Felan
Ich stapfe durch den hohen Schnee, kuschle mich enger in den Mantel.
Seit ich zum Mensch wurde, spüre ich die eisige Kälte viel deutlicher.
Talibs Hütte wirkt durch die Entfernung nur noch winzig klein. Ich werfe einen Blick zum Himmel hinauf. Die Sonne geht langsam unter, ich habe also noch eine gute halbe Stunde, bis es dunkel wird. Sollte ich mich verwandeln, um schneller den Wald durchqueren zu können?
Ich schüttele den Kopf. Nein, es ist zu gefährlich. Was ist, wenn ich von einem Menschen entdeckt werde? Ich würde uns alle in Gefahr bringen.
Ich fahre mit den Fingern durch meine langen Haare, streiche ein paar Eiskristalle daraus. Dante und Aiden hatten uns immer wieder gesagt, dass wir uns nur im Notfall verwandeln sollten. Und ein kleiner Schneesturm wie dieser, ist sicher kein Problem für einen Mann wie mich.
Unbeirrt trete ich weiter in den Wald hinein, an riesigen Tannen und eingefrorenen Felsen und Büschen vorbei. Der eisige Wind pfeift mir um die Ohren, welche sich schon ganz taub anfühlen. Ich wickle den Schal enger um meinen Hals, lasse dabei meinen Blick über die Schneelandschaft schweifen. Sie hat nichts an ihrer Schönheit verloren.
Obwohl ich immer noch sehr stark bin, selbst in dieser menschlichen Hülle, muss ich mich vor wilden Tieren in Acht nehmen. Elche und andere Wölfe sind nicht gerade selten hier unterwegs, sogar Bären streifen manchmal durch die verschneiten Berge.
Doch alles, was mir ins Auge fällt, ist eine junge Frau, die an der gegenüberliegenden Seite des zugefrorenen Sees spaziert. Das Eis zwischen uns glitzert und funkelt. Während ich weiterlaufe, lasse ich die Frau nicht aus den Augen. Rotes, langes Haar, über das sie eine schwarze Mütze trägt. Ihr Gesicht ist leicht gerötet, durch den Eiswind. Doch das bernsteinfarbene Funkeln, in ihren grünbraunen Augen erkenne ich selbst über die Entfernung hinweg. Ihr Körper ist in einen ebenfalls schwarzen Mantel gehüllt, der es mir unmöglich macht, ihren Körperbau zu erahnen.
Als sie sich herunter beugt, um etwas vom Boden aufzuheben, spüre ich ein leichtes Stechen hinter meinen Augen und ein Ziehen in meinen Knochen. Noch ehe ich weiß, was geschieht, geht mein Körper in Flammen auf und ich sprinte über die glatte Oberfläche des Sees. Das Spiegelbild darauf verrät mir, dass ich zu meinem Ursprung zurückgekehrt bin: Dunkelgraues Fell und stechend weiße Augen.
Als die Rothaarige mich entdeckt, schreit sie ängstlich auf, versucht zu fliehen. Doch vor Schreck rutscht sie aus, krabbelt panisch auf allen Vieren weiter. Ich knurre warnend und fletsche die Zähne. Ihr hysterisches Geschrei wird lauter. Sie wirkt so unglaublich hilflos. „Bleib weg von mir!“
Als würde sie mich damit aufhalten können.
Als ich über sie hinweg springe, zieht sie den Kopf ein und hebt schützend die Hände vor ihr Gesicht.
