Nayara
Nachdem wir fertig gegessen hatten, sitzen wir noch eine Weile zusammen am Tisch. Die Anderen reden über Menschen, die ich nicht kenne oder lachen über gemeinsame Erlebnisse aus der Vergangenheit.
„Und dann habe ich mir das Bein gebrochen. Es war nicht so schlimm, aber Dante war so besorgt, dass er mich die ganze Zeit herumgetragen hat.“ Leana sieht zu ihm auf, ihre Augen glitzern liebevoll, als Dante sie noch näher an sich zieht und sich ihre Nasenspitzen berühren.
„Ich habe mir Sorgen gemacht“, verteidigt er sich. „Ich bin froh, dass es dir wieder gut geht.“
Talib verdreht die Augen. „Es war nur ein gebrochener Knochen. Außerdem sind wir Wölfe, wir heilen viel schneller als Menschen.“
Dante schaut Leana so verliebt an, dass ich meinen Blick nicht von ihnen abwenden kann.
„Wenn du auch erst einmal so tiefe Liebe einer Frau gegenüber verspürst, dann wirst du mich verstehen.“
Die rothaarige Frau in seinen Armen lacht auf und drückt ihm einen Kuss auf die Wange.
Unauffällig sehe ich zu Talib herüber, der nur grinsend den Kopf schüttelt.
„Vielleicht ist es besser, wenn ich mich niemals verlieben würde. Wenn das nämlich bedeutet, dass ich genauso kitschigen Mist von mir gebe wie du, kann ich gut darauf verzichten.“
War ja klar, dass er das so sieht.
Ich schnaube verächtlich. Doch ehe ich etwas sagen kann, erhebt sich Leana von Dantes Schoß.
„Wie wärs, wollen wir gemeinsam die Kleidung durchsehen?“
Verwirrt blinzle ich zu ihr auf.
Alles ist besser, als mir weiter Talibs unromantisches Gemecker anzuhören.
„Gerne.“
Sie breitet die Klamotten über dem Bett aus. So viele bunte Stoffe, seidig weich und schön dick, perfekt um dem Winter zu trotzen, verteilen sich auf der Matratze. Glücklicherweise befindet sich auch Unterwäsche darunter, die ich sofort vor den Männeraugen verstecke. Und eine kleine Auswahl an Schuhen. Welche mit hohem Absatz, bunte Turnschuhe und schwarze Stiefel, an deren Rand kleine Schleifen befestigt wurden. Ich muss mich wirklich zusammenreißen, Leana nicht um den Hals zu fallen. „Danke nochmal.“
Leana legt ihre Hand auf meine Schulter und drückt sie, während ich ein rotes Kleid kritisch prüfe.
Es ist nicht ganz so kurz, wie das, dass mir Priscilla gegeben hatte, aber der Ausschnitt ist sehr gewagt.
„Ich dachte mir, es würde sich für ein Date mit Talib lohnen“, erklärt sich Leana, als sie meinen Blick bemerkt. Sofort spüre ich, wie die Röte meinen Hals hinauf kriecht. „Ich weiß nicht, ob ich sowas überhaupt tragen kann.“
Leana kichert freudig auf, wie ein kleines Mädchen. „So wie ich Talib kenne, würden ihm die Augen rausfallen.“
Ich spüre wie die Hitze auf meinen Wangen sich verdoppelt. Ich kaue auf meiner Unterlippe, zwinge mich dann zu einem Lächeln. „Mir ist egal, ob ich ihm gefalle. Ich bin nur einfach nicht so der Kleider-Typ.“
Leana zwinkert mir zu und mir wird sofort klar, dass sie niemals so blöd sein würde, mir so eine offensichtliche Lüge abzukaufen. „Ich verstehe.“ Sie schürzt die Lippen und spielt mit. „Aber vielleicht bietet sich ja doch einmal die Chance es zu tragen, man kann ja nie wissen.“
Ich fahre mit den Fingern über den seidigen Stoff und lege es auf den Berg Klamotten, für die wir später noch einen geigneten Platz in Taruns Schrank finden müssen.
„Es kann ja nicht schaden“, meine ich dann und werfe einen kurzen Blick zu Talib herüber, der sich mit Dante unterhält.
Leana räuspert sich und reißt mich zurück ins Hier und Jetzt. Augenblicklich hoffe ich, dass sie meinen Blick nicht bemerkt hat.
„Ich weiß, dass es dir schwer fällt, so schnell jemandem zu vertrauen, aber ich fände es schön, wenn wir Freundinnen werden könnten.“
„Freundinnen?“ Mein Herzschlag beschleunigt sich etwas. „Das wäre schön“, beschließe ich dann. Sie hat Recht, ich kann meine Zweifel nicht so einfach abstreifen, aber Leana ist wirklich nett, was schadet es also, es zu versuchen?
Das Lächeln der Rothaarigen wird noch freundlicher. „Schön.“
Wir unterhalten uns noch ein wenig, dann stößt Dante dazu und zieht Leana an sich, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken.
„Na ihr, ich hoffe, ich störe nicht, aber ich hatte solche Sehnsucht.“ Leanas Wangen schimmern rosig und ihre Augen funkeln.
