Sabrina
„Bis zum nächsten Mal, Gunni.“
Der rundliche, ältere Mann schenkt mir das so gewohnte Lächeln. „Danke dir, Sabrina. Komm gut Heim.“
Ich nicke ihm freundlich zu. „Mach ich.“
Endlich, das war die letzte Brötchen-Lieferung für heute. Ich kann es kaum erwarten unter die heiße Dusche zu springen und noch ein Stündchen Schlaf nachzuholen. Oder zwei.
Meine Glieder fühlen sich schon ganz taub an vor Kälte. Gedankenverloren reibe ich mit den Händen über meine Oberarme, versuche die Lebensgeister zu erwecken.
Das letzte Mal, als ich auf dem Heimweg war, wurde ich von einem Luchs angegriffen. Vielleicht sollte ich heute nicht die Abkürzung durch den Wald nehmen, nur um sicher zu gehen.
Sofort zieht sich ein Schauer in Form einer Gänsehaut über meinen ganzen Körper. Ich schüttele sachte mit dem Kopf, um die Erinnerung daran zu verdrängen.
Ist ja nochmal alles gut gegangen. Wäre da allerdings nicht dieser Wolf...
Ein plötzlicher Schrei reißt mich vollends aus meinen Gedanken, lässt mich zusammenzucken.
Was war das?
Erschrocken sehe ich mich um, versuche auszumachen, woher das Geräusch kam. Und dann schon wieder, ein weiterer laut des Schmerzes, der von dem riesigen, abgegrenzten Gelände neben an zu kommen scheint.
Ich mache mich etwas kleiner und trete vorsichtig an den Zaun, versuche einen Blick durch die Gitterstäbe zu werfen. Doch das Gelände liegt im Dunkeln, lässt nichts erkennen.
„Das hast du dir nur eingebildet. Dein Gehirn scheint auch schon ganz taub von diesem schrecklich eisigen Wetter zu sein“, versuche ich mir einzureden. Doch das ungute Gefühle in meinem Magen breitet sich weiter aus, es hindert mich daran einfach zu gehen.
Verstohlen werfe ich einen Blick zu dem schmalen, gepflasterten Weg, der hinter das Haus meines Stammkunden führt.
Er hat sicher nichts dagegen, wenn ich nur ganz kurz nachsehe.
Noch immer hadere ich kurz mit mir, doch als weitere Geräusche an meine Ohren dringen, eile ich so geräuschlos wie möglich in den Garten. Es klingt nach einem Kampf. Und...
War das das Heulen eines Wolfes?
Es erstreckt sich eine weite Grünfläche über das Nachbargelände, die von hohen Tannen umrahmt zu sein scheint. Abgesehen von dem wirklich uneinladenden Stacheldrahtzaun.
Ich frage mich wirklich, was der Besitzer zu verstecken hat.
Neugierig und gleichzeitig bedacht dränge ich mich eng am Zaun entlang. Das Gelände wird noch immer in Schwärze gehüllt, doch von hier aus wird das Licht des Mondes nicht komplett von einer Hauswand abgeschirmt.
Ich kneife die Augen etwas zusammen, versuche angestrengt etwas in dem silbrigen Licht zu erkennen. Doch es scheint aussichtslos. Nichts. Auch die schaurigen Rufe haben aufgehört.
„Du spinnst doch“, murmle ich zu mir selbst. Ich komme mir plötzlich wirklich lächerlich vor. Hoffentlich hat das niemand gesehen.
Gerade als ich mich wieder aufrichte, um so schnell es geht nach Hause zu kommen, dringt ein Ächzen an meine Ohren, gemischt mit einem Wimmern. Ich höre es nur ganz schwach, aber es ist definitiv da.
Und dann sehe ich es, das Gesicht jenen Mannes, das mich seit unserer ersten Begegnung nicht mehr loslassen will. Ich brauche einen Augenblick um zu realisieren, dass er verletzt ist. Und, dass er nicht allein ist.
