Talib
Stöhnend schlägt Nayara die Lider auf, massiert mit zitternden Händen ihre Schläfen. „Wo bin ich?“, flüstert sie angestrengt. Doch ihr Blick scheint sich zu normalisieren, ihre Augen erkennen mich sofort.
Misstrauisch weicht sie zurück, versinkt fast in der Matratze. Die raschen Bewegungen scheinen ihr Schmerzen zu bereiten, ihre Miene wirkt gequält und unter ihren wunderschönen Augen graben sich tiefe Schatten in ihr Gesicht.
Das ganze Chaos, die Streitereien, aber auch ihre Verwandlung in einen Menschen müssen sie unheimlich erschöpfen.
In ihrem Blick liegt pure Verachtung. Er lässt mein Herz zusammenfahren.
Ich versuche es zu ignorieren, aus meinem Inneren zu verbannen.
Ich wollte sie nie gegen mich aufbringen oder sie ausnutzen, aber wäre ich von Anfang an komplett ehrlich zu ihr gewesen, hätte sie mir niemals eine Chance gegeben.
Ja, ich brauche sie für meine Zwecke. Aber ich mache mir auch wirklich Sorgen um sie. Und ja, sie löst etwas in mir aus, dass ich mir einfach nicht erklären kann. Ich fühle mich so sehr zu ihr hingezogen, dass es mich in Panik versetzt. Und genau das habe ich versucht durch meine lässige Art zu überspielen.
„Gott sei Dank, du bist wach!“ Leanas Stimme überschlägt sich fast vor Sorge, um die eigentlich Fremde, die ihnen doch allen näher zu stehen scheint, als ich es in diesem Moment tue. Ich ziehe es vor zu schweigen, richte meinen Blick starr und demütig zu Boden. Doch ich kann Nayaras Blick auf meiner Haut fühlen, es brennt unangenehm, kratzt an meiner Oberfläche und frisst sich stechend in mein Innerstes.
Wie kann ich das nur wieder gut machen? Wie kann ich sie davon überzeugen, dass ich eigentlich gar kein so schlechter Kerl bin?
Felan tritt näher an mich heran, geht in die Knie und schenkt mir einen tadelnden Blick, dem ich auszuweichen versuche. Doch seine Finger legen sich um mein Kinn, er zwingt mich in seine rabenschwarzen Augen zu blicken, die vor Weisheit nur so glühen.
Für einen kurzen Moment erinnert er mich an meinen Vater. Das Abbild des starken, weiß-grauen Wolfes schleicht sich in meinen Kopf, lässt die schmerzlichen, sonst so sorgfältig in mein tiefstes, Inneres verbannten Erinnerungen aufkeimen. Ein nur allzu bekannter Schmerz durchfährt meine Brust. Ich presse die Lippen aufeinander, versuche ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Lass die Vergangenheit nicht wieder die Kontrolle über dich gewinnen. Bleib stark! , ermahne ich mich selbst.
„Verstehst du es endlich?“ Doch seine Worte klingen nicht fragend, warten auf keine Antwort. Er weiß genauso gut wie ich, dass ich mein Handeln bereue.
Ihre Augen waren voller Misstrauen, das ganz allein mir galt. Und letztendlich hat sie sogar versucht vor mir zu fliehen, als wäre sie eine Gefangene.
Was sie im Grunde genommen auch war....
Ich bin so ein verdammtes Arschloch.
Felans Stimme vermischt sich mit der meines Vaters. Ich kann sie kaum noch unterscheiden. Seine Worte dringen in mein Innerstes, zerfressen mich. Ich will das alles nicht hören.
Aufwachen, wie gerne würde ich das nur tun. Diesen ewig währenden Albtraum hinter mir lassen.
„Es reicht“, mischt sich nun mein jüngerer Bruder ein. Er stellt sich schützend zwischen Felan und mich. Es passiert äußerst selten, dass Tarun sauer wird. Doch genau in diesem Augenblick kann ich seinen Zorn spüren. Seine Muskeln sind bis zum Äußersten angespannt, sie drohen zu zerreißen.
Ich lege meine Hand auf seine Schulter, drück sie dankbar. „Schon gut“, flüstere ich. Mein Herz tut schrecklich weh, der Schmerz ist kaum noch auszuhalten. Mein Bruder wirft mir einen besorgten Blick über die Schulter hinweg zu. „Aber…“
Doch ich unterbreche ihn sofort, schüttele den Kopf. „Kein Aber!“
Viel zu lange, habe ich dich leiden lassen. Wäre ich doch nur ein besserer großer Bruder…
„Es ist nicht deine Schuld“, scheinen Taruns Augen mir sagen zu wollen. Doch ich schüttle all die qualvollen Gedanken ab, balle die Hände zu Fäusten.
Endlich schaffe ich es, Nayara wieder in die Augen zu sehen. Sie strahlen mich immer noch voller Abscheu an. „Es tut mir leid.“ Meine Stimme klingt fest, ehrlich.
Ich wollte sie doch niemals bloß stellen oder mich ihr aufdrängen und sie dann wieder fallen lassen, es ist nur einfach so passiert. Zwischen uns war eine so große Anziehungskraft und ich konnte mich ihr einfach nicht widersetzen.
Alles was ich wollte, war sie für mich zu gewinnen. Und meinen Plan. Dabei habe ich alles aus den Augen verloren, sogar mich selbst. Und habe mich verhalten wie ein hirnloser Vollidiot!
Natürlich glaubt sie mir nicht. Das würde ich wohl selbst nicht mehr.