Sie ist wirklich wunderschön.
„Ich ziehe mir schnell etwas Frisches an.“ Ich fühle mich plötzlich so fehl am Platz, dass ich schnell nach den erstbesten Klamotten greife und flüchte.
„Jetzt hast du sie verscheucht“, höre ich Leana noch sagen, doch Dante unterbricht sie.
„Shhhh, das ist doch jetzt ganz egal.“ Als ich sie nicht mehr reden höre, gehe ich davon aus, dass sie ihre Münder für andere Dinge nutzen.
Ich ziehe mich schnell im Badezimmer zurück und schlüpfe in das schwarze Kleid, mit einem breiten, weißen Streifen, der senkrecht herunterläuft. So sehr ich mich auch anstrenge, ich kriege den Reißverschluss nicht bis nach ganz oben gezogen und gebe auf.
Leana wird mir bestimmt gleich damit helfen.
Dann streife ich mir noch schnell ein paar dicke, schwarze Strumpfhosen über die Beine und schlüpfe in die hohen Stiefel, die mir gleich als erstes aufgefallen waren. Ich betrachte mich kurz im Spiegel und streiche dann mein langes Haar nach hinten, bemerke, dass durch den offenen Schlitz mein nicht vorhandener BH auffällt.
Als ich zurück zu den Anderen komme, sind Leana und Dante immer noch mit Turteln beschäftigt und ich möchte sie ungern stören.
Talib lehnt mittlerweile am Esstisch, sein Blick klebt an mir. Er ist so intensiv, dass es mir einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Ich versuche meine Nervosität runterzuschlucken und stelle mich ihm gegenüber.
„Steht dir gut“, bemerkt er knapp, doch seine Augen sprechen Bände. Ich versuche es zu ignorieren und drehe mich zu ihm um. „Wärst du so nett?“ Ich lege mir die weißen Haare über die Schulter und entblöße meinen halbnackten Rücken. „Ich komm nicht ganz an den Reißverschluss.“
Ich versuche ruhig zu bleiben, aber als ich Talibs Hand auf meiner nackten Haut spüre, wird mir etwas schwindelig. Sofort breitet sich eine Gänsehaut über meinem Rücken aus.
„Danke“, flüstere ich mit kratziger Stimme und drehe mich schnell wieder um. Er lächelt, aber seine Augen sind völlig ausdruckslos.
„Was machen wir nun?“, frage ich, um ihn abzulenken, doch das ist gar nicht nötig, denn er starrt gebannt rüber zu Leana und Dante. Dann räuspert er sich so laut, dass die Beiden aufhören sich zu küssen und uns verlegen ansehen.
„Ich hab ganz vergessen, wo wir sind“, meint Leana und streicht sich eine lange Strähne hinters Ohr. Auch Dante wuschelt sich durchs lockige Haar.
„Wolltest du nicht house of wax gucken?“, richtet sich Talib so plötzlich an mich, dass ich keine Antwort darauf rausbekomme. Dante ist sofort begeistert. „Klingt gut.“
Doch seine Freundin schlingt ihren Arm um seinen. „Aber wir hatten doch noch etwas vor, wir sollten besser gleich los.“
Dante scheint sichtlich verwirrt und wirft ihr einen fragenden Blick zu. „Wovon redest du denn, Schatz?“ Leana beugt sich zu ihm herüber und flüstert ihm etwas ins Ohr, das ich trotz meiner geschärften Sinne nur sehr leise vernehme.
„Wenn du da weitermachen willst, wo wir gerade unterbrochen wurden, dann sollten wir jetzt gehen.“
„Achja, richtig! Das habe ich fast vergessen.“ Dante kann es plötzlich gar nicht mehr erwarten, zu gehen. „Wir müssen noch...“ Panisch sucht er nach einer passenden Erklärung. „Dinge erledigen“, verkündet er dann, scheint aber selbst nicht zu bemerken, wie seltsam sich das anhört. Leana lacht auf und schiebt ihn zur Tür. Ich laufe ihnen nach, um mich zu verabschieden.
„Viel Spaß euch beiden.“ Sie starrt verschwörerisch zu dem Mann an ihrer Seite, schlüpft dann in ihren Mantel und hakt sich bei Dante ein, der sich ebenfalls seine Winterjacke übergezogen hat. „Bis dann.“
Ich schiele unauffällig zu Talib rüber, unsere Blicke treffen sich und mein Herz zieht sich erschrocken zusammen. Er kommt betont langsam auf uns zu, bleibt neben mir stehen und obwohl wir uns nicht berühren, kann ich ihn spüren.
Dante schüttelt mir die Hand zum Abschied, er fühlt sich etwas verkrampft dabei an. Leana hingegen zieht mich in einer raschen Umarmung an sich, winkt Talib dann aber nur kurz zu. „Los jetzt“, drängelt sie ihren Freund und schon sind sie aus der Tür verschwunden.
Verunsichert schaue ich zu Talib herüber, der mir ein warmes Lächeln schenkt. „Sollen wir uns den Film ansehen oder hast du keine Lust mehr?“
„Doch.“ Ich folge ihm zum Sofa und beobachte ihn dabei, wie er den Fernseher einschaltet und die DVD einlegt. Er lässt sich neben mich auf die Couch fallen und rückt etwas näher. Beiläufig berührt seine Schulter meine und ich empfinde ein warmes Gefühl in meinem Inneren, das wellenartig durch meinen Körper fährt.
