Nayara
Das Tal wird von einer weißen, glitzernden Decke aus Eis und Schnee bedeckt. Der herannahende Sturm lässt die Kronen der hohen Tannen wild hin und her schwingen, sodass es aussieht als würden sie nach einander schlagen.
Angestrengt kämpfe ich um jeden Meter vorwärts, setze einen Schritt nach dem anderen, versinke fast bis zu den Kniekehlen in den hohen Schneemassen. Ich messe mich mit dem tobenden Wind, der mich spielerisch zurück zu drängen versucht. Ohne mein dichtes Fell fühle ich mich wehrlos, als würde meine schillernde Rüstung fehlen. Ich bin so schrecklich angreifbar, verletzlich. Die eisige Kälte erfasst mich, kriecht bis hinein in meine Knochen und zerfrisst mich von innen. Der jämmerliche Versuch etwas Wärme zu erzeugen, indem ich meine dünnen Arme um meinen nackten Körper schlinge und im selben Takt meiner klappernden Zähne die Schultern auf- und abreibe, bleibt nutzlos.
Meine langen Haare sind mittlerweile vom Eis überzogen, schlagen mir wie Peitschenhiebe ins Gesicht, selbst meine Wimpern sind von winzigen Schneeflocken benetzt worden, rauben mir fast vollkommen die Sicht. Doch ich zwinge mich weiterzugehen, ich weiß, dass sie auf mich warten.
Dass sie mich vermissen.
Das Kribbeln verschwindet aus meinen Beinen, aus meinen Füßen, weicht einer unheimlichen Leere. Ich spüre nichts mehr in meinen Gliedmaßen, merke nur noch, wie ich zusammensacke und in das eisige Pulver eintauche. Begraben von einer glitzernden Schneedecke, mit dem eisernen Willen weiter zu gehen, um wieder zurück zu finden. Zurück, zu meiner Familie.
Ich bin so nah und doch so fern.
In meinem Herzen zieht ein weiterer Schneesturm auf. Tosender und eisiger als der, der meinen Körper umgibt.
Wie ferngesteuert rapple ich mich auf, ignoriere meine Arme, die unter der Last meines Körpers zittern.
Alles an mir schmerzt und fühlt sich gleichzeitig doch sonderbar fremd an. Beinahe so, als gehöre es nicht zu mir. Als seien es nicht meine Leiden, nicht meine Qualen. Vielmehr ist es die des Menschen, dessen Hülle ich geraubt habe. Unfreiwillig.
Eingesperrt in diese schwache, unnütze Schale, die des Lebens nicht wirklich fähig ist.
Mein Wille jedoch ist so stark, dass er den schwachen Körper zähmt. Es ist mein Wille, der ewig weiterwächst, um diesem schrecklichen Schicksal zu entkommen. Aber eines Tages wird er diese Hülle in Stücke zerreißen.
Doch was wird dann mit mir geschehen?
***
„Wach auf!“ Mein Körper bebt, wird unsanft hin und her geschleudert.
Diese Stimme, sie gehört nicht hierher. Weder an diesen Platz noch in diese Zeit.
Das unwohle Gefühl der Leere in meinen Gliedern weicht einem unangenehmen Prickeln. Es zieht sich durch meinen gesamten Körper, verschlägt mir für einen Augenblick den Atem. Verwirrt schlage ich die schweren Augenlider auf, das gleißend helle Licht raubt mir für einen Moment die Sicht, nimmt dann wieder die gewohnten Formen an. Trotzdem wirkt alles um mich herum fremd und beängstigend.
Bis auf dieses Gesicht.
Talib kniet besorgt über mir, ich spüre seine Hand auf meiner Stirn, dann auf meiner Wange. Er klopft sachte darauf. „Wach endlich auf!“, ertönt seine tiefe, dröhnende Stimme.
Noch leicht benommen blinzle ich durch die dichten Wimpern, reibe mir mit den Händen über das schweißgebadete Gesicht.
„Was soll das?“ Meine Stimme klingt ungewohnt zittrig, bricht in ein Krächzen aus. Ich räuspere mich, verfluche diese menschliche, weiche Stimme. Verfluche mich selbst für all das hier. Für die ausweglose Situation, in die ich mich selbst gebracht habe.
