachte wirklich, sein Hass hätte sich mittlerweile gelegt.“
Leana umschlingt von hinten seine Taille, schmiegt sich an seinen Rücken. „Das dachte ich doch auch“, wispert sie, doch Dante verzieht nur unglückselig sein Gesicht. Ich hätte es früher bemerken und ihn aufhalten müssen.“
Talib, der noch immer unter der ganzen Situation zu leiden scheint, wirft ihm einen mitfühlenden Blick zu. „Es ist nicht deine Schuld. Du konntest nicht wissen, dass seine Abscheu so weitreichend ist.“
Leana stimmt mit ein. „Keiner von uns hätte gedacht, dass er zu so etwas fähig ist.“
Dante kaut nachdenklich auf der Unterlippe, ist für einen Moment einfach nur still. Dann schaut er zuerst Talib an, danach mich - und sein Blick verweilt auf mir. „Es tut mir ehrlich leid, was mein Bruder euch angetan hat.“
Diese Gefühle sind definitiv echt. Sie sind keine Verräter. Dante, Leana und Tarun sind unsere Verbündeten. Unsere Freunde.
„Du bist nicht derjenige, der sich entschuldigen sollte“, erwidert Talib eine Spur zu hart. Ich lehne mich an ihn, stelle mich auf Zehenspitzen, um ihm etwas zuflüstern zu können. „Ich vertraue ihnen, dieser Ausdruck in ihren Augen kann unmöglich gespielt sein.“
Talib sieht mich an, nickt schwach. „Ich hoffe es wirklich...“ Gequält zieht er die Mundwinkel nach unten. Ich will ihn in den Arm nehmen, doch Leana unterbricht mich.
„Nayara, ich würde mir wirklich gerne deine Verletzungen ansehen und sie verpflegen. Deine auch, Talib.“
Richtig, sie ist Krankenschwester. Vielleicht ist das keine schlechte Idee.
„Gut“, antworte ich nur knapp, lasse mich von ihr zu einer Sitzbank in der Ecke des Raumes führen. Das Polster ist dunkelrot, wirkt allerdings genauso ausgebleicht wie die ebenfalls rote Tischdecke, über die sich tausend winzige Staubkörner gelegt haben. Ich setze mich auf die Kante der Bank, fahre nachdenklich mit der Hand über den Tisch, auf dem noch immer Wachstropfen von der orangenen Kerze kleben, ich hinterlasse eine Spur meiner Handfläche darauf.
Leana bleibt direkt vor mir stehen und reißt mich aus meine Gedanken. „Könntest du den Mantel und das Hemd ausziehen?“
Unsicher schaue ich zu den Männern. Leana räuspert sich. „Wie wäre es mit etwas Privatsphäre?“
Dante und Tarun wenden sich augenblicklich ab, allein Talibs Blick haftet weiterhin auf mir.
„Talib?“, versucht sie es erneut, doch er verzieht keine Miene. „Ich lasse sie keine Sekunde aus den Augen.“
Tarun schnaubt spöttisch, auch Leana funkelt ihn angriffslustig an. Aber sie wirkt allem voran verletzt, über sei Misstrauen.
„Ist schon okay“, beeile ich mich zu sagen und schlüpfe aus Felans großer Winterjacke. Als ich Talibs intensiven Blick auf mir spüre, wird mir meine nackte Haut und der viel zu knappe BH überdeutlich bewusst. Eine Hitzewelle jagt durch meinen Körper, schnell richte ich meine Aufmerksamkeit auf die Frau vor mir.
Leanas Augen weiten sich. „Was hat dieses Monster dir nur angetan?“
Noch immer zieren dunkelblaue Flecken meine Rippenbögen, an manchen Stellen ist die Haut aufgeplatzt und getrocknetes Blut und Schorf kleben daran.
„Warte ab, bis du den Rest siehst“, versuche ich mich an einem Scherz, während ich auch aus der Hose steige, doch niemand lacht. Als ich Leanas ehrlich besorgte Miene entdecke, wird mir ganz flau im Magen.
Wie konnte ich nur jemals an ihr zweifeln?
Bittere Schuldgefühle überkommen mich und ich schäme mich maßlos dafür.
Leana beugt sich über mich, reibt hochkonzentriert die Hände aneinander, schließt dann für einen kurzen Moment die Augen, ehe sie eine Hand flach auf meine Stirn legt, die andere wandert direkt auf meinen unteren Bauch. Ihre Finger sind ungewöhnlich heiß, hinterlassen ein elektrisches Kribbeln auf meiner Haut. Ein Stromschlag durchzuckt meinen Körper, überrascht und unter dem stechenden Schmerz schnappe ich nach Luft.