Wir waren vorher zwar auch schon die ganze Zeit allein, aber dadurch, dass Leana und Dante uns so lange Gesellschaft geleistet haben, bin ich nun irgendwie nervös.
„Gruselst du dich jetzt schon?“ Er stupst mich neckend an und bei der Berührung lodert die Hitze in mir auf. Ich blinzle verunsichert.
„Ein Bisschen“, gestehe ich, doch es ist anders als er denkt. Der Film lässt mich kalt, aber Talib tut es nicht. Ich fürchte mich davor, nun so nah bei ihm zu sitzen. Alleine mit ihm zu sein. Und davor, was aus uns werden könnte.
Er umschlingt meine Hand mit seiner und legt sie auf mein Knie, streicht sanft über meinen Handrücken. „Ich bin doch bei dir.“
Genau das ist es ja!
Ich schlucke fest, verteufele mich selbst dafür, diesen verletzlichen Gedanken ausgesprochen zu haben, denn nun scheint meine Hand in Flammen zu stehen und ich hoffe sehr, dass er es nicht bemerkt.
„Du darfst dich auch bei mir ankuscheln, wenn du zu verängstigt bist“, scherzt er und startet den Film.
„Du dich auch bei mir“, kontere ich, ohne über meine Worte nachzudenken.
Ich wollte es ihm eigentlich nur heimzahlen, doch jetzt befürchte ich, dass er wirklich darauf eingeht.
Als Antwort bekomme ich nur ein belustigtes Schnauben. „Danke für das Angebot.“
Ich versuche mich auf den Fernseher zu konzentrieren, doch die panischen Schreie und gruseligen Szenen ziehen nur so an mir vorbei, ohne mich wirklich zu erreichen. Talib ist nach einer Weile noch näher zu mir gerutscht, so dass ich Probleme damit habe, ruhig zu atmen.
Wieso verunsichert er mich plötzlich so? Zwischen uns hat sich doch nichts geändert.
Ich starre stur auf die Mattscheibe und ermahne mich, ihn bloß nicht anzugucken. Nicht einmal für eine Sekunde. Doch dann legt er behutsam seinen Arm um meine Schulter und die Berührung lässt mich zusammenzucken, so sehr dass er mich eng an sich drückt. Mit der freien Hand fährt er mir beruhigend durchs Haar. „Es ist nur ein Film.“
Erst jetzt wird mir klar, dass er denkt, ich würde mich vor dem Mörder fürchten, der sich seiner Opfer auf grausame Weise entledigt. Und obwohl mein Verstand zu toben scheint, drücke ich mich noch enger an ihn, lege meinen Kopf auf seine Brust und lausche seinem Herzschlag.
Ich erwarte, dass er so etwas sagt wie, „Ich wusste doch, dass du Angst bekommst“, aber er tut es nicht. Er hält mich einfach nur fest und streicht mir so sanft über den Kopf, dass ich am liebsten die Augen schließen und den Moment anhalten würde.
Was mache ich da nur?
In mir drinnen wütet ein Kampf zwischen meinem Kopf, der das Ganze für entsetzlich falsch hält und meinem Herzen, das sich dem Rhythmus von Talibs Herzschlag anzupassen scheint.
„Soll ich den Film lieber ausschalten?“
Als ich nicht antworte, schiebt er mich ein Stück zurück, um mir ins Gesicht sehen zu können. Ich blinzle verwirrt nach oben, versuche all die Gefühle und Gedanken aus meinem Blick zu verbannen.
Was würde er sagen, wenn er jetzt in mein Innerstes sehen könnte?
„Hey, hast du wirklich so viel Angst? Tut mir leid, ich hätte das vorher bemerken müssen.“ Mit bebenden Fingern streicht er mir die Haare aus dem Gesicht und ich bin wirklich froh, dass es mittlerweile so dunkel geworden ist, sodass er die wirren Gefühle in meinem Gesicht nicht sehen kann. Hoffentlich. Er greift nach der Fernbedienung und schaltet den Fernseher aus, löscht somit die einzige Lichtquelle. Nun ist es stockdunkel um uns herum.
„Ich“, setze ich an, jedoch fallen mir keine passenden Worte ein.
„Ich mache nur schnell das Licht an.“ Talib drückt mich vorsichtig von sich, um aufstehen zu können. Als er den Arm von meiner Schulter nimmt, greife ich schnell danach und halte ihn zurück. „Ich bin gleich wieder da“, versichert er mir.
Für diese eine Sekunde werfe ich all meine Bedenken über Bord und ignoriere die schreiende Stimme in meinem Kopf. Ich ziehe ihn zurück aufs Sofa, sodass er halb auf mir liegt, umfasse seinen Nacken und presse meinen Mund auf seinen, hauche ihm einen einzigen, kurzen Kuss auf. Er ist weder leidenschaftlich, noch irgendwie romantisch. Meine Lippen treffen auf seine. Hart.