„Es scheint als hättest du einen Albtraum gehabt.“ Talibs Augen schauen mich sorgenvoll an. „Alles in Ordnung?“ Er mustert mich skeptisch, hebt die Hand, um nach mir zu greifen. Ich schlage sie reflexartig weg.
Was glaubt dieser Kerl eigentlich, was er da schon wieder tut?
„Es war nur ein Traum“, erwidere ich knapp. Er steigt vom Bett, gibt mir den Freiraum, den ich mir wünsche. Den ich brauche.
Es war nur ein Traum!, rede ich mir selbst gut zu.
„Verstehe“, erwidert er, nickt schwach. „Dann ist ja gut.“
Irgendwie scheint er mir nicht glauben zu wollen, doch er widerspricht mir glücklicherweise auch nicht.
„Talib?“ Ich ziehe die Beine an, schlinge meine Arme darum und stütze den Kopf darauf.
Mein Gegenüber sieht mich verwundert an, hebt die Augenbrauen. „Was gibt es denn?“
„Du hast gesagt, du würdest mir ein paar Fragen beantworten, sobald ich mich besser fühle.“ Ich presse die Lippen aufeinander.
Wieso bin ich nur auf ihn angewiesen?
Ein erneutes Nicken seinerseits. „Geht es dir denn schon besser?“
Dieses Mal bin ich diejenige, die ihren Kopf zur Bestätigung bewegt.
„Wirklich? Das war jetzt nicht sonderlich überzeugend“, neckt er mich, zwinkert mir spielerisch zu, doch in seinem Blick bleibt dennoch etwas Besorgtes haften.
„Ja!“, erwidere ich prompt, springe aus dem Bett um es ihm zu beweisen. Dabei löst sich der Knoten der Decke, die ich um meinen Leib geschlungen habe, erneut und ich habe große Mühe sie rechtzeitig festzuhalten, bevor ich wieder vollkommen nackt vor ihm stehe. Allein bei dem Gedanken an den vergangenen Tag schießt mir die Röte ins Gesicht. Es ist schon seltsam, wie nackt ich mich ohne mein Fell fühle und wie stechend sich die Scham in mir ausbreitet, nur weil ich plötzlich im Körper eines Menschen stecke. Nehme ich nun auch die Verhaltensweisen an? Werde ich nun Stück für Stück alles verlieren, was mich als Wolf ausmacht?
Ein Anflug von Panik überkommt mich, doch ich kann ihn noch schnell genug niederringen und verdränge die Gedanken, lenke sie zurück zu dem Mann, der meinem neuen Körper scheinbar weit mehr abgewinnt als ich es derzeit kann.
Sicherheitshalber schlinge ich die Arme schützend um mich und starre ihn missmutig an.
Elender Lauerbock! Dieses Mal lasse ich es sicher nicht wieder so weit kommen.
Auf seine Züge legt sich ein schiefes, belustigtes Grinsen. Bedächtig geht er auf mich zu, sein verschmitztes Lächeln scheint dabei immer tiefer zu werden, als hätte man es in sein Gesicht geschnitzt.
Plötzlich ist er mir so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren kann. Seine Hände bewegen sich langsam, wie in Zeitlupe auf meine Wangen herab, streichen eine lange Haarsträhne hinter mein Ohr, die sich fälschlicher Weise in mein Gesicht verirrt hatte.
Was ist das? Wieso kann ich mich nicht bewegen?
Mein Herz schmerzt seltsam, in meinem Inneren kribbelt es.
Talib lässt seine Hände auf meine Schultern wandern, liebevoll und zärtlich. Sie sind sind so warm.
So unheimlich warm.
Sie gleiten immer tiefer meinen Rücken hinab. Seine Berührung fühlt sich so überwältigend an, dass es mir fast so vorkommt als wäre die Decke nicht mehr zwischen uns. Das Stechen in meinem Herzen wächst, wird intensiver. Ich möchte aufschreien, ihn von mir stoßen. Ich will, dass dieses Gefühl aus meinem Inneren verschwindet. Doch ich stehe einfach nur vor ihm und blicke in seine Augen.
Was hat das nur zu bedeuten?
Sie glänzen, strahlen etwas Sehnsüchtiges aus. Talib zieht mich näher an sich heran, ich spüre seine starken Arme, die er um meinen Oberkörper schlingt. Fühle jeden seiner Muskeln, die sich angespannt unter seinem dunkelgrauen Shirt abzeichnen.