„Was machst du da?“, dringt es gleichzeitig aus Talibs und meiner Kehle. Aufgebracht kommt er auf uns zu, doch ich hebe schnell die Hand, damit er stehen bleibt.
„Ich nutze meine besondere Fähigkeit um deine Wunden zu versorgen“, erklärt Leana wie selbstverständlich, scheint Talib gar nicht richtig zu bemerken. Dieser zieht nur nachdenklich die Augenbrauen zusammen.
Besondere Fähigkeit?
Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Leana. „Deine was?“
Sie mustert mich eindringlich. „Ich kann heilen, leider nur kleinere bis mittelschwere Verletzungen. Deshalb arbeite ich auch als Krankenschwester in der Menschenwelt.“
Was soll heißen, sie kann heilen?
„Aha.“ Ich tue so als wüsste ich genau, wovon sie spricht. „Es hat sich angefühlt als würde ein Blitz durch mich hindurch jagen.“
Leana beißt sich entschuldigend auf die Unterlippe, streicht sich eine rote Locke hinters Ohr. „Das ist meine Energie, die durch dich fährt, um dich von innen heraus zu versorgen.“
Ihre Energie? Was genau soll das bedeuten?
Ich schaue irritiert in die Runde, doch die anderen scheinen ihren Gedanken nachzuhängen, selbst Talib.
„Es tut nur für einen kurzen Moment weh, danach ist es schon wieder vorbei“, verspricht Leana, macht wieder auf sich aufmerksam.
Tatsächlich fühle ich mich schon viel besser. Obwohl meine Wunden zum größten Teil bereits verheilt sind, kann ich immer noch Narben an der Oberfläche spüren. Selbst das unangenehme Stechen in meinem Inneren, das sie hinterlassen, ist nun verschwunden.
„Aber unser Körper heilt doch automatisch“, werfe ich ein. Leana ist von meinen Worten offensichtlich gekränkt. Sie schnaubt verächtlich. „Ja, aber wenn du mich fragst, viel zu langsam. Ich kann den Heilungsprozess beschleunigen und bei ernsteren Verletzungen die Erst-Versorgung vornehmen.“ Ich reiße die Augen erstaunt auf. Sie lächelt als sie meinen anerkennenden Gesichtsausdruck bemerkt.
Unglaublich.
„Wie lange kannst du das denn schon?“
Nun winkt Leana bescheiden ab, ein rosiger Hauch hat sich über ihre Wangen gelegt. „Na, seit ich geboren wurde.“ Sie sieht etwas verwirrt drein. „Welche Fähigkeit wurde dir denn geschenkt?“
Eine Fähigkeit geschenkt bekommen? Ich?
„Wie meinst du das?“
Taruns Kichern dringt aus dem Hintergrund an mein Ohr. Er dreht sich zu mir um, sofort bedecke ich mit dem Mantel meinen Körper. „Du brauchst dich nicht schämen, falls es nichts besonderes ist. Ich für meinen Teil kann Schutzbarrikaden errichten und ziemlich simple Fallen legen.“
Mir bleibt die Luft weg. Das ist wirklich mehr als erstaunlich.
Als er meinen Blick bemerkt, schenkt er mir sein breitestes Angeber-Lächeln.
Nun schwillt auch Dantes Brust voller Stolz an. „Ich kann Flüche aufheben oder sie umformulieren.“ Er lächelt verlegen und wuselt durch seine dichten Locken. „Auch wenn sie sich nur auf sehr schwache Zauber auswirken.“
Tarun lacht laut auf. „Siehst du, schlimmer als Dante kann es dich nicht erwischt haben.“
Dieser schnappt empört nach Luft. „Hey Kleiner, pass bloß auf. Eines Tages wirst du mich anflehen, dass ich meine Fähigkeiten für dich nutze.“
Soll das bedeuten, jeder von ihnen hat eine besondere Fähigkeit? Was ist mit Talib? Ich wüsste nur zu gerne, was er kann.
„Also?“ Leana mustert mich neugierig, schenkt mir ein zuversichtliches Lächeln. „Was kannst du?“
„Gar nichts“, gestehe ich, fühle mich nutzlos und schwach. Noch mehr als ich es sowieso bereits tue.
Nun starren mich alle an als wäre ich ein Regenbogenwolf mit Glitzerschweif, der im Zirkus auf einem übergroßen Ball Kunststücke darbietet. Nur Talib verzieht keine Miene. Er ist schon die ganze Zeit seltsam ruhig.
„Was soll das heißen? Gar nichts? Jeder Wolf bekommt doch nach seiner Geburt eine Magie zugeteilt.“ Dantes Kinnlade steht offen, Neugierde blitzt in seinen blauen Augen auf.