„Das kannst du dir sparen.“ Obwohl ihre Stimme schwach und müde klingt, scheint sie mir nur so entgegen zu schreien. Das Brüllen in meinem Kopf bereitet mir stechende Kopfschmerzen. So viele Gedanken toben in meinem Gehirn umher, verwandeln sich in einen Sturm, der alles zu verschlingen droht. Wie gerne würde ich die richtigen Worte finden. Worte, die alles erklären können. Alles ändern können.
Ich nicke nur schwach. „Du hast recht.“
Ich spüre die Blicke der anderen auf meiner Haut. Sie scheinen darauf zu warten, dass ich etwas sage. Irgendetwas, das auch nur ansatzweise mein Handeln erklärt. Oder wenigstens etwas, dass weitaus entschuldigender klingt als das, was ich bisher herausgebracht habe. Doch egal wie angestrengt ich auch nach solchen Worten suche, ich finde sie nicht.
Nichts außer Leere macht sich in mir breit.
Ich muss hier weg. Einfach nur weg!
Ich drücke mich an meinem Bruder vorbei, der mich aufzuhalten versucht, doch ich stoße ihn von mir weg. „Was hast du vor?“, ruft er mir nach, während ich auf die Tür zu stürme. Entschlossen umfasse ich die Türklinke, drücke sie nach unten und reiße die Tür auf. Ein kalter, stürmischer Wind schlägt mir entgegen, heißt mich Willkommen in einem tobenden Schneegewitter.
Wenn ich das doch nur selbst wüsste.
***
Graue Wolken hängen am dunklen Himmelszelt, kündigen den aufkommenden Sturm an. Dicke Regentropfen prasseln bereits auf unsere Köpfe herab, lassen mir das Fell klitschnass an der Haut kleben. Es fühlt sich unangenehm an, kalt. Die Umgebung wirkt finster auf mich, lässt mein junges Herz schneller schlagen. Rasen.
Es entfacht Angst in meinem Inneren. Furcht, die sich mit der Vorfreude vermischt, die in mir herrscht und letztendlich alle negativen Gefühle vertreibt. „Ich werde bald ein großer Bruder sein, da muss ich stark bleiben. Darf keine Angst kennen!“, rufe ich die weisen Worte meines Vaters in mein Gedächtnis. Lasse sie auf mich wirken.
Eines Tages will ich genauso stark und klug sein wie er. Dann werde ich unser Rudel anführen und genauso stolz leiten, wie er es Tag für Tag tut. Ich werde uns alle beschützen und den richtigen Weg erkennen, der uns stets Glück bringen soll.
Heller Aufruhr reißt mich aus den Gedanken. Das gesamte Rudel hat sich vereint, baut sich ringsherum um die kleine Ruine auf, die sich mein Zuhause nennt. Ich stehe in der vordersten Reihe, direkt neben meiner Tante, die ungeduldig von einer Pfote auf die andere tappt. Ich kann meine neugierigen Blicke nicht abwenden, so scheint es auch all den anderen zu ergehen.
Wann ist er endlich da? Mein Bruder, auf den ich schon sehnsüchtig warte.
Normalerweise werden mehrere Wolfsjunge geboren und nicht nur ein einziges, doch der Schicksalswolf hat es vorher gesagt. So wie ich alleine zur Welt kam, so wird es auch mein Bruder tun. Wir sind etwas besonderes.
Die Stammesältesten stehen mit den engsten Familienangehörigen in vorderster Front, beobachten die Geburt unter wachsamen Augen. So wie sie es immer tun, wenn ein neues Leben geschenkt wird. Sie schicken ihre Gebete zum Mond hinauf, der silbern in einer runden Kugel über uns am tiefschwarzen Himmel hängt und uns nur spärliches Licht schenkt. Ihre heiligen Worte sollen uns vor Unheil schützen, sollen dem Neugeborenen ein sanftes Schicksal zusprechen. Ihre Gebete schenken ihm Kraft, Mut, Glück, Gesundheit und eine Art Schutz. Das alte Ritual soll das Rudel in fromme Zeiten leiten und jedes Unglück abwenden, das sich über uns auszubreiten droht. Bisher hat es immer funktioniert. Wir sind eine starke Familie, die jedem noch so harten Winter trotz und sich mit Stolz gegen jeden Widersacher durchsetzt.
Aufgeregt warte ich auf meinen jüngeren Bruder, dem ich all die Dinge lehren will, die auch mir beigebracht wurden. Ich will einen starken, furchtlosen Wolf aus ihm machen. So wie unser Vater es von uns erwartet.
Das heisere Geheul meiner Mutter dringt durch die Nacht, durchbricht die Stille. Das ist ihr Willkommensgruß an ihr Junges, das von nun an unter unseren schützenden Reihen leben soll. „Er ist da“, rufe ich meiner Tante zu, springe aufgeregt hin und her, remple einen der Ältesten an, der mir einen bösen Blick zu wirft. Entschuldigend weiche ich von ihm zurück, kann meine Freude aber dennoch nicht in Zaum halten. „Mein Bruder!“
Doch das Gejaule meiner Mutter bricht abrupt ab, direkt darauf folgt ein Blitzschlag, der vom Himmel gesandt wurde. Krachend schlägt er in den Boden direkt vor mir ein, um mich herum wird alles strahlend hell. Ich erblinde für einen kurzen Augenblick. Die Wölfe um mich herum rennen aufgebracht durcheinander, ein beängstigendes Chaos bricht aus. Unsanft werde ich zwischen ihnen hin und her geschubst. Sie rennen mich über den Haufen, ohne es wirklich zu bemerken.
Ich kauere mich auf den Boden, mache mich so klein es nur geht. Versuche im Erdboden zu versinken. Was ist nur los? Was ist geschehen?