Wie kann sich ein menschlicher Körper nur so gut anfühlen? Wie ist das möglich?
Ich fühle mich wie in einem Bann gefangen, der uns magisch zueinander zieht. Und ich kann mich nicht dagegen wehren.
Das Kribbeln wird so stark, so brennend, dass ich fast den Boden unter meinen Füßen verliere. Hilflos klammere ich mich an ihn, drücke mich so fest gegen seinen Körper, dass ich fast schon in ihm zu versinken drohe.
Dabei will ich ihm doch gar nicht so nahe kommen. Ich muss weg von ihm. Weg, von diesem…Menschen.
Vorsichtig senkt er seinen Kopf, lehnt seine hohe Stirn gegen meine. Unsere Nasenspitzen berühren sich, doch ich zucke nicht zusammen, weiche nicht zurück. Ich fühle mich wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt wurden. Unfähig sich zu bewegen.
Wurde ich verzaubert? Oder wieso verspüre ich so einen starken Drang Talib näher zu kommen?
Es fühlt sich an, als würde ich in Flammen stehen und ich kann nichts dagegen tun. So sehr sich meine Gedanken auch gegen all das sträuben, ich bin eine Gefangene seiner Anziehungskraft.
Reiß dich zusammen!, ermahne ich mich selbst. Doch je mehr ich gegen all das anzukämpfen versuche, desto größer werden die Schmerzen. Mein Herz scheint Stück für Stück auseinanderzubrechen.
Das Lodern unter meiner Haut nimmt mich vollkommen ein und in meinem Kopf pocht es, unter meinen Schläfen hämmert es wie verrückt. Talibs Berührungen schenken mir eine fremde, aber auch wohlige Wärme und zugleich ist es auch seine Zärtlichkeit, die das Brennen in mir etwas erträglicher macht.
Ich verstehe das einfach nicht…
Talibs Hände streichen nun zärtlich über meinen Po, auf dem sich unwillkürlich eine Gänsehaut ausbreitet. Sein Mund senkt sich quälend langsam auf meinen. Sein Atem klebt feucht auf meiner Haut, er keucht schwer und unkontrolliert. Unsere Lippen berühren sich fast und etwas ganz tief in meinem Inneren will selbst den letzten Zentimeter zwischen uns überwinden.
***
Deine nackte, reine Haut schimmert weiß,
heller als der glitzernde, kalte Schnee,
gefangen in einem Wirbel der Gefühle.
Deine grauen Augen funkeln voller Angst,
sie haben mich bereits gesehen,
doch du hast mich nicht erkannt.
Deine scharfen Zähne, gefletscht zum Schutz,
weichen sinnlichen Lippen, einem neuen Mund,
der das Lächeln leider nie erlernte.
Dein silbernes Haar tanzt im Sturm,
durchweht vom eisigen Wind der Vergangenheit,
geleitet in ein neues, aufregendes Leben.
Dein unendlicher Wille zurückzufinden
macht dich blind, stumm und taub,
lässt dich leben - im Schatten der weißen Wölfin.
***
„Was glaubst du eigentlich, was du da tust?“, erklingt eine raue, mir unbekannte Stimme hinter uns.
Erschrocken fahre ich zusammen. Talib lässt sofort von mir ab und dreht sich wütend um.
„Wolf!“, kreische ich hysterisch, schubse vor Überraschung Talib von mir weg und taumle zurück, stolpere über den Bettkasten und lande auf der Matratze.
„Felan! Was soll der Scheiß?“, knurrt mein Gegenüber angespannt.
Was hat das nur zu bedeuten? Und wovor zur Hölle fürchte ich mich so sehr?
Mit fletschenden Zähnen steht der dunkelgraue Wolf an der Kante des Bettes, türmt sich bedrohlich auf. In seinen stechenden, silber-glänzenden Augen funkelt etwas Böses. Mit einem langen Satz landet er auf Talib, stößt ihn um, sodass sie polternd zu Boden fallen.
Ach ja, richtig. Ich bin momentan einfach nur wehrlos…
„Nein!“, schreie ich aufgebracht, versuche jegliche Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. „Geh runter von ihm!“, fauche ich, spüre wie unbändiger Zorn in mir aufsteigt. Wie gerne würde ich mich jetzt mit dem fremden Wolf messen, ihm meine Stärke zeigen und ihn in seine Schranken verweisen, doch ich bin und bleibe ein Mensch. Machtlos.