Knurrend springe ich dem weißen Luchs an den Hals, der sich im Gestrüp hinter der Frau versteckt gehalten hat und versenke meine Zähne in seinem Fleisch. Sein warmes Blut schmeckt leicht bitter. Er kreischt auf, schlägt mit seinen Tatzen nach mir. Seine Krallen reißen meine Haut in Stücke. Sein Blut vermischt sich mit meinem. Ein weiterer Hieb zuckt mir so pochend durch den Körper, dass ich von ihm ablassen muss. Die goldenen Augen der Raubkatze funkeln wütend auf. Ein weiterer Schrei dringt aus der Kehle des Luchs, ehe er mich zu Boden schubst und über mir aufragt. Seine scharfen Zähne vergraben sich in meiner Brust, zerreißen mein Fleisch. Ich heule auf, als der Schmerz meine Sinne betäubt. Das Brennen in meinem Inneren mischt sich darunter und schenkt mir die Kraft, mich dagegen zu wehren. Ruckartig reißt der Luchs seine Zähne aus meinem Fleisch, öffnet die pochende Wunde noch weiter. Ich treffe ihn mit meinen Pfoten im Gesicht, reiße es herum und erwische gezielt die Stelle an seinem Hals, unter der ich seine Halsschlagader pulsieren hören kann. Ich stoße meine Zähne so tief durch seine Haut, dass er kläglich aufschreit. Darunter mischt sich auch der entsetzliche Schrei der jungen Frau, die ich nur in meinem Augenwinkel wahrnehme. Sie starrt uns mit weit aufgerissenen Augen an, reißt sich dann aber zusammen und rappelt sich auf. Während das Blut meines Gegners in mein Maul fließt, schaue ich der Fremden nach, wie sie hektisch durch den Schnee flieht.
Sie dreht sich nicht mehr um, um zu sehen, wie ich dem Luchs mit einem weiteren Biss das Leben entziehe. Sein cremeweißes Fell ist übersät mit der roten dickflüssigen Lebensessenz.
Ich lasse von ihm ab, überzeuge mich noch einmal davon, dass er sich wirklich nicht mehr rührt. Das Pochen in seiner Brust ist verstummt und seine Augen richten sich glanzlos geradeaus.
Keuchend lasse ich mich in den Schnee fallen, versuche über die Wunde in meiner Brust zu lecken, um sie schneller heilen zu lassen, doch ich komme nicht ran. Die Hitzewelle entweicht meinem Körper und ich weiß, dass ich mich bald wieder zurückverwandeln werde. Doch ich fühle mich plötzlich zu schwach und zu müde, um mich wieder aufzurichten.
Hätte ich gleich gewusst, dass das so anstrengend wird, hätte ich sie nicht gerettet.
Der Schnee ist angenehm kühl und betäubt meine Schmerzen.
***
Als ich die schweren Lider aufschlage, bin ich zurück in meiner menschlichen Form. Doch nicht nur das, ich befinde ich mich an einem völlig fremden Ort. Um mich herum ist es dunkel, was nicht an meiner noch leicht verschwommenen Sicht liegt. Ich reibe mir über die Augen, doch es ändert sich nichts. Ich ertaste eine Matratze, deren Sprungfedern quietschen als ich mich aufrapple. Schnell befreie ich mich von der Decke und bemerke durch einen feinen Luftzug, dass ich splitternackt bin. Aber ich störe mich nicht weiter daran, sondern taste mich auf allen Vieren weiter durch den Raum. Ein hölzerner Boden, dann ein weicher Teppich. Ich strenge meine Sinne weiter an. Es riecht nach frischem Brot und Mehl, doch der Geruch ist so weit weg, dass ich es nur leicht wahrnehme. Dann höre ich Schritte, die sich nähern und das Knarzen von Holz. Darunter mischen sich Stimmen. Eine tiefe, kratzige, die ich einem alten Mann zuordne und eine helle Frauenstimme.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich von einem Wolf überrascht wurde. Erst als er auf mich zugerannt kam, habe ich den Luchs entdeckt, der sich von hinten an mich angeschlichen hatte. Ich hatte verdammtes Glück!“ Die Stimme der Frau überschlägt sich fast.
Der Mann versucht sie zu beruhigen. „Ich bin wirklich froh, dass dir nichts passiert ist. Als ich allerdings auf dem Heimweg war, bin ich zum Glück keinen Wildtieren begegnet, dafür aber dem armen Kerl. So wie er zugerichtet ist, muss er von ihnen angegriffen worden sein.“
Sprechen sie von mir? Na, wenn die wüssten!