Mein Herz pocht nun so schnell, dass ich es einfach nicht mehr schaffe, mich zu beruhigen. Die Worte meines Vaters verschwimmen in meinem Kopf und lassen die Angst herein, die sich blitzschnell in meinem Inneren ausbreitet. „Bleibt ruhig!“, erklingt die kräftige, bassartige Stimme meines Vaters. Doch das Rudel ist in Panik versetzt, niemand scheint mehr auf unseren Leitwolf zu hören. Niemand außer mir. Verzweifelt rapple ich mich auf, suche in dem Getümmel einen Ausweg. „Papa, wo bist du?“, schreie ich gegen die tobenden Wölfe an, die in ihrer Hysterie immer weiter gegen mich stoßen, mir Schmerzen verursachen, die durch meinen gesamten Körper zucken. Doch ich lasse mich nicht beirren.
„Talib“, erwidert er. Seine Tonlage klingt ruhig, als hätte er selbst jetzt noch alles im Griff. Doch die Situation beweist das genaue Gegenteil. Ich renne in die Richtung, aus der ich seine Stimme zu hören glaube. Sein ausgeprägter Geruch weht mir entgegen, lässt mich noch schneller werden.
Erleichtert komme ich bei dem großgewachsenen grau-weißen Wolf an, drücke mich eng an ihn. „Vater, was ist hier los?“ Seine sonst so weisen Augen schauen mich leer an, unwissend.
„Hab keine Angst“, redet er mir ruhig zu, schubst mich sachte und doch bestimmt in die Richtung meiner Mutter. In all dem Trubel habe ich gar nicht weiter an sie gedacht…und meinen Bruder. Hoffentlich geht es ihnen gut!
Mit einem beklommenem Gefühl eile ich zu ihnen, weiche den noch immer panischen, anderen Wölfe aus. Doch der Anblick, der sich mir bietet, lässt mich in der Bewegung innehalten. Selbst mein Vater ist wie versteinert.
Meine Mutter liegt regungslos auf dem Boden, ihre Augen sind vor Schock geweitet. Doch die sonst so leuchtenden, weißen Augen sind leer, werden von einem feinen Grauschleier bedeckt. „Mama!“ Die Beine scheinen unter mir weg zu brechen, doch ich zwinge sie vorwärts, renne zu ihr. Ich presse meine Schnauze in ihr Gesicht, stupse sie an. „Mama, was ist mit dir?“
Doch sie antwortet nicht. Bewegt sich nicht. „Bitte steh doch auf“, flehe ich sie an. Ein leidvolles Heulen dringt aus meiner Kehle, versucht die schmerzenden Gefühle in meinem Inneren zu verscheuchen. Ich kann ihren Herzschlag nicht ausmachen, egal wie dicht ich mich an sie drücke und meine Sinne darauf konzentriere. Es schlägt einfach nicht.
„Steh auf!“, schreie ich nun fordernd. Zornig und verzweifelt. „Bitte!“
Plötzlich regt sich etwas, ihr Körper zuckt, bewegt sich nur schwach. „Mama?“ Erleichterung macht sich in mir breit, doch sie schwindet wieder genauso schnell, wie sie gekommen war. „Sie ist tot“, raunt mein Vater mit fester, ernster Stimme. Von ihm geht kein einziges Gefühl aus. Leere.
„Nein, das kann nicht sein!“ Ich presse mich so eng ich nur kann gegen ihren immer kälter werdenden Körper, lecke über ihr Gesicht. „Sie hat sich doch eben noch bewegt.“
Mit langsamen Schritten kommt mein Vater näher heran, schiebt meine Mutter sanft beiseite. Unter ihr kommt etwas Widerwärtiges zum Vorschein: Es sieht seltsam aus. Schwach und zerbrechlich. Menschlich.
Ein kleiner, runder Kopf auf einem winzigen Körper. Nackte, rosafarbene Haut und dünne, seltsam wirkende Gliedmaßen
Ist das etwa mein Bruder?
Er ist ängstlich zusammengerollt, weint und schreit. Der schwache Herzschlag des Neugeborenen dringt an mein Ohr, lässt mich erschrecken. „Wir müssen etwas tun oder er wird auch sterben.“
Doch der Wolf neben mir schenkt mir nur einen eisigen Blick. „Komm ihm nicht zu nahe!“ Die schrille Stimme meines Vaters durchzuckt mich. Was? „Aber er ist doch mein Bruder, ich muss ihm helfen!“
Aber mein Vater packt mich mit den Zähnen im Genickt, reißt mich von ihm los. „Nein, das ist nicht dein Bruder. Das ist die Ausgeburt der Hölle!“
***
„Ist das dein vollkommener Ernst?“
Unwillkürlich fahre ich herum, starre Nayara an, die ihre Stimme wiedergefunden zu haben scheint. Trotz des purpurroten Wollpullovers und der dunkelgrauen Jeanshose, die sich schmeichelhaft an ihre schmale Figur anlegt, hat sie die Arme um ihren fröstelnden Körper geschlungen.
Sie wirft mir einen missbilligenden Blick zu.
Warum ist sie mir gefolgt?
„Was machst du hier?“ Ich gehe langsam auf sie zu, will nicht gegen den Wind anschreien müssen, der mir entgegen schlägt. Sie weicht nicht vor mir zurück, wie ich zuerst erwartete. Sie bleibt stehen und starrt mich mürrisch an.
„Es ist unhöflich eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten“, knurrte sie. Nayaras silbergraue Augen durchbohren mich, sie hinterlassen ein riesiges Loch in meiner Brust.
An ihrer Stelle wäre ich wohl auch sauer. Aber was soll ich nur tun?
„Du willst also wirklich einfach so davonlaufen?“, formuliert sie ihre Frage neu, nachdem ich mich noch immer nicht zu einer Antwort durchringen konnte.
Ich will nicht wieder das Falsche sagen oder irgendwelche Fehler wiederholen.