„Verschwinde!“, versuche ich es erneut, nachdem er meine ersten Ausrufe gekonnt ignoriert hat. Ich nehme eines der Kissen und schlage nach ihm, doch es scheint den Wolf nicht zu stören.
Wie könnte es auch? Was kann ich in dieser Gestalt schon groß ausrichten?
Er drängt den jungen Mann weiter zu Boden, presst eine seiner großen Pfoten auf Talibs Hals. Dieser keucht, japst nach Luft. Die Krallen des dunkelgrauen Wolfes hinterlassen seine Spuren auf Talibs Haut. Ich kann den süßlichen Geruch von Blut riechen, er haftet unangenehm in meiner Nase.
Was soll ich nur tun? Wenn ich weiterhin nur zusehe wird er sterben. Ohne Talib stehen meine Chancen gegen diesen Wolf momentan ziemlich gering, also muss ich ihm helfen, um hier selbst heil wieder raus zu kommen.
Wie wild schlage ich nach dem Ungetüm, brülle und fauche. Verleihe meiner Stimme und meinen Hieben so viel Stärke, wie ich momentan nur aufbringen kann, doch er bleibt unbeeindruckt. Letztendlich ist es Talib, der es schafft, seinen Gegner wegzudrängen.
„Habe ich dir nicht verboten Dummheiten anzustellen?“, raunt die tiefe, bassartige Stimme des Fremden. „Du bist so ein dummer Junge!“
Wovon spricht er da nur? Was will er von Talib? Und wo zum Teufel bin ich hier nur rein geraten?
„Ach ja?“, gibt dieser hustend zurück, saugt den Atem scharf zwischen den Zähnen ein. Ich kann förmlich sehen, wie sich seine Lunge mit Luft füllt. „Ist es dumm seinen Träumen hinterher zu jagen?“, schreit er gereizt, doch seine heisere Stimme verklingt in einem kehligen Laut, ehe er graziös durch die Luft springt und dann in Gestalt eines riesigen, schwarzen Wolfes neben seinem Angreifer landet.
Das kann doch alles nicht wahr sein! Er ist auch ein Wolf? Wie konnte ich das nicht merken?!
Elegant schüttelt er sich, lässt seine Haare zu Berge stehen und bleckt die scharfen Zähne. Seine Augen funkeln zornig auf. Es ist das erste Mal, dass ich dieses Gefühl in ihnen wahrnehme. Aber das ist noch längst nicht alles.
Eines seiner Augen ist stechend grün, das andere eisblau.
Wie ungewöhnlich und dennoch wunderschön. Hatte ich wirklich jemals behauptet er sei hässlich? Als Wolf wäre er in unserem Rudel wohl ein saftiges Steak zwischen all den jämmerlichen Würstchen.
„Wieso funkst du mir dazwischen?“ Die Wut in Talibs Stimme, der Groll in seinem Unterton lassen mich unwillkürlich zusammenzucken. Jeder meiner Gedanken rückt in Vergessenheit. Er wirkt so bedrohlich und angsteinflößend auf mich.
In meinem Herzen sticht es erneut seltsam. Doch dieses Mal ist es anders: Es schmerzt viel mehr. Ich balle die Hände zu Fäusten, versuche all das endlich zu vergessen. Will es hinter mir lassen.
Und endlich Klarheit haben!
„Was geht hier vor sich?“, verlange ich zu wissen, schlage mit der Faust auf das Bett ein. Doch sie schenken mir beide keine Aufmerksamkeit. Sie sind nur aufeinander fixiert. Die ganze Situation ist bis zum Zerreißen angespannt, so wie jeder ihrer Muskeln. Nur eine falsche Bewegung und sie gehen erneut aufeinander los.
Ich muss doch irgendetwas tun können. Verdammt!
Für einen kurzen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken, einfach abzuhauen. Meine Chance zu nutzen, um unbemerkt von hier zu flüchten. Doch die Neugierde in meiner Brust ist mittlerweile so riesig, dass ich ihr erliege.
Ich muss einfach wissen, was das alles auf sich hat.
„Finde dich endlich mit deinem Schicksal ab, anstatt irgendwelchen Märchen nachzujagen“, presst der Unbekannte hervor, in seinem Unterton klingt so viel Spott und Hohn gefangen. Er macht erneut einen Satz in die Luft, reißt Talib zu Boden und knurrt bedrohlich. Ihre Mäuler treffen aufeinander und ihre Blicke beißen sich ineinander fest. Für einen Moment scheint es als würden Blitze daraus schießen.