Kann man das überhaupt einen Kuss nennen?
Mein Herz rast so schnell und laut, füllt die Stille aus, die sich urplötzlich zwischen uns gelegt hat. Obwohl ich erwarte, dass Talib meinen Kuss erwidert, rührt er sich nicht. Kein Wort dringt aus seinem Mund.
Verdammt, was habe ich mir nur dabei gedacht?
„Tut mir leid“, presse ich hervor.
Was gäbe ich nur dafür, wenn ich jetzt sein Gesicht sehen könnte. „Ich wollte nur...“
Ja, was wollte ich eigentlich?
„Nur mal testen, wie es sich anfühlt.“
Talib schiebt sich von mir weg und steht auf. Ich höre seine Schritte durch den Raum gehen.
„Und, wie hat es sich angefühlt?“, höre ich seine Stimme sagen, aus der jegliche Emotion verschwunden ist. Dann wird es plötzlich hell und ich schließe die Augen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen.
„Gut“, lüge ich viel zu schnell und mir ist bewusst, wie dämlich das klingt. Er war schließlich dabei und hat genauso sehr gespürt, wie katastrophal es war. „Und...und für dich?“
Wo kommt denn die Frage auf einmal her?
Mein Kopf ist in völliger Aufruhr.
„Gut“, gibt er lächelnd zurück, doch seine Augen lächeln nicht mit.
„Schön, dass wir das geklärt haben. Können wir jetzt so tun, als sei nie etwas gewesen?“
Talib schnaubt und obwohl ich erst ein spöttischen Kommentar erwarte, nickt er nur zustimmend. „Was soll denn gewesen sein?“, gibt er die Frage zurück und strafft die Schultern.
Ich schenke ihm ein dankbares Lächeln, möchte aber viel lieber schreien.
Nachdem Talib sich mir gegenüber wieder normal verhält, fühle ich mich nicht weiter schuldig für mein Verhalten. Was ist schon groß passiert?
Lüge.
Ich versuche mich zu entspannen, was mir aber kaum gelingt.
„Wir werden das noch häufiger tun, wenn wir uns wirklich ineinander verlieben sollten.“
Er hat recht, aber wieso fühlt es sich so seltsam an?
„Da ist doch nichts groß dabei“, fährt er fort als von mir keine äußerliche Reaktion kommt.
Nichts dabei? Und ob! Ich will mich nicht verlieben, nur weil ich es muss. Ich will ihn nicht küssen, nur um so zu tun als ob. Das ist doch echt beknackt!
Aber...in diesem einen Moment eben, da wollte ich es. Ich wollte es so sehr, dass ich es einfach getan habe. Und dennoch hat es sich so merkwürdig angefühlt. Was soll ich nur machen?
„Soll ich dich Nachhause bringen?“ Talib scheint meine Stille falsch zu deuten. Ich werfe ihm einen irritieren Blick zu. „Ich würde gerne noch etwas bleiben“, flüstere ich mehr an mich gerichtet als an ihn. Talib lässt sich wieder direkt neben mich auf die Couch plumpsen, er ist mir genauso nah wie zuvor, doch irgendwas ist anders. Mein Herz verkrampft sich.
Talib reibt nervös mit den Händen über seine Beine. „Du kannst so lange bleiben wie du willst. Ich würde mich sogar freuen, wenn du wieder bei mir wohnen würdest und nicht bei meinem Bruder.“
Ich ringe mit mir selbst, ein unsichtbarer Kampf zwischen Herz und Kopf. Da meine Gedanken wie ein mächtiger Wirbelwind einfach nur so umher fliegen, kann ich keine wirkliche Entscheidung treffen. „Wie gesagt, lass dir so viel Zeit wie du brauchst, es war nur ein Angebot.“
Ich konzentriere mich auf meine Atmung und auf das Kribbeln in meinem Bauch. Es ist nur schwach, aber es ist da.
„Okay“, erwidere ich dann mit brüchiger Stimme.
„Okay?“, wiederholt Talib und fährt sich mit den Fingern durch sein dunkles Haar, hebt fragend eine Augenbraue.
„Ich würde gerne wieder bei dir wohnen.“
Bin ich eigentlich verrückt geworden?
Mein Herz hüpft wie wild gegen meinen Brustkorb. „Wir sollten mehr Zeit miteinander verbringen, um das hier...“, ich deute zwischen uns beiden hin und her, „...hinter uns zu bringen.“
Talib presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, nickt. „Außerdem sollte ich Tarun und Kenneth nicht weiter stören, das ist das Beste für uns alle.“
All diese Ausreden schießen aus meinem Mund und das Schlimmste daran ist, dass ich damit nicht nur ihn belüge, sondern auch zum großen Teil mich selbst.
Wieso kann ich einfach nicht zugeben, dass ich mich bei ihm wohlfühle?