„Ich wusste nicht, dass jeder so etwas bekommt. Mir ist zuvor nie aufgefallen, dass ich so eine Fähigkeit besitze.“
„Aber es ist das erste, was wir erlernen. Noch bevor wir laufen können. Hast du das denn nicht gespürt?“ Leana sieht mich ungläubig an. Ich schüttele den Kopf, beiße mir auf die Unterlippe. Sie legt ihre Hand auf meine Schulter, drückt sie tröstlich. Sie setzt gerade zu einer Antwort an, als Talib sich einmischt.
„Jetzt lasst sie doch mal in Ruhe, ich höre auch zum ersten Mal davon. Ich besitze auch keine dämliche Kraft, brauche ich auch gar nicht.“
Was soll das bedeuten? Er hat auch keine?
Ungläubig schaue ich ihn an, er muss all die Fragen in meinem Blick sehen können, denn er schenkt mir ein schiefes Grinsen.
„Was heißt du hörst zum ersten mal davon?“ Dante sieht mehr als nur erstaunt aus. „Du hast Tarun doch immer beigestanden, als er vom Rudel angegriffen wurde. Hast du es da nie bemerkt? Ich meine, selbst ich wusste, dass er Schutzbarrikaden errichten kann und seine Fallen haben ihn schon mehrmals den Hintern gerettet.“
Talib sieht seinen jüngeren Bruder stumm an. In seinem Blick lodert gleichzeitig tiefer Zorn, aber auch unendlicher Schmerz. Derselbe Glanz liegt auch in Taruns grauen Augen gefangen.
„Wieso hast du mir nie etwas gesagt?“ Talibs Stimme ist ruhig. Zu ruhig.
Tarun sieht schuldbewusst zu Boden. „Ich hatte Angst.“
„Wovor?“
„Davor, dass auch du mich verstoßen würdest, wenn du siehst, wie ich meine Fähigkeiten gegen unsere eigene Familie anwende. Ich hatte Angst, dass du mich dann ebenfalls für ein Monster halten würdest.“
Talib geht auf ihn zu, packt ihn an den Oberarmen und rüttelt ihn heftig. „Du Idiot! Du bist kein Monster, aber sie sind es. Sie sind die Ungeheuer!“
Tarun schluckt, nickt dann, sagt aber keinen Ton.
„Und wieso habt ihr nie vorher etwas von euren Fähigkeiten erwähnt?“, frage ich mich an Leana und Dante gewandt, um für etwas Ablenkung zu Sorgen.
„Wir dachten du wüsstest es, immerhin ist es eigentlich ziemlich normal für uns Wölfe“, sagt Dante Achselzuckend. „Außerdem prahlt niemand gerne damit. Die meisten halten es sogar geheim, um spätere Feinde mit ihren Kräften überraschen zu können.“
Leana nickt zustimmen. „Es ist ja nicht so als würde ich es vor euch absichtlich verbergen, aber ich habe dem Ganzen nie viel Bedeutung beigemessen, deshalb kam es mir bisher auch nie in den Sinn darüber zu reden.“
„Aber wieso hast du deine Fähigkeiten nicht schon früher benutzt?“ Ich schaue Leana direkt in die Augen. „Als Talib und Tarun nach ihrer Prügelei so schwer verletzt waren zum Beispiel.“
Sie knetet nervös ihre Finger. „Weißt du, es kostet mich unheimlich viel Energie meine magischen Kräfte anzuwenden, ich tue das nur in äußersten Notfällen. Und die Jungs waren damals nicht in Lebensgefahr.“
Aber meine oberflächlichen Wunden waren so schlimm, dass sie sie direkt geheilt hat?
„Warum hast du deine Fähigkeiten dann an mir angewandt? Es waren nur ein paar Kratzer, nichts bedrohliches.“
Leana schüttelt den Kopf, ihre langen Locken wirbeln dabei um ihren Kopf. „Weißt du, ich heile nicht nur körperliche Wunden.“ Sie sieht mich voller Mitleid an. „Manchmal kann ich Auren erkennen, aber nur wenn sie so hell und stark leuchten, wie bei einem Heiligen zum Beispiel. Oder wie in deinem Fall, wenn sie Schwarz ist.“
Meine Aura ist schwarz?
„Was soll das bedeuten?“
Leana winkt ab. „Keine Angst, jetzt kann ich sie nicht mehr wahrnehmen, das heißt sie ist wieder normal.“
Ich verstehe nicht ganz.