„Könntest du das so einfach? Sei ehrlich, mein Freund.“ Egal wie sehr er sich auch zu bemühen scheint, Talib schafft es nicht, ihn abzuwimmeln.
Doch plötzlich tritt etwas in die Augen des Dunkelgrauen, etwas Weiches. Er gleitet über in eine menschliche Form, steigt dann von ihm herunter.
Im Vergleich zu mir hat es der Fremde geschafft eine menschliche Gestalt anzunehmen, die nicht völlig enblößt durch die Welt gehen muss.
Nun steht ein hochgewachsener, kräftiger Mann vor mir, der in einem schwarzen Hemd mit dazu passender Jeans steckt. Sein dunkles, langes Haar klebt in seiner Stirn, verdeckt die schwarzen, leeren Augen fast komplett. Seine geschwungenen Lippen werden von einem recht kurzen Bart umrahmt, der ihn ziemlich alt wirken lässt. Jedoch würdigt er mich immer noch keines Blickes, als wäre ich Luft.
„Du bist und bleibst ein Kind“, mahnt er Talib, der noch immer auf dem Boden liegt. Der Fremde streckt seine schmerzenden Glieder, seine Knochen knacken und man sieht ihm an, dass es ihm unheimliche Kraft kostet, sich zu verwandeln. Er scheint tatsächlich schon ein paar Jahre auf seinem Buckel zu haben.
Nun begibt sich auch mein vermeintlicher Entführer zurück in den Körper eines Menschen, mühelos, ohne das Gesicht dabei zu verziehen. Auch er steckt glücklicherweise in den gewohnten Klamotten: Ein graues, leicht verschwitztes Shirt und eine ausgewaschene Jeans.
Oder sollte ich lieber "leider" sagen?
Ich schüttle leicht den Kopf, verwundert über diese neuen Gedanken. Nein. Nein. Nein. Eine menschliche Hülle ist alles andere als begehrenswert. Und schon gar nicht nackt.
Seine wunderschönen Augen nehmen wieder dieselbe, trostlose graublaue Farbe an, doch der angespannte, bedrohlich wirkende Ausdruck bleibt darin bestehen.
„Du wirst alt“, gibt er dann bissig zurück, rappelt sich auf.
„Entschuldige, dass ich euch unterbrochen habe“, räuspert sich der Fremde und schenkt mir die Aufmerksamkeit, die er mir nur kurz zuvor verwehrt hat. Seine kohlrabenschwarzen Augen mustern mich aufmerksam, seine Lippen sind zu einem verschmitzten Grinsen verzogen.
Irgendwie ganz schön unheimlich.
„Mein Name ist Felan“, er verbeugt sich vor mir, wie es nur ein wahrer Gentleman tun würde. „Es freut mich wirklich sehr, deine Bekanntschaft zu machen.“
Wolf. Er muss mächtig sein, wenn sein Name wortwörtlich Wolf bedeutet. Niemand erhält einen bedeutungslosen Namen bei seiner Geburt. Jeder Name, jeder Pfad, den wir einschlagen, wird vom Schicksal vorgeschrieben.
„Das beruht nicht auf Gegenseitigkeit“, erwidere ich mit einem verachtenden Unterton, wende den Blick von ihm ab.
Was will er von Talib? Und von mir?
Felan presst empört die Luft zwischen den Zähnen heraus. „Arrogantes Weib!“, zischt er, kommt mir gefährlich nahe. „Du scheinst zu vergessen, dass du dich nicht in der Lage befindest, dich mit mir zu messen.“ Er wirft mir einen abschätzigen Blick zu.
Mistkerl!
„Du aufgeblasener Wicht!“, kreische ich, stoße ihn von mir weg. „Was glaubst du eigentlich wer du bist?“ In meinem Inneren lodert der Zorn, wartet nur darauf hervorzutreten und diesem Großmaul ein paar Manieren beizubringen.
Wenn ich mich doch nur auch verwandeln könnte…
Felans Lache klingt boshaft, beinahe schon teuflisch. „Wie süß“, verhöhnt er mich, seine Augen sind zu Schlitzen verengt.