Im halbdunklen mache ich lediglich einen roten Haarschopf aus und ein Lächeln, das mir das Blut in den Adern gefrieren lässt. Er schaut auf den Schwarzhaarigen zu seinen Füßen herab, ehe er ihn an den Armen packt und mich sich schleift. Er scheint ohnmächtig zu sein, denn seine schmerzerfüllten Laute haben innegehalten und er wehrt sich nicht gegen seinen Widersacher.
Mein Puls rast, klingelt in meinen Ohren. Ich versuche die Ruhe zu bewahren, doch als ich mein Handy aus der Manteltasche ziehe, bemerke ich, wie meine Finger zittern. So schnell ich kann wähle ich den Notruf, atme unkontrolliert aus.
„Hallo, ich glaube ich wurde Zeugin eines Verbrechens.“
Während mich die Polizistin weiter befragt, gehe ich so schnell ich kann wieder zurück zu Gunnis Haus, um nicht auch noch dabei erwischt zu werden wie ich meine Nase in fremde Angelegenheiten stecke, die mich definitiv nichts angehen sollten.
Die Dame am Telefon versichert mir, so schnell es eben geht, hier zu sein und nach dem Rechten zu sehen. Und ich hoffe inständig, dass es schnell genug ist.
Noch immer wird mein Körper von einem Beben heimgesucht, das sich nicht so einfach abschütteln lässt. Ohne weiter darüber nachzudenken, klopfe ich an Gunnis Haustür. Der ältere Herr braucht trotz seines hohen Alters nicht lange, ehe er mir öffnet. „Sabrina Liebes, was hast du denn? Du siehst ja ganz blass aus.“
„Kann ich rein kommen? Ich brauche deine Hilfe.“
„Aber sicher, Liebes.“ Er macht einen Schritt zur Seite, damit ich eintreten kann. „Ich mache dir erst einmal eine Tasse heißen Tee, damit du dich aufwärmen kannst und dann erzählst du mir, was los ist.“
„Danke“, sage ich ehrlich dankbar, während ich ihm ins Wohnzimmer folge.
„Setz dich wohin du magst, ich bin gleich wieder bei dir.“ Dann läuft der Mann mit dem grauen Haar in die Richtung, in der ich seine Küche vermute. Doch ich bin zu aufgekratzt um einfach still dazusitzen. Nervös gehe ich durch das Zimmer, bin so vertieft in meine Gedanken, dass ich der Einrichtung keine weitere Beachtung schenke. Was mir direkt zum Verhängnis wird, denn ich stoße mit dem Knie gegen einen Sessel und keuche vor stechendem Schmerz auf.
Verdammter Mist!
Ich reibe mir über das Knie, lasse mich dabei auf eben jenen Sessel sinken. Ich muss mich wirklich zusammenreißen! Die Polizei ist auf dem Weg und wird sich um den Schwarzhaarigen kümmern.
Als ich aufsehe, um doch einen kurzen Blick durch das Zimmer zu werfen, entdecke ich, dass man durch das kleine Fenster zu meiner Rechten den perfekten Ausblick auf die Villa nebenan hat. Genauer gesagt auf deren Hauseingang.
Wie gebannt kann ich meine Augen nicht davon abwenden, selbst als Gunni zurück kommt und mir eine Tasse in die Hände drückt.
„Ich hoffe, du magst Pfefferminz Tee.“ Aus dem Augenwinkel entdecke ich sein freundliches Lächeln, doch ich schenke ihm keine weitere Beachtung.
„Also, was ist passiert?“; will er dann wissen.
Ich räuspere mich, das Zittern hatte etwas nachgelassen, doch plötzlich fühlt sich meine Kehle ganz trocken an und das Beben scheint mich erneut zu überkommen.
„Ich habe gesehen wie ein Mann überfallen wurde“, krächze ich, erkenne meine eigene Stimme nicht wieder. Gunni, der sich neben mir niedergelassen hat, tätschelt mir fürsorglich den Arm. „Das ist ja schrecklich! Wir sollten sofort die Polizei verständigen!“
Ich kann nicht anders, ich schenke ihm ein zuversichtliches Lächeln. Seine naive, großväterliche Art hat etwas beruhigendes. „Das habe ich bereits, ich dachte nur, vielleicht könnte ich hier warten, nur um sicherzugehen, dass es dem Mann gut geht?“
„Ich verstehe“, der alte Mann fährt sich über das faltige Gesicht, „aber natürlich kannst du hier warten, Liebes.“ Und dann sieht er mich ermutigend aus seinen dunkelgrünen Augen aus an. „Ich werde hier bei dir bleiben. Du bist nicht allein, hörst du?“
Seine dünnen Lippen verziehen sich zu einem breiten Grinsen und ich kann nicht anders als es zu erwidern.