Als die Schritte innehalten und ich sie vor der Tür unmittelbar vor mir hören kann, richte ich mich blitzschnell auf. Der schwache Schein, der beim Öffnen der Tür ins Zimmer fällt, schenkt mir gerade so viel Licht, dass ich mich hinter der Tür verstecken kann, ohne über etwas zu stolpern.
Die rothaarige Frau, die ich vorhin am See gerettet habe, tritt nun herein und erschrickt als sie aufs Bett schaut. „Er ist weg“, bemerkt sie und wirbelt herum, zu dem bärtigen, weißhaarigen Mann mit dickem Bauch. Er reibt sich verwundert über eben diesen. „Das kann nicht sein, als ich vor einer Weile nach ihm geschaut habe, war er noch bewusstlos.“
Genau in dem Moment entdeckt mich die Rothaarige und ihre Wangen verfärben sich rosig.
„Gefunden“, meint sie und wendet , nach kurzem Zögern, den Blick ab. Auch der ältere Mann schaut mich nur kurz an, ehe er sich umdreht. „Vielleicht solltest du dir erstmal was anziehen, junger Bursche.“
„Wo bin ich hier?“, will ich stattdessen lieber wissen. Als sich die junge Frau über das Bett lehnt, um nach er Decke zu greifen, streckt sie ihren Hintern in die Höhe.
Nicht von schlechten Eltern.
Dann wirft sie mir den Stoff zu und ich wickle mich hinein.
„In der alten Mühle.“ Sie schenkt mir ein breites Lächeln. „Mein Vater hat dich im Schnee gefunden, erinnerst du dich noch an etwas?“
Ich nicke und steige in ihre Geschichte mit ein. „Ich wurde von einem Luchs überrascht.“
„Da hast du aber Glück gehabt, dass du noch lebst“, wirft der Alte mit einem kehligen Lachen ein.
„War da kein Wolf?“ Will die Rothaarige nun wissen, ihre grünbraunen Augen mustern mich ungeniert. Der steht direkt vor dir.
„Nein“, lüge ich. „Ansonsten hätte ich wohl wirklich alt ausgesehen.“
Sie legt den Kopf schief und in ihren Augen funkelt etwas auf, das ich nicht zu deuten vermag. „Wie fühlst du dich jetzt?“
„Gut, danke für die Rettung, aber ich würde jetzt wirklich gerne gehen.“
Der Mann tritt zu mir und schlägt mir freundschaftlich auf die Schulter. „Du kannst ruhig die Nacht hierbleiben, nachts ist es gefährlich draußen.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, verlässt er das Zimmer. „Sabrina wird dir alles zeigen.“
Sabrina?
„Das bin ich“, erklärt die rothaarige Schönheit, als sie meinen fragenden Blick bemerkt. Sie streicht sich eine Strähne hinters Ohr. „Und wie ist dein Name?“
„Ich werde jetzt gehen“, entgegne ich und werfe ihr die Decke entgegen. Sie fängt sie auf und sieht mich entsetzt an. Ihr Blick wandert ungeniert über meinen nackten Körper, dieses Mal wendet sie sich nicht ab. „Aber du bist verletzt!“
Ich zucke gleichgültig mit den Achseln. Ich kann die Wunde immer noch fühlen, sie verströmt einen leichten Schmerz durch meinen Körper. Aber sie ist nicht mehr tief genug, um mir wirklich gefährlich zu werden. „Wo sind meine Klamotten?“
„Vor dem Kamin, wir haben uns erlaubt sie zu waschen, sie war völlig blutig, aber wirklich rausbekommen haben wir die Flecken leider nicht.“ Sie sieht mich entschuldigend an.
„Wir mussten dich entkleiden, um uns deine Wunden anzusehen, ich hoffe das macht dir nichts aus.“
Ich schnaube. Nicht im geringsten.