„Das reicht!“, mischt sich nun Talib ein, stellt sich schützend vor mich. „Lass sie in Ruhe.“
Warum sollte ich mich von einem wie ihm beschützen lassen?
Ich versetze ihm einen wuchtigen Tritt von hinten, überrascht stolpert er nach vorn, kann gerade noch so das Gleichgewicht halten.
„Ich brauche deine Hilfe nicht!“, zische ich aufgebracht. „Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen!“ Mein Herz rast, es pocht so schnell in meiner Brust als würde es jeden Moment herausspringen. Ein unheimliches Gefühl breitet sich in mir aus, lässt meinen ganzen Körper erzittern.
Lügner. Elender Mistkerl!
„Ach ja?“, faucht er zurück. Aus seinem Gesicht ist jegliche Freundlichkeit gewichen. „Das sah aber ganz anders aus.“
Ich hasse dich.
Betont langsam macht er einen Schritt auf mich zu, greift nach meinen Armen und zieht mich an sich heran. Er zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. Sie sind vollkommen leer, unheimlich.
Noch ehe ich etwas erwidern kann, ertönt eine weitere, mir unbekannte Stimme, lässt sowohl Talib als auch mich erschrocken herumfahren. Talibs Gesicht wird kreidebleich, abrupt lässt er mich los und taumelt ein Stück zurück.
„Was geht hier vor sich?“
Das würde ich auch nur zu gerne erfahren.
Das Haus füllt sich ungewollt mit immer mehr Eindringlingen, die in diese verwirrende Geschichte zu gehören scheinen.
Aber was hat all das mit mir zu tun?
Die beiden neu angekommen Männer werfen mir nur einen flüchtigen Blick zu, stellen sich als Dante und Aiden vor.
Dante, der Ausdauernde. Aiden, das Feuer.
Dantes schwarzes Haar steht in wilden Locken von seinem Kopf ab, sein markantes Kinn wird ebenfalls von einem Bart gesäumt, doch er scheint nicht einmal halb so alt zu sein wie Felan, der sich nun ehrerbietig im Hintergrund hält. Allein Dantes stechende, hellblaue Augen wirken erhaben auf mich. Mächtig und weise. Der andere strahlt nicht weniger Stolz und Ehrwürdigkeit aus.
Aidens Gestalt wirkt ein wenig gedrungener auf mich, aber keinesfalls schwächer. Sein feuerrotes Haar hängt tief in seiner Stirn, verdeckt das rechte Auge komplett. Die andere Hälfte des Haares hat er abrasiert, sodass lediglich ein paar Stoppeln übrig geblieben sind, die in der Abendsonne, welche durch das Fenster im Hintergrund fällt, wie orangene Funken aufzuglühen scheinen.
Er wirkt zu gleichen Teilen rebellisch als auch majestätisch auf mich.
Felan und Talib verneigen sich knapp vor den beiden, in ihren Zügen liegt ein Hauch von Demut gefangen.
Kann es sein, dass… Nein, das ist nicht möglich! Oder?
Aiden macht einen Schritt auf mich zu, steht nun direkt vor mir. Seine tiefbraunen Augen strahlen etwas Freundliches aus, dennoch traue ich ihm nicht. „Du musst keine Angst haben“, meint er lächelnd und reicht mir die Hand.
„Wie kommst du darauf, dass ich Angst vor euch hätte?“, fahre ich ihn mit fester Stimme an.
Bloß keine Schwäche zeigen.
Das Lächeln in seinem Gesicht festigt sich. „Wie erwartet von einer starken Wolfsdame“, gibt er augenzwinkernd zurück und bringt etwas Abstand zwischen uns.
Was? Das kann doch nicht sein! Woher weiß er das? Alle scheinen es zu wissen.
Es ist mir vorher durch meinen Zorn glatt entgangen, aber auch Felan hat angedeutet, mein Geheimnis zu kennen.
„Wovon sprichst du?“ Ich versuche kühl zu klingen, desinteressiert, doch der Klang meiner Stimme wirkt zittrig, aufgeregt.
„Als würdest du das nicht selbst wissen.“ Seine Stimme dringt wahrhaftig kalt und emotionslos hervor. Dann wendet er sich an Talib und in seinem Unterton klingt etwas Tadelndes heraus: „Kein Wunder, dass du sie nicht mit uns teilen wolltest. Sie ist äußerst interessant.“
Was will er nur von mir? Sie alle!