„Dann werde ich dir mal das Bett frisch überziehen.“ Talib steht so ruckartig auf, dass ich verwirrt zu ihm aufschaue. Doch er scheint es gar nicht erst zu bemerken und läuft schon hinter die Trennwand. „Talib!“, rufe ich ihm nach. Folge ihm. „Du solltest weiter das Bett nutzen, mir reicht das Sofa.“
„Für wen hältst du mich? Es stört mich nicht, dir das Bett zu überlassen.“ Er fängt an, den Bettbezug von der Matratze zu ziehen. „Ich benehme mich zwar nicht immer wie einer, aber ich bin ein Gentleman.“
„Ich will das Bett nicht!“
Talib hält in der Bewegung inne. „Willst du dich nun wirklich darum streiten?“
Nein!
„Ja!“
Er verzieht seine Lippen zu einem schiefen Grinsen. „Wir können uns das Bett auch teilen.“
Was?
„Sicher nicht!“ Ich spüre wie mir das Herz bis zum Hals schlägt. Als ich selbst bemerke, wie lächerlich ich mich mache, setze ich ein „es bietet gar nicht genug Platz für mich und dein riesiges Ego„ hinterher.
Talibs graublaue Augen funkeln belustigt auf. „Nicht nur mein Ego ist riesig.“
Klang seine Stimme schon immer so tief und kratzig?
„Das hättest du wohl gerne.“
„Mhm, willst du nachsehen?“ Er macht einen Schritt auf mich zu, automatisch bleibt mein Blick auf seinen Schritt gerichtet. Ich räuspere mich, brauche jegliche Selbstbeherrschung um ihm wieder in die Augen zu sehen.
„Tut mir leid, habe meine Lupe Zuhause vergessen.“
Sein dunkles, herzliches Lachen lässt mich kurz zusammenzucken.
„Oh Baby, glaub mir, der hier ist nicht zu übersehen.“ Provokant schiebt er die Hüfte nach vorn. „Aber ich werte das als ein Nein.“
Ich schlucke, suche nach den richtigen Worten. Zu lange.
„Sei einfach ein braves Mädchen und lass mich auf dem Sofa schlafen,okay?“
Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu, senke aber ergeben die Schultern. „Wie du willst.“
Eigentlich sollte ich ihm dankbar sein, doch sein letztes Kommentar hat mich komplett aus der Bahn geworfen. Alles an das ich gerade denken kann ist...
„Bist du dir auch wirklich sicher, dass du bei mir bleiben willst?“ Talib scheint aufgefallen zu sein, wie sehr ich neben mir stehe.
Ja. Nein. Ich weiß nicht.
„Tut mir leid, ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist“, murmle ich leise. „Ich halte es für eine wirklich gute Idee, hierzubleiben“, bestätige ich mehr mir als ihm. Talib lächelt und seine graublauen Augen strahlen pure Freude aus. „Das macht mich sehr glücklich.“
Seine Stimme klingt so ehrlich, verleiht mir eine Gänsehaut.
Was davon ist echt? Und was ist gespielt? Mag er mich wirklich?
„Wobei ich den Kuss schon nicht schlecht fand.“ Er piekst mir mit dem Finger in die Seite und ich zucke zusammen. „Nur etwas zu kurz.“
Dieser blöde Arsch!
Ich greife mir das Kissen vom Bett und wedle damit vor seinem Gesicht. „Machst du dich etwa lustig über mich?“
„Ja“, gesteht er trocken und das Kissen landet in seinem Gesicht. Wieder und wieder haue ich ihn damit bis er abwehrend die Hände hebt. Das laute Lachen treibt mir die Luft aus den Lungen und wie es scheint auch ihm. „Ich gebe auf!“
„Das solltest du auch. Die Macht der Kissen-Königin ist nämlich nicht zu unterschätzen!“ Ich verschränke die Arme spielerisch vor der Brust.
„Achja? Was kann die Kissen-Königin denn noch so?“ Talib schubst mich auf die Matratze und lehnt sich über mich. Sein feuchter Atem streift meine Haut. Ich hebe die Hände abwehrend vor mein Gesicht. Er drückt sie mit nur einer Hand über meinem Kopf auf das Bett. Mein Herz überschlägt sich und in meinem Kopf steigt leichter Schwindel auf. „Was tust du denn da?“
Wieder tauchen ungewollte Bilder eines nackten Talibs in meinem Kopf auf, der mir nur mal eben beweisen will, dass er weitaus größere Dinge als sein Ego zu bieten hat.
Mit der freien Hand schlägt er mir das Kissen ins Gesicht, lenkt so von meinen unanständigen Gedanken ab. „Ich beweise dir, wer der wahre König ist, du Hochstaplerin!“
Fast schon erleichtert atme ich aus, als er sich lachend von mir runterrollt und neben mir liegen bleibt. Ich nehme das Kissen von meinem Gesicht und werfe es sicherheitshalber in eine andere Ecke des Raums.
„Waffenstillstand?“, biete ich an, überlege mir aber zeitgleich, mit was ich mich verteidigen kann, falls er doch noch nicht aufgibt. „Einverstanden.“
Ich lege meine Arme auf meinen Bauch und schaue zur Decke. Talib legt seine Hand auf meine und streicht sanft darüber. Ich verwebe meine Finger mit seinen.
„Ich bin wirklich gerne mit dir zusammen“, gesteht er. Und ein wohlig warmer Schauer überschwemmt mich von innen heraus.
Ich auch mit dir.