„Wie ein kleines, bockiges Kind?“, fügt sie stichelnd hinzu, mit einem vernichtenden Blick in ihren zu Schlitzen verengten Augen.
Ihre Worte hämmern in meinem Kopf, toben darin herum. Verschlingen meinen ganzen Verstand und lassen nichts davon übrig.
„Du bist wirklich erbärmlich, Talib! Ich hatte mehr von dir erwartet.“
Vermutlich hat sie damit recht. Ich bin lächerlich und machtlos.
Sie ist mir nun so nah, dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Ihre Hände krallen sich in mein neu übergezogenes, dunkelgrünes Hemd. „Sag endlich was!“, zischt sie, ihre Worte klingen wie ein zorniges Fauchen.
„Oder bist du dir zu fein dafür?“
Natürlich nicht…
„Das ist es nicht“, murmle ich unwirsch, wage es nicht, sie anzusehen.
„Was ist es dann?“ Ihr Ausruf kommt so plötzlich, so voller Hass, dass selbst der Donner vor Neid erblassen würde. Ich zucke zusammen. Ihre Fingernägel bohren sich nun durch den Stoff in meine Haut, hinterlassen Spuren darauf, die nicht einmal halb so sehr schmerzen, wie mein Innerstes.
„Was willst du von mir hören?“ Ich richte meinen Blick starr auf den Boden, hoffe, dass er sich unter mir öffnet und verschlingt.
„Wie wäre es mit der Wahrheit?“
„Ich habe dich kein einziges Mal angelogen.“ Jetzt schaue ich doch in ihr Gesicht, es ist kreidebleich.
Sie sieht immer noch ziemlich erschöpft aus.
„Ach nein?“, sie prustet belustigt auf. „Du hast also weiter vor mir etwas vorzumachen? Wieso hast du dich so sehr darum bemüht, dass ich bei dir bleibe? Dass ich.....eine Bindung zu dir aufbaue? Ist das nur eine dämliche Wette? Hast du mit deinen Freunden darum gewettet, wie lange es dauert die kleine naive Wölfin um den Finger zu wickeln oder was?“
„Nein!“ Meine Hände verkrampfen sich, ballen sich zu Fäusten. In mir breitet sich ein seltsames Gefühl aus, es lässt mich innerlich verbrennen, als würde Lava in mir aufsteigen und wie aus einem Vulkan mit einem kräftigen Knall ausbrechen wollen. Mit festem Griff löse ich ihre Finger von mir, drücke sie ein Stück zurück. Doch Nayara lässt sich nicht verunsichern, die Entfernung, die ich gerade erst zwischen uns entstehen gelassen habe, überwindet sie sofort wieder.
"Nein? Mehr nicht? Mehr hast du nicht dazu zu sagen?"
Sie glaubt also wirklich, dass diese Verbindung zwischen uns nur gespielt ist? Sie muss es doch auch gefühlt haben! Diese Intensität...
„Okay, dann was ist damit, du wusstest doch von Anfang an, dass ich eine Wölfin bin, wieso hast du es mich nicht wissen lassen? Wieso hast du verschwiegen, dass du.....dass ihr Wölfe seid? Was willst du wirklich von mir? Sag es!“
Sie umschlingt meinen Unterarm als hätte sie Angst, ich würde abhauen, wenn sie es nicht tun würde. Ihre Finger versteifen sich um mein Handgelenk, ich wage es nicht mich ihnen zu entziehen.
Vielleicht hat sie damit nicht einmal Unrecht.
„Nur weil ich dir nicht alles erzählt habe, heißt das nicht, dass ich gelogen habe.“ Ich versuche mich zu beruhigen, die animalischen Triebe in meinem Inneren zu ignorieren, sogar aus mir zu vertreiben. Doch es ist meine Natur.
So wie es auch ihre ist.
„Dann erzähl mir eben alles bis ins kleinste Detail, denn dein ganzes Verhalten ergibt absolut keinen Sinn!“
Niemals.
„Das geht nicht!“
„Wieso nicht?“ Nayara sieht mich fragend an, zieht die Augenbrauen nach oben.
Weil du es sowieso niemals verstehen würdest. Du würdest mich nur noch mehr hassen.
„Es ist eben einfach so.“
Außerdem gibt es Dinge, die einfach niemanden etwas angehen.
Sie lacht auf, es klingt so gehässig, dass es mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagt. „Wusste ich es doch, der große Talib zieht den Schwanz ein.“
Sie ist plötzlich so anders. Stark und mächtig. All die Unsicherheit ist aus ihren Zügen gewichen.
Ein verächtliches Schnauben entfährt mir ungewollt. „Ich ziehe sicher nicht den Schwanz ein.“ Ich kann die Lava in mir brodeln fühlen, sie kratzt an der Oberfläche und will freigelassen werden.
„Sieht aber ganz danach aus“, erwidert Nayara mit einer gleichgültigen Miene. Noch bevor sie etwas hinzufügen kann, mischt sich Tarun ein, der plötzlich hinter ihr steht. Er zieht sie ein Stück zurück, versucht Platz zwischen uns zu schaffen, doch das Wolfsmädchen hält mich noch immer fest.
Es kostet ihn viel Kraft und Anstrengung, sie dazu bewegen, von mir abzulassen.
„Das reicht jetzt“, raunt er schließlich an uns beide gewandt, drängt auch mich etwas weg.
Ich habe gerade erst angefangen.
„Nayara, haben die Anderen dich nicht gewarnt? Du solltest ihn jetzt wirklich in Ruhe lassen.“
Gewarnt? Wovor? Etwa vor mir? Erst bin ich ein Lügner und nun was? Gefährlich? Ein Monster?