Talibs Hände verkrampfen sich, ballen sich zu Fäusten. „Was wollt ihr?“
Dieses Mal mischt sich Dante wieder ein, seine Stimme ist höher als die der anderen, doch zu gleichen Teilen kraftvoll und streng. „Ist das die Art, wie man mit seinen Leitwölfen spricht?“
Also doch…
Talib beißt sich unsicher auf die Lippen, kaut darauf herum. „Tut mir leid“, presst er unwirsch hervor, „aber ich dachte, ihr seid meine Freunde und würdet auf meiner Seite stehen.“
Wie aus dem Nichts taucht eine junge Frau neben Talib auf, ihre goldenen Augen funkeln zornig auf. Verwundert reibe ich mir über die schweren Lider.
Wo kommt sie so plötzlich her? Wieso habe ich sie nicht eher kommen sehen...oder hören?
Ihre Hand erhebt sich rasend schnell, verpasst ihm eine schallende Ohrfeige. Talib hält sich ungläubig die gerötete Wange.
„Candra!“, mahnt Dante die Fremde.
Mondgöttin.
Nun verneigt auch sie sich vor den beiden, dabei fällt ihr langes, schwarzes Haar in ihr schmales Gesicht. „Bitte verzeiht, aber ich konnte ihm nicht durchgehen lassen, so über unsere Anführer zu reden.“
„Schon gut“, gibt Aiden schulterzuckend zurück, „er wird schon seine Gründe dafür haben.“
Jeder in der Runde schaut ungläubig und gleichzeitig auch interessiert zu dem Mann mit dem feuerroten Haar. Er geht zu Talib und legt seine Hand auf dessen Schulter, drückt sie brüderlich. „Wir sind keine Freunde, wir sind eine Familie.“
Talib wendet den Blick ab. Ich kann seine Gefühlsregung nicht erkennen, weiß nicht, was er denkt.
„Hab ich da etwas von Familie gehört?“ Ein erneuter Besucher, ebenfalls aus dem Nichts gekommen.
Erschrocken fahre ich zusammen.
Wie viele wollen denn noch von denen auftauchen?
Er steht direkt neben mir, lässt sich unbekümmert auf das Bett fallen. Seine grauen Augen strahlen mich neugierig an. „Du hast also meinem Bruder den Kopf verdreht?“
Was? Sicher nicht!
„Was redest du da für einen Schwachsinn?“, zischt Talib, zerrt ihn vom Bett herunter.
Erneut durchzuckt mich ein unwirklicher Schmerz in der Brust. Ich beiße mir auf die Unterlippe, wünsche mir, dass das alles nur ein Traum ist und ich jeden Moment zwischen meinem vertrauten Rudel aufwache.
Doch die Stimme des Fremden lässt mich unsanft verstehen, dass ich bereits wach bin. Wach und gefangen.
„Darf man hier nicht einmal mehr scherzen?“, erwidert der Neuankömmling kichernd, fährt sich mit der Hand durch das etwas längere, hellbraune Haar.
Er schlägt Talibs Hand weg, die ihn festhält und wendet sich mir wieder zu. „Ich bin Tarun und du bist?“
Tarun, der Jüngling.
„Nicht interessiert!“, presse ich scharf hervor, werfe ihm einen bösen Blick zu. Mein Herz hämmert wie wild gegen meinen Brustkorb, das Blut rauscht in meinem Kopf.
Ich muss dringend von hier verschwinden.
***
Der Seelenspiegel in tausende Scherben zerbricht,
zeigt ihr nun das wahre Gesicht.
Der Wolf ist aus dem Schafsfell gestiegen,
sie aber wird seinem Charme nicht erliegen.
Die lieblichen Worte sollten sie nur betrügen,
um sich nur ein einziges Mal zu vergnügen.
Der Wolf zerfetzte die trügerische Leine,
sie jedoch, wird niemals die Seine.
Die Lügen wurden von einem anderen aufgedeckt,
und bei ihr wurde das Misstrauen erweckt.
Der Wolf spielte nicht mit offenem Blatt,
sie aber weiß nicht, dass sie sich zu schützen hat.
Die Flucht bleibt nun ihre einzige Wahl,
um zu verhindern die unabdingbare Qual.
Der Wolf ist nicht das, was sie glaubt zu sehen,
sie aber wird niemals auf seiner Seite stehen.