***
Am nächsten Morgen werde ich von den warmen Sonnenstrahlen geweckt, die durch das Fenster fallen und angenehm auf meiner Haut prickeln. Dazu mischt sich ein verwöhnender Duft von frischem Kaffee. Ich schlage die Bettdecke über meinen Beinen hinweg und recke mich gähnend.
Als ich in die Küche komme, bereitet Talib gerade das Frühstück zu.
Es riecht köstlich.
„Oh, habe ich dich geweckt?“, begrüßt er mich.
„Nein, ich bin von allein aufgewacht.“ Als ich versuche ihm ein Croissant vom Teller zu klauen, haut er mir sanft auf die Finger. „Erst wenn alles fertig ist.“ Ich ziehe einen Schmollmund und stecke mir schnell ein Stück in den Mund, als er nicht hinsieht.
„Hast du gut geschlafen?“, will er als nächstes wissen und trägt dabei die gerichteten Teller zum Esstisch. „Habe ich“, antworte ich mit vollem Mund. „Was ist mit dir?“
Er wirft mir einen tadelnden Blick zu, doch seine Lippen verziehen sich zu einem Grinsen.
„Nun, ich hätte besser in meinem bequemen Bett geschlafen“, neckt er mich, doch ich gehe nicht darauf ein. „Selbst schuld.“
Talib lächelt zufrieden als er mir den Teller zuschiebt. Croissants, den restlichen Speck vom gestrigen Abend, Vanillequark mit Wildbeeren und das allerbeste: dampfend heißer Kaffee. Schwarz, so wie ich ihn mag.
„Lass es dir schmecken“, murmelt er mit vollem Mund und ich kann nicht anders als zu lachen. Ich tunke mein süßes Hörnchen in den Quark und beiße ein Stück ab.
Lecker.
„Du machst das falsch“, meldet sich Talib zu Wort. Dann nimmt er demonstrierend sein Croissant und tunkt es in den Kaffee. Die untere Hälfte des Gebäcks hat sich mit der schwarzen Brühe vollgesaugt und winzige Krümel fallen nun in seine Tasse. Talib nimmt einen großen Bissen. „Mhhhm.“
Ich rümpfe die Nase. „Ich bevorzuge meine Weise.“
Talib schluckt die Reste seines Essens herunter und grinst dann. „Hast du es überhaupt schon mal ausprobiert?“
„Nein, das muss ich auch nicht, um zu wissen, dass ich meinen Kaffee lieber ohne Beilage will.“
Talib schüttelt den Kopf. „Frauen, die wissen echt nicht, was gut ist.“
„So wie du?“, entgegne ich spöttisch.
So könnte jeder Tag beginnen.
Ich nehme noch einen großen Schluck aus meiner Tasse, als ein leises Klopfen an der Tür meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Ob das wohl Tarun ist? Wobei wir ihn gestern Abend extra angerufen haben, um ihm Bescheid zu geben, dass ich hier bleiben würde. Immerhin soll er sich keine Sorgen machen. Vielleicht will er nur mal nach dem Rechten sehen?
Talib streift sich die Hände an seinem Shirt ab und steht auf, um die Tür zu öffnen. Es klopft erneut.
„Komme!“, ruft er schmatzend. Ich trinke den letzten Schluck meines Kaffees, lasse ihn aber nicht aus den Augen.
Und als ich sehe, wer da vor Talib steht, verschlucke ich mich fast. Das rotbraune Haar und dieser prägnante Geruch, der eine Erinnerung in meinem Herzen erweckt.
Ich springe auf und dabei fällt der Stuhl zu Boden. „Faye?“
Faye, das Schicksal.
Er will an Talib vorbei, doch dieser versperrt ihm den Weg. Ich renne auf die Tür zu und dränge Talib ein Stück zurück, damit er Platz macht. „Faye, bist du es wirklich?“
Ich kann das Schluchzen nicht unterdrücken. „Ja, ich bin es, Nives.“
Überglücklich schlinge ich meine Arme um seinen Hals und ziehe ihn in eine überschwängliche Umarmung, sauge den vertrauten Duft seiner Haut in mich auf. Er riecht nach Tannenzapfen, frisch gefallenem Schnee und nach ihm selbst.
Faye, mein alter Freund Faye!
„Was machst du hier?“, presse ich mit bebender Stimme hervor, drücke mich lange genug von ihm, um ihn ansehen zu können. Rotbraune Locken und ein mittellanger Bart. Auf seiner Nase und den Wangen sammeln sich winzige Sommersprossen und seine wunderschönen goldbraunen Augen hat er gegen ein schlichtes graugrün eingetauscht.
Als ich ihn erneut an mich drücken will, reißt mich Talib an meinem Arm zurück und schiebt sich zwischen uns.
„Wer bist du?“, raunt es aus seiner Kehle, seine Muskeln sind bis zum Zerreißen angespannt.
„Talib, er ist...“ Ich lege meine Hand auf seinen Unterarm, versuche ihm zu erklären, wer da vor ihm steht. Da bemerke ich, wie sich Talibs Augen verändern. Das eine Auge erstrahlt in einem strahlenden, hellen grün und das andere weicht einem frischen Meeresblau.
Was geht hier vor sich?