„Ich will endlich Antworten“, zischt sie, stemmt die Hände in die Hüften. Ihre silbernen Augen funkeln zornig auf.
„Na gut“, erwidert mein jüngerer Bruder. „Ich werde sie dir geben.“
Nein.
Nayara lässt die Worte in ihrem Kopf umher wandern, nickt dann langsam. „Besser als nichts.“
Nein!
„Gar nichts wirst du ihr geben!“ Noch bevor ich merke, was mit mir geschieht, reiße ich meinen Bruder zu Boden, pinne ihn dort fest. Der Wolf in mir ist frei, er nimmt meinen kompletten Verstand ein und scheint nun nur noch aus Wut zu bestehen.
Ehe ich mich davon abhalten kann, landet meine Faust in der Magengegend meines Bruders.
So überrascht wie seine grauen Augen mich ansehen, treffen weitere Hiebe auf seinen Körper, ehe er überhaupt versucht sich dagegen zu wehren. Er scheint überhaupt nicht zu realisieren, was vor sich geht. Genauso ergeht es auch mir, doch die Sicherungen in meinem Kopf scheinen durchgebrannt zu sein. Ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, prügele ich weiter auf ihn ein. Mechanisch. Kenne keinen Halt.
Ich spüre, wie die Flammen in meinem Inneren stechend heiß werden, bis es sich anfühlt, als strichen sie direkt über meine Haut. Ich glühe, brenne. Mein Herz überschlägt sich, klopft so stark in meiner Brust, dass ich beinahe befürchte, es würde ein Loch herein schlagen. Die fremde Macht, die Besitz von meinem Körper übernommen hat, durchströmt mich nun so stark, dass ich Angst habe ihr nicht weiter Halt geben zu können. Als würde ich jeden Moment zu Asche zerfallen.
„Deine Augen“, höre ich meinen Bruder flüstern. Es ist so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob es auch nur ein Teil dieses absurden Traums ist. „Talib, deine Augen leuchten grün und blau. So als wärst du in deiner Wolfsform.“
Was ist überhaupt noch wahr?
„Das ist genug!“, kreischt mich Nayara mit vor Zorn verzerrtem Gesicht an. In ihren großen Augen liegt Entsetzen gefangen. Sie holt zum Schlag aus, doch ich dränge sie mit Leichtigkeit ab, schubse sie zur Seite. Laut fluchend landet sie im Schnee, rappelt sich sofort wieder auf. „Was soll das? Er ist doch dein Bruder!“
Ihre Worte dringen einfach nicht zu mir durch. Es sind nur Buchstaben, die sich zu einem Wirbelsturm aus Wörtern verwandelt. Er fegt mir um die Ohren, will mich zur Besinnung bringen, doch für mich bleibt er stumm.
Tarun nutzt den kleinen Augenblick meiner Unachtsamkeit aus, drückt sich mit zittrigen Armen hoch. Keuchend schafft er es zurück auf die wackeligen Beine, die ihn allerdings nicht schnell genug von mir weg tragen können.
Erneut reiße ich ihn zu Boden, er keucht angestrengt. Schmerzerfüllt. Er stößt die Luft zwischen den Zähnen aus, bricht danach in ein trockenes Husten aus. Doch ich lasse ihm nicht die geringste Chance sich auch nur ein bisschen auszuruhen. Sofort lasse ich mich auf ihn fallen, verteile Schläge, die sich auf seinem gesamten Oberkörper aufteilen. Er stöhnt. „Komm wieder zu dir.“
Seine Lider zucken schwach. Sie sind angeschwollen und seine Augen blutunterlaufen. „Ich bitte dich.“
„Es reicht jetzt!“ Nayaras dünne Finger krallen sich um meine Schultern, halten sich verbissen daran fest. „Lass ihn los!“, schreit sie erneut auf, zerrt an mir. Doch ich ignoriere ihre Worte. Würdige sie keines Blickes.
Mit einem kräftigen Ruck schafft sie es, mich von Tarun loszureißen. Überrumpelt falle ich rücklings zu Boden, springe jedoch blitzschnell wieder auf, um mich erneut auf den bewusstlos wirkenden Körper vor mir zu werfen. Allerdings klammert sich Nayara um meine Beine, versetzt mir einen mächtigen Schlag in die Kniekehle. Ich schreie auf, sacke zusammen. Nur für einen winzigen Moment. Doch sie nutzt sofort ihre Chance aus.
Wutentbrannt stürzt sie sich auf mich, drückt mich zu Boden. Ihre silbernen Augen scheinen zu glühen, sie funkeln mich eindringlich an. „Was auch immer in dich gefahren ist, ich weiß dass du mich hören kannst. Also komm wieder zu dir oder willst du deinen Bruder ernsthaft verletzen?“
Ich lache auf. „Ist es dafür nicht ein bisschen zu spät?“ Ruckartig stoße ich sie von mir. Keuchend fällt sie in den Schnee, atmet angestrengt. Ich lehne mich über sie, presse mein Knie auf ihre Brust. „Du hättest dich nicht einmischen sollen, Kleines.“
Sie zappelt hilflos unter mir, versucht mich wegzudrängen. Ihr Atem scheint ihrer Lunge zu entweichen, sie japst nach Luft.
Geistig umnachtet schlinge ich meine Finger fest um ihren Hals, erhöhe den Druck darauf. Ihr Gesicht ist kreidebleich, ihre Augen füllen sich mit Tränen. Doch ich lasse nicht nach, drücke noch fester zu.
Ihre Bewegungen werden langsamer, schwächen ab, ehe sie ganz inne halten. Sie fühlt sich schlaff an, unwirklich. Und kalt.