Als Leana meinen verwirrten Blick bemerkt, erklärt sie sich rasch. „Irgendjemand ist in deinen Verstand vorgedrungen und hat ihn gebrochen, oder?“
Ich zucke zusammen, spüre die Blicke aller Anwesender auf mir haften. Ich erinnere mich nur schemenhaft an die schwarzen Schatten, die um mich herum aufgestiegen sind und mich verschlungen haben. Die schwarzen Schatten, die...
Ich presse die Augen zusammen, versuche die Erinnerungen aus meinem Kopf zu verbannen.
Sofort ist Talib an meiner Seite, er kniet sich vor mich und zieht mich in seine Arme. Tröstend streicht er mir durchs Haar und über den Rücken. „Es ist vorbei. Ich lasse nie wieder zu, das er oder sonst jemand dich anfasst!“
Ich schmiege mich an ihn, sauge seinen Duft und seine Wärme in mich auf. „Ich weiß“, flüstere ich. Mein Puls rast, doch durch Talibs sanfte Berührungen wird er langsam wieder ruhiger.
„Tut mir leid, das wollte ich wirklich nicht.“ Leanas Worte klingen ehrlich, auch ihre Miene verrät mir, dass sie besorgt um mich ist.
„Ist schon gut.“
Talib löst sich aus der Umarmung. „Du bist eiskalt, du solltest dich wieder anziehen.“
Ach du Schreck, ich habe ganz vergessen, dass ich immer noch nur noch Unterwäsche trage.
Leana geht schnurstracks auf eine Tasche zu, die neben der Tür auf dem Boden steht und mir zuvor gar nicht aufgefallen ist. „Ich habe Ersatzkleidung mitgebracht, die kannst du dir gerne ausleihen. “
Ich lächle sie dankbar an. „Das ist nett.“
Sie drückt mir die Tasche in die Hand und ich gehe damit in die Küche. Eine dunkelgraue Jeans, ein paar Wollsocken, sowie ein schwarzes Top und ein ebenso schwarzer Pullover.
Glücklicherweise hat Leana einen ähnlichen Körperbau, auch wenn ich etwas kurviger bin und so die Sachen an manchen Stellen etwas spannen. Und ihr schlichter Stil gefällt mir auch um einiges besser, als der Fummel von Priscilla.
Schnell steige ich in die Klamotten, während ich aus dem Nebenzimmer die gedämpften Stimmen der anderen höre. „Du besitzt also wirklich keine Fähigkeiten?“
„Nein.“
„Aber...“
Frisch angezogen trete ich zurück in den Speisesaal. Talib sieht genervt aus, während sich Leana und Dante nur wissend angrinsen.
„Habe ich etwas verpasst?“
Alle versammelten sehen mich an, doch niemand sagt etwas. Komisch.
„Was ist mit dir?“ Leana richtet sich plötzlich an Talib, ohne mich weiter zu beachten.
„Was soll mit mir sein?“
„Soll ich deine Wunde nicht versorgen? Sie sieht tief aus.“
Talib zuckt mit den Schultern. „Sie ist schon fast komplett verheilt.“
„Aber eben nur fast.“ Leana grinst und deutet auf die Bank, auf der ich zuvor gesessen hatte.
„Ich dachte, du nutzt deine Kräfte nur, wenn es ein Notfall ist“, meckert Talib, folgt Leana aber zur Sitzgelegenheit. Als Talib sich niederlässt, reibt sie sich die Hände, so wie sie es vorher bei mir getan hat.
„Wenn du Felan wirklich retten willst, dann solltest du auch komplett Einsatzfähig sein.“
„Du hast recht. Aber anstatt unsere Zeit hier so zu vertrödeln, sollten wir uns lieber einen Schlachtplan ausdenken.“
„Shhht“, macht Leana und legt ihre Finger auf Talibs Stirn und Bauch. Sofort verstummt er.
Und obwohl ich weiß, dass sie ihn nur heilt, überkommt mich sofort ein Eifersuchtsgefühl.
Das ist doch schwachsinnig, sie tun ja nichts schlimmes.
Doch ich kann es einfach nicht unterdrücken. Es ist ein wenig beruhigend, dass in Dantes Augen ähnliche Gefühle abzulesen sind.
Am liebsten würde ich auf die beiden zu gehen und Leana von ihm stoßen, nur um Talib dann vor der versammelten Mannschaft zu küssen und ihn als mein Eigen zu beanspruchen.
Ich hätte niemals gedacht, dass ausgerechnet ich so eifersüchtig bin.
Ausgerechnet jetzt sieht Talib mich an, in seinen blauen Augen flackert Genugtuung auf. So als könnte er meine Gedanken lesen. Ich beiße mir auf die Zunge und wende den Blick ab.
Blödmann.