„...ein Wolf?“, beendet er dann meinen Satz. „Ich weiß, ich kann es riechen.“
„Talib, jetzt mach mal halblang! Er ist mein Freund!“ Ich befreie mein Handgelenk aus seinem Griff und drücke ihn noch weiter nach hinten, um den Abstand zwischen den beiden Männern zu vergrößern.
„Dein Freund?“ Talibs Stimme klingt wie das Knurren eines Wolfes.
„Geh weg von ihm, Nives! Er verwandelt sich.“ Fayes Hände schlingen sich von hinten um meine Taille und er zieht mich von Talib weg. Dieser hält mich allerdings erneut am Arm fest und verhindert so, dass Faye mich an sich reißt. „Das reicht!“, fauche ich und schlagartig lassen mich beide los. „Ihr benehmt euch wie kleine Kinder!“
Talibs Augen weiten sich vor Überraschung, der so gewohnte blaue Glanz kehrt zurück, lässt die glühenden Wolfsaugen erlöschen.
Schuldbewusst öffnen beide ihren Mund, um etwas zu sagen, doch ich halte die Hände nach oben. „Nein! Jetzt rede ich und ihr werdet mir zuhören!“
Ich deute auf die Sitzecke. „Hinsetzen“, fordere ich mit strenger Stimme. Das Blut in meinen Adern scheint zu kochen, es pulsiert unter mir und ich kann die Wut einfach nicht unterdrücken. Zornig schlage ich die Tür hinter Faye zu und folge ihnen. Während sich die beiden Männer gegenüber setzen und sich finstere Blicke zuwerfen, lasse ich mich auf den Stuhl in der Mitte sinken.
„Talib.“ Als ich ihn beim Namen nenne, zuckt sein Blick nur kurz zu mir herüber, hält ihn dann aber doch weiter auf Faye gerichtet, der ebenso eisern dreinschaut.
Talibs Augen sind wieder normal. Also war er nur kurz davor sich in einen Wolf zu verwandeln und er hält es nun unter Kontrolle?
„Faye ist ein alter Freund, wir sind zusammen aufgewachsen“, erkläre ich angespannt. „Von ihm geht keine Gefahr aus.“
Talibs Lippen zucken nach unten. „Das sehen wir ja noch“, raunt er mit tiefer Stimme. Ich seufze, ignoriere seinen Einwand einfach. „Faye, wieso bist du in der Gestalt eines Menschen?“
Als seine moosfarbenen Augen meine finden, leuchten sie freundlich auf. „Ich habe die Ältesten gebeten, mich zu verwandeln, damit ich dich auf deiner Reise begleiten kann.“
„Du hast was?“ Meine Stimme überschlägt sich und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. „Wieso?“
Fayes Blick strahlt noch immer diese Wärme und Freundlichkeit aus. „Nives, es ist mein Schicksal dich zu retten.“
Er nennt mich bei meinem alten Namen, als sei ich noch immer eine Wölfin.
„Nein, Faye. Du bist derjenige, dessen Schicksal dir alle Türen offen hält. Das ganze Rudel glaubte, du würdest uns eines Tages anführen.“
„Hör zu Kleines, das ist der Weg, den ich für mich gewählt habe. Ich will kein Rudel anführen, von dem du kein Teil bist.“
Nein! Was soll das heißen?
Langsam greift er nach meiner Hand und drückt sie sanft. „Es hat leider einige Zeit beansprucht, bevor sie mir meinen Wunsch gewährt haben. Aber ich habe dich nun endlich gefunden und ich werde nicht mehr von deiner Seite weichen.“
„Bist du verrückt? Geh zurück, flehe sie an, dass sie es wieder rückgängig machen!“
Aufgebracht schnappe ich nach Luft, in meinem Kopf dreht sich alles.
„Loslassen!“, knurrt Talib und springt auf. Schockiert schaue ich zwischen den beiden hin und her.
„Das ist jetzt nicht der richtige Moment für deine Spielchen!“, fauche ich den schwarzhaarigen Mann an, der seine Augen zu Schlitzen verengt.
„Loslassen!“, wiederholt er angespannt und reißt mich vom Stuhl, schiebt mich hinter seinen Rücken.
Das ist jetzt nicht sein ernst!
„Spinnst du?“, schreie ich ihn an. „Das hat nichts mit dir zu tun, halt dich da raus!“
Blitzschnell wendet sich Talib zu mir um, neigt sich herunter und sieht mir direkt in die Augen. „Das hat nichts mit mir zu tun? Du gehörst jetzt zu mir!“ Seine Stimme bereitet mir eine Gänsehaut.
„Seit wann wurde ich denn bitte zu deinem Eigentum?“ Ich fühle wie brodelnde Hitze in meinen Zehen kribbelt und sich langsam die Knöchel herauf arbeitet.
„Vielleicht sollte ich euch einen Moment alleine lassen“. Mischt sich nun Faye ein und erhebt sich vom Stuhl. „Nein, bitte bleib!“
Ich will nicht, dass er geht. Faye, mein treuster und ältester Freund.