Ich warte. Warte darauf, dass sie weiter nach mir schlägt. Dass sie mich anschreit. Und darauf, dass der Hass in ihren Augen mir entgegen springt. Mein Herz zum Innehalten bringt, ehe es schmerzvoll weiterschlägt. Gegen die Welt und ihre verlogenen Wahrheiten ankämpft.
Doch während ich darauf warte, versteifen sich meine Muskeln. Meine Finger krallen sich nur enger um ihre Kehle, rauben ihr die letzte Chance, mir auch nur einen dieser Wünsche zu erfüllen.
„Hör auf!“, schreit Tarun so plötzlich, dass ich zusammenzucke. Im selben Augenblick, in dem ich zu ihm herumfahre, springt mir ein dunkelbrauner Wolf entgegen.
Seine Zähne versenken sich stechend in mein Fleisch, reißen meine Haut auf. Ich schreie auf, schlage auf seinen Kopf ein. In seinen Blick tritt etwas Trauriges, Flehendes. Und gleichzeitig scheinen seine Augen auch ein stummes „Entschuldige“ zu formen. Er lässt ab von mir, macht einen Schritt zurück, doch seine Muskeln bleiben angespannt. Tarun mustert mich, verfolgt aufmerksam jede meiner Bewegungen.
Doch all das nehme ich nur im Augenwinkel wahr, es erscheint mir eher wie ein Traum. Ich fühle nur wie warmes Blut aus der tiefen Wunde quillt, ich kann es riechen. Es beißt in meiner Nase.
Ungewollt, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, verwandle auch ich mich in meine natürliche Gestalt zurück. Das Glühen, das sich bisher nur als unangenehmes Pochen hinter meinen Augen geäußert hat, durchzuckt nun meinen ganzen Leib. Verleiht mir Kraft.
Knurrend entblöße ich meine Reißzähne, heule meine Wut zum Mond hinauf.
Na gut, dann lass uns spielen, Brüderchen.
Als könnte er meine Gedanken erahnen, springt er mir erneut entgegen und versenkt seine Zähne in meiner Halsbeuge. All die Reue ist aus seinen Zügen gewichen, stattdessen funkelt derselbe bestialische Ausdruck in seinen grauen Augen auf.
Der Wolf in seinem Inneren ist nun wohl auch erwacht. Endlich.
Knurrend warne ich ihn vor der Konsequenz, die sein Handeln nach sich zieht, doch ehe er überhaupt darauf reagieren kann, habe ich ihn abgeschüttelt. Ein wuchtiger Hieb mit den Vorderpfoten und er fällt zurück. Mit ihm verliere ich auch ein paar Hautfetzen, die sich quälend langsam ablösen, die offene Stelle beginnt an der eisigen Luft zu glühen, sticht wie eine lodernde Flamme. Unzählige schwarze Haare, die sich aus meinem Fell gelöst haben, springen im tobenden Wind umher, ein paar von ihnen bleiben an meiner Schnauze kleben. Kitzeln unangenehm darauf.
Doch die Schmerzen treiben mich nur immer weiter an, steigern die Wut in mir. Lassen den Willen wachsen, endlich den Halt zu verlieren und meine volle Macht zu entfachen.
Ich lasse mich mit gefletschten Zähnen auf meinen Bruder fallen, versenke sie in seiner Brust. Jaulend bricht er unter dieser Last in den Schnee. Während mein Maul immer tiefere Wunden in sein Fleisch schnitzt, versucht er panisch nach mir zu treten. Die großen Pfoten, die auf mich einschlagen wie ein müder Sommerregen, ignoriere ich mit Leichtigkeit. Der Geruch des süßen Blutes ist einfach zu stark. Genauso wie der Geschmack.
Es ergießt sich herrlich warm über meine Zunge, benetzt sie vollständig mit dem lieblichen Geschmack der Sünde.
Ich missachte selbst seine Krallen, die nur haarscharf an meinem Auge vorbeischrammen und die Haut darüber aufreißen. Erneut quillt Blut hervor, es läuft in dicken Perlen in mein linkes Auge, raubt mir vollkommen die Sicht. Allerdings habe ich noch meine anderen geschärften Sinne, die mich in diesem Kampf zum Überlegenen werden lassen. Mein Blut tropft auf das Fell meines Bruders, es vermischt sich mit seinem und verschwimmt langsam zu einem dunkelroten See, der im Schnee noch unheilvoller wirkt.
Die rote Lebensessenz zieht meine Aufmerksamkeit viel zu lange auf sich, offenbart meine Schwäche. Endlich zerbricht die Trance und ich scheine wieder klare Gedanken fassen zu können, zumindest für den Moment.
Was tue ich hier eigentlich? Ich will das doch gar nicht! Ich will niemanden verletzten!
Verwirrt lasse ich von Tarun ab. Während sich meine Zähne aus seinem Fleisch lösen, mischen sich salzige Hautfetzen und dicke Haarbüschel zu dem nun so widerlich schmeckenden Blut in meinem Mund. Tarun japst nach Luft, in seinen geweiteten Augen liegt so viel Schmerz gefangen. Und Angst.
Die tiefe, klaffende Wunde an seiner Brust scheint ihm zu schaffen zu machen. Doch obwohl er um einiges jünger und schwächer ist als ich, hat er doch meinen Siegeswillen übernommen.
Unbeirrt wendet er das Blatt, reißt mich herum. Sein Maul schwebt über mir, ich fühle seinen heißen Atem, den er mir in das Gesicht bläst. Ungleichmäßig und angestrengt.
Dann, ganz plötzlich, durchströmt mich wieder die Welle des Schmerzes, die auf einmal so viel stärker zu sein scheint. Sie drängt das Adrenalin zurück, überschwemmt meinen Körper wie eine Tsunami. Taruns Zähne haben sich in mein Ohr gebohrt, kauen beinahe genüsslich darauf herum. Er zerrt und reißt so stark daran, dass es sich in Fetzen aufzulösen beginnt. Ich schreie auf, keuche. Und versuche ihn fast schon panisch von mir zu stoßen.