„Danke“, murmle ich, ohne ihr wirklich zu antworten und trete in den Flur. Links und rechts gehen zwei weitere Türen ab und am Ende des Ganges entdecke ich eine schmale Treppe. Ich folge dem Geruch des Holzes und der Asche und trete die Stufen hinab.
„Warte!“, ruft mir die Rothaarige nach. „Du kannst doch nicht einfach gehen. Vor allem nicht in dem Aufzug.“
Ich werfe einen Blick über meine Schulter. „Wieso, gefällt dir denn nicht, was du siehst?“
Sie schluckt kurz, fängt sich dann aber gleich wieder. „Doch, doch. Ganz nett, aber definitiv noch Luft nach oben.“ Sie zuckt abwertend mit den Schultern.
Also gefalle ich ihr.
Ich zwinkere ihr wortlos zu und trete die letzten Stufen hinab. Vor mir erstreckt sich ein großer Raum, der eher schlicht und rustikal gehalten ist. Ein paar Regale und Schränke an der weißen Wand. In der einen Ecke befindet sich ein großer Holztisch mit einer Eckbank und drei weiteren Stühlen darum. Auf der anderen Seite steht ein Kamin, in dem ein helles, wärmendes Feuer brennt. Ich gehe drauf zu und ziehe die Kleidung von dem Wäscheständer, der sich vor dem Kamin befindet. Die Klamotten sind noch klamm. Ich steige in die schwarze Boxershort, sie klebt feucht an meiner Haut und jagt mir einen Schauer über den Rücken. Und andere Stellen.
Die Hose und das Hemd fühlen sich auch nicht besser an.
Sabrina steht auf der untersten Treppenstufe und sieht mir dabei zu wie ich mich wieder vollständig ankleide. „Sei doch vernünftig. Wenn du so da raus gehst, dann überlebst du das sicher nicht.“
„Ich bin stärker als ich aussehe“, gebe ich knapp zurück und schlüpfe in meinen Mantel. „Danke für alles.“
Noch ehe sie etwas erwidern kann, trete ich aus der Tür, die sich direkt neben der Treppe befindet. Glücklicherweise habe ich recht mit meiner Vermutung und sie führt nach draußen.
Ich werfe noch einen Blick auf Sabrina, die mit der Schulter zuckt. „Bitte, dann bring dich halt um.“
Sie verzieht ihre unverschämt sinnlichen Lippen zu einem frechen Grinsen. Ich nicke ihr zu und drehe mich dann um. Ich fühle ihren Blick auf mir kleben, der mit Sicherheit meinem Allerwertesten gilt. Ich wackle auffällig in ihre Richtung, höre dann hinter mir die Tür ins Schloss fallen.
Diese Frau ist wirklich interessant, aber ich habe schon viel zu viel Zeit mit ihr verplempert, ich muss mich leider um wichtigere Dinge kümmern.
Ich ziehe mein Handy aus der Manteltasche, das zu meiner Erleichterung nicht verloren gegangen ist – oder etwa mitgewaschen wurde. Dann wähle ich Dantes Nummer. Bereits nach kurzem Tuten, meldet er sich.
„Felan, was kann ich für dich tun?“
„Wir müssen uns treffen. Alle.“
„Worum geht es?“ Dantes Stimme klingt besorgt.
„Das weiß ich selbst noch nicht genau. Es geht um Talib.“
Im Hintergrund höre ich Leana lachen. „Gut, wir treffen uns morgen Vormittag, selber Treffpunkt wie immer.“
„Zehn Uhr?“
„Ja. Ich bringe Leana mit, gibst du den Anderen Bescheid?“
„Selbstverständlich“, raune ich in das Telefon und beende damit das Gespräch.
Dann tippe ich eine Nachricht an Tarun, Aiden, Candra und natürlich auch an Talib.
Normalerweise würde ich Aiden und Candra persönlich davon in Kenntnis setzen, da wir ja sowieso zusammen leben, aber so spät wie es ist, sollte ich mir doch besser eine Pension suchen. Nur für heute Nacht.