„Danke Gunnar, das ist wirklich lieb von dir.“
Seine Nähe scheint mich tatsächlich etwas zur Ruhe zu bewegen. Meinen Atem habe ich wieder unter Kontrolle und auch mein Hals fühlt sich nicht mehr so eng an. Ich nehme einen großen Schluck von dem dampfenden Getränk, das so herrlich nach Minze riecht.
Mein Blick klebt noch immer am Fenster und auch ohne hinzusehen, weiß ich, dass es der grauhaarige Mann neben mir genauso tut. Und so verpasst keiner von uns den Moment, als der Streifenwagen auf den großen, geschotterten Platz fährt und die in dunkelblau gekleideten Männer aus dem Auto steigen. Ich springe auf, um mich direkt vor das Fenster zu stellen, stoße dabei fast den Sessel um.
Doch Gunnar scheint sich nicht zu beschweren und wenn doch, schenke ich ihm keine Beachtung.
Bitte, lass es ihm gut gehen!
Als die große Haustür der Villa geöffnet wird, erstrahlt ein goldenes Licht, lässt das rote Haar des Mannes in einem feurigem Orange aufleuchten. Jetzt erkenne ich auch sein Gesicht, die dunklen Augen, der kastanienrote Bart, der seine Lippen umrahmt. Lippen, die er zu dem selben schaurigen Lächeln verformt, wie er es zuvor getan hatte.
Mein Atem stockt erneut, mein Herz setzt einen Schlag aus, nur um danach wie wild gegen meinen Brustkorb zu hämmern.
Leider verstehe ich nicht, was die Männer sagen. Doch hingegen all meiner Hoffnung, nicken sie dem Rothaarigen nur zu, drehen sich um und steigen zurück in ihren Wagen. Fahren davon.
„Was?“, stoße ich hervor. „Das ist doch nicht ihr ernst!“
Gunni, den ich fast vergessen hatte, drängt sich nun zu mir ans Fenster.
„Was ist denn los?“, fragt er sichtlich verwirrt, doch nur ein Blick auf den davonfahrenden Streifenwagen beantwortet seine Frage.
„Vielleicht war es ja gar nicht so schlimm, wie du befürchtet hast“, sagt er leise, versucht mich vermutlich zu beruhigen, doch es hat genau die gegenteilige Wirkung.
„Nein!“, brülle ich fast. „Ich weiß, was ich gesehen habe und diese...diese Idioten haben nicht einmal nachgesehen, um sich davon zu überzeugen, dass es dem Mann gut geht.“
Gunnars grüne Augen wirken dunkel, besorgt. Doch er versucht mich weiterhin zu besänftigen. „Nun ja, es ist vermutlich nicht so einfach ins Haus reinzukommen, so ganz ohne Genehmigung.“
Und was jetzt? Soll ich es jetzt einfach auf sich beruhen lassen? So tun als hätte ich nichts gesehen, nur weil es nicht so einfach ist?
Das Gesicht des Schwarzhaarigen, dessen Name ich immer noch nicht kenne, blitzt vor meinem geistigen Auge auf. Die kohlrabenschwarzen Augen, die hohen Wangenknochen und der zurechtgestutzte Bart. Und seine geschwungenen Lippen, die sich zu diesem sexy Lächeln verzogen haben, das mich seither verfolgt.
„Doch“, sage ich. „Doch, das ist es.“
Noch ehe der ältere Mann fragen kann, was ich damit meine, krame ich erneut mein Handy hervor und wähle die Nummer meines Vaters. Beinahe sofort geht er ran.
„Dad, trommel die Jungs zusammen. Es gibt einen Notfall.“