Ich habe ihn wohl vollkommen unterschätzt.
Doch mein jämmerlicher Versuch, Abstand zu ihm zu gewinnen, führt dazu, dass wir durch den Schnee rollen, Purzelbäume durch das frostige Pulver schlagen. Jeder will die Oberhand gewinnen, Niemand will als Verlierer hervorgehen.
Die wilden Kreise bringen die bereits ungeordneten Gedanken in meinem Kopf nur noch mehr durcheinander. Der Schwindel scheint nun nicht mehr allein von den Drehungen zu stammen, sondern auch die Wunden kommen mir plötzlich um einiges größer vor. Qualvoller. Sie überziehen mich mit einer völlig anderen Art der Benommenheit, der meinen bereits ermüdeten Körper nur allzu gerne in einem dicken Nebelschleier willkommen heißt. Er zerrt an meinen letzten, verbliebenen Kräften.
Zu eben diesen Schmerzen mischen sich immer wieder neue, harte Einschläge, die meine Haut zum Aufplatzen bringen. Doch ich spüre den Schmerz nur noch als ein großes Ganzes, das sich in jedem einzelnen Knochen zu verstecken scheint, jeden Millimeter meines Körpers einnimmt.
Erst viel zu spät bemerke ich, dass wir einen Abhang herunter rutschen. Ich bin zu müde, um dagegen anzukämpfen. Um abzubremsen. Die glitzernde Eisdecke unter uns lässt Tarun und mich immer schneller herab brausen. Dicke, steinerne Felsen stellen sich uns in den Weg, doch selbst diese stoppen uns nicht. Es fühlt sich eher so an, als würden sie uns immer weiter treiben. Umher schubsen. Nur schwach, leicht verschwommen kann ich meinen Bruder aus den halb geschlossenen Augen ausmachen, der schon längst bewusstlos zu sein scheint.
Oder leblos?
Noch ein Felsen, der mich auffängt und mir den letzten klaren Gedanken raubt. Schwärze.
***
Flink eile ich durch die Nacht, fühle den stürmischen Wind in meinem Fell. Der Tau hinterlässt feuchte Spuren in meinem Maul, setzt sich auf meine Zunge und lässt sie kribbeln. Taub werden. Der Himmel hat sich in ein düsteres Schwarz getaucht, allein die gleißend hellen Blitze zucken in einem beängstigendem Rhythmus am Firmament, lassen es für wenige Sekunden in einem tristen Grau erstrahlen. Darauf folgt ein dröhnendes Grollen. Der Zorn des Himmels.
Beharrlich setze ich meinen Weg fort, renne an den baufälligen Mauerwerken vorbei, mitten durch die Ruinen der alten Tempelanlage. Auch ohne das strahlende, leitende Licht des Mondes und der Sterne erkenne ich den schmalen Pfad, der mich direkt zum kleinen Tempel führt.
Grazil springe ich über die Mauern oder das, was davon übrig geblieben ist, lande auf meinen Pfoten und treibe meine Beine voran. So schnell ich nur kann.
Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät.
Das Gebäude erstreckt sich vor mir, der sonst so helle Sandstein wirkt finster auf mich mit all den Schatten, die die hohen Bäume ringsherum auf ihn werfen. An den Säulen, die einen Rahmen um das Eingangstor bilden, ringeln sich Rosenranken, die sich in alle Richtungen ausgebreitet haben. Mit ihren dornigen, stechenden Ästen versuchen sie nach den Lebewesen zu greifen und sie daran zu hindern, in das Innere des alten, leer stehenden Tempels vorzudringen.
Geschickt weiche ich ihnen aus, lasse mich nicht aufhalten. Denn er wartet auf mich, braucht meine Hilfe.
Auf dem steinernen, sandigen Boden hinterlassen selbst meine Pfoten leise Geräusche, die an den hohen, mit alten Schriften verzierten Wänden widerhallen. Ich hetze vorbei an den hölzernen Sitzbänken, die früher von Menschen besetzt waren, die den Worten der Geistlichen lauschten und sich von ihren Reden inspirieren ließen. Doch mittlerweile breitet sich eine gähnende Leere über ihnen aus. Eine Decke aus Staubkörnern und silbern schimmernden Spinnennetzen hat sich über die Sitzgelegenheiten gelegt, die sie nun schon einige Jahrzehnte ruhen lassen. Das alte Holz riecht modrig, ist morsch geworden von der feuchten, klammen Luft. Menschen kommen schon ewig nicht mehr hier her, sie fürchten sich vor dem verfluchten Tempel.
Derselbe Tempel, der einst von so vielen Menschen besucht wurde. Noch immer kann ich ihre Stimmen in meinen Ohren hören. Die unzähligen Geschichten der Frommen über Gut und Böse. Über das Schicksal selbst, welches einem vom Leben vorgegeben wird.
Kurz bevor ich die Stufen zum Podest erreiche, zuckt ein Blitz vom Himmel, schlägt durch das Loch in der gewölbten Decke direkt in den Altar ein. Für den Bruchteil einer Sekunde weiche ich zurück, schüttle dann den Schrecken von mir ab und renne weiter. Hoffentlich ist ihm nichts passiert!
Ich eile die Stufen nach oben, meine Augen halten wachsam Ausschau nach ihm. Doch ich kann ihn einfach nicht finden. Der steinerne Altar steht noch immer in seiner vollen Pracht in der Mitte des Podests, selbst die Blitzschläge können ihm nichts anhaben. Er strahlt eine Gänsehaut bereitende Erhabenheit aus.
Trockenes Blut klebt auf seiner Oberfläche, zeichnet Kreise und weitere Symbole, die sich in feinen Linien überschneiden und zusammentreffen. Sie dienen finsteren Ritualen, höheren Mächten, die diesen Tempel verfluchen ließen. Schwarze Magie.
Doch zu dem getrockneten Blut hat sich neues gemischt, ich kann es wittern. Es klebt unangenehm in meiner Nase, riecht so vertraut.
Dieser Idiot, er hat es schon wieder getan! Wann lernt er endlich, dass er seinem Schicksal nicht entkommen kann? Keiner kann das. Und dennoch werde ich alles versuchen, um seine Bestimmung umzuschreiben. Irgendwie.
Verzweifelt blicke ich mich um, meine Augen haben ihn immer noch nicht entdeckt. Doch ich kann ihn riechen, nur schwach, aber er muss hier sein. „Wo bist du?“, schreie ich durch die Halle, doch meine Worte verschmelzen, verformen sich zu einem unverständlichem Geheul.
Doch er hat mich verstanden. So wie er es immer tut, wenn er in meinen Gedanken liest. Er kennt mich einfach zu gut.
„Was machst du hier?“ Seine Stimme klingt schwach, kränklich. Erschrocken zucke ich zusammen, drehe mich um und renne in die Richtung, aus der die Worte drangen. „Dummer, dummer Junge! Als würdest du nicht wissen, dass ich dir immer beistehen werde.“
Er liegt zusammengekauert in einer Ecke. Noch immer in der Gestalt eines Menschen, die so fremd zu sein scheint. Und dennoch haben sich meine Augen bereits an diesen Anblick gewöhnt. Ich sehe nicht den Menschen, den Fremden. Sondern sein Inneres, das, was ihn wirklich ausmacht.
Warmes Blut rinnt über seinen Arm, tropft seine Fingerspitzen herunter. Seine dunkelgrauen Augen scheinen leer zu sein, hoffnungslos. Doch um seine Lippen zuckt ein zaghaftes Lächeln. „Ich wusste du würdest kommen.“ Er streckt die zitternden Finger nach mir aus, streicht mir sanft durch das schwarze, wuschelige Fell. „Wer sonst würde zu meiner Rettung eilen?“
„Idiot!“ Ich verenge die Augen zu Schlitzen, schenke ihm einen zornigen Blick, den er sofort richtig zu deuten weiß. Er lacht auf, keucht schmerzerfüllt. Er hat zu viel Blut verloren, zu viel Kraft und Hoffnung. „Schon gut“, stöhnt er. „Ich weiß doch, dass du immer zu mir halten wirst.“
„Ich werde dich beschützen, komme was will!“ Ich weiß, dass er meine Gedanken lesen kann. Ich sehe es in seinem Blick. Mein Gegenüber schiebt die Unterlippe trotzig nach vorn, es lässt ihn wie ein kleines Kind wirken. „Aber du musst das nicht tun“, flüstert er kaum hörbar, kraftlos.
Ich präsentiere ihm meine scharfen Reißzähne, ein tiefes Knurren dringt aus meiner Kehle. „Sag so etwas nie wieder!“, ermahne ich ihn. Mein Herz rast, es scheint zerspringen zu wollen, einfach aufgeben unter der mentalen Last. Doch ich muss stark sein. Ich muss ihn retten.
„Ich finde einen Weg“, verspreche ich ihm. Und mir selbst. Drücke meine kalte Schnauze an seine Hand, lecke über die klaffenden Wunden auf seinem Arm. Er lehnt sich vor, stöhnt angespannt. Sein Gesicht ist mir nun so nah, dass ich seinen schwachen Atem in meinem Gesicht spüren kann. Er drückt seine Stirn gegen meine. „Es tut mir leid“, wispert er, seine Stimme bricht in leidvolles Schluchzen aus. Dicke Tränen kullern seine Wangen herab, fallen auf meine Schnauze. Tränken sie in Bitterkeit. Ich drücke mich enger an ihn, gebe ihm einen schwachen Schubs mit der Pfote, will, dass er mich ansieht.
Seine Augen sind geschwollen, rote Äderchen ziehen sich hindurch, entblößen seine Trauer. Seine Lippen beben unkontrolliert. Nichts ist mehr übrig geblieben von dem starken, furchtlosen Wolf, der in ihm steckt. Er wirkt so weich und schwach. Hilflos.
„Hab Vertrauen in mich. Ich finde einen Weg, versprochen!“ Ich lege all meine Überzeugung in meinen Blick, verbanne jeden Zweifel daraus. „Halte nur noch etwas länger durch“, flehe ich ihn an. Ein seltsamer, tiefer Schmerz breitet sich in meinem Inneren aus. Ich hoffe, dass ich ihm nicht zu viel abverlange. „Nur noch ein bisschen.“
„Danke“, flüstern seine grauen Augen stumm, ein fremder Glanz ist in sie getreten. Ist es Hoffnung? Vertrauen? Oder sind es doch nur die schier endlosen Zweifel, die seine Seele besetzen?
Ich vermag es nicht zu deuten.
Seine schweren, müden Lider fallen zu, sein Kopf sinkt langsam auf mich herab. Ich versuche ihn zu stützen, ihm etwas Wärme und Kraft zu geben. Sein Atem dringt schwach hervor, wird langsam gleichmäßiger. Sein Herz pocht so schwach und leise, dass ich meinen Kopf gegen seinen Brustkorb drücke, um zu überprüfen, ob es auch wirklich weiter schlägt.
Ich will, dass du lebst. In einer Form, die dir auch würdig ist. Und ich werde alles dafür tun.
Alles.