Mein Mund fühlt sich ganz trocken an, ich schlucke. „Lass uns das später klären“, flehe ich Talib an. Doch sein finsterer Blick beißt sich in mir fest. „Nein, wir klären das hier und jetzt! Er ist also dein Freund?“
Mein Herz setzt einen Schlag aus und ich spüre wie das Brennen in meinem Inneren bereits zu meinen Hüften hinauf gekrochen ist.
„Ein Freund“, berichtige ich ihn prompt. Talib mustert mich eindringlich, leckt sich über die Lippen. Für einen Moment blitzt Etwas in seinen Augen auf, das mich hoffen lässt, er hätte sich beruhigt. Doch dem ist nicht so. Er fährt mit der Hand unter mein Kinn, hält es fest. „Sag mir, wieso du zum Menschen wurdest.“
Was? Nein! Wieso spielt das eine Rolle?
„Das geht dich nichts an!“, fauche ich aufgebracht, stoße ihn von mir. Meine Gedanken überschlagen sich, die Hitzewelle breitet sich in meiner Magengegend aus und mein Körper bricht in einem Zittern aus.
Als ich Fayes kühle Hand auf meiner Schulter spüre, sehe ich ihn verwirrt an. Ich habe gar nicht bemerkt, dass er hinter mich getreten ist.
Talibs Muskeln verkrampfen sich, seine Hände sind zu Fäusten geballt. „Ist das dein ernst? Nach allem, was du mir an den Kopf geworfen hast? Ich habe dir meine Vergangenheit offen gelegt. Ich habe mich dir anvertraut!“ Seine erzürnten Worte jagen mir wie ein Messer ins Herz. Die flutende Wärme schwebt vom Bauch hinauf zu meinem Hals, raubt mir die Luft. „Unsere Schicksale sind miteinander verbunden. Nayara, ich muss dir genauso vertrauen können, wie du mir. Sag mir die Wahrheit.“
Fayes Griff um meine Schulter wird fester. „Was meinst du damit, dass eure Schicksale miteinander verbunden sind?“
„Halt dich da raus!“, stößt Talib seine knurrende Warnung aus.
Die Beiden treiben mich noch in den Wahnsinn!
„Rede nicht so mit ihm!“, keife ich zurück.
„Aber wie er mit mir redet ist dir egal?“ Talib seufzt. „Ich versteh dich einfach nicht, wieso du dich von ihm so beeinflussen lässt.“
Beeinflussen? Was für ein Schwachsinn!
„Ich lasse mich von niemandem in die Irre führen. Weder von ihm, noch von dir!“
„Nayara?“ Wieder mischt sich Faye ein, seine Stimme klingt ernster als zuvor.
Ich beiße die Zähne fest aufeinander, streiche dann seine Hand von mir ab. „Ich erkläre dir später alles“, flüstere ich, sehe ihn entschuldigend an. Er versteht den Wink und lässt seine Hand von meiner Schulter gleiten. „Ich bin dort drüben, wenn du mich brauchst.“ Er deutet mit einem Nicken zum Sofa im Wohnzimmer. „Danke“, bringe ich mit trockener Kehle hervor.
„Ich will dich doch nur beschützen“, murmelt Talib, seine Augen leuchten dabei so ehrlich, dass ich mir auf die Lippe beißen muss, um ihn nicht wieder anzuschreien.
So sieht für dich beschützen aus?
„Ich habe kein gutes Gefühl bei diesem Typen. Er taucht wie aus dem Nichts auf und plötzlich ist wieder alles anders zwischen uns, als wären wir uns kein Stück näher gekommen.“
„Sind wir das denn?“, fährt es aus mir heraus. Sofort hasse ich mich dafür, als ich Talibs Blick erkenne, in dem der Schmerz deutlich heraussticht.
„Du hast recht, ich benehme mich wohl wirklich seltsam. Aber diese gesamte Situation überfordert mich etwas “, werfe ich schnell ein, um meinen Fehler wieder gut zu machen. „Es tut mir leid, du verdienst die Wahrheit über mich zu wissen.“
Seine graublauen Augen werden sanfter, bei dem Anblick beruhigt sich mein Herzschlag etwas. Ich greife nach seiner Hand und drücke sie, denn sonst bringe ich die Worte einfach nicht aus meinem Mund. Talib scheint meine innersten Gefühle zu verstehen, zumindest für diesen Moment und verwebt seine Finger mit meinen.
Ich hole tief Luft und stoße die quälende Wahrheit so scharf aus, als würde sie mich von innen heraus verpesten. „Ich habe ein Menschenmädchen gerettet. Ich habe das komplette Rudel in Gefahr gebracht, um einem Menschenkind zu helfen. Ihr Leben für meines.“
Talib fährt zärtlich mit seinem Daumen über die Innenseite meiner Hand, unterbricht mich aber nicht. „Sie war noch jung und lag mitten im Schnee. Ich weiß nicht, wie sie dort hinkam oder weshalb sie bewusstlos war, aber das kleine Mädchen war dabei zu erfrieren.“
Schreckliche Bilder blenden in meinem Kopf auf. Das blonde Haar des Kindes, ihre blaugefärbten Lippen und die geschlossenen Augen. „Sie war so allein.“
Ich atme tief ein und aus, zwinge mich dazu, weiterzusprechen. „Ich habe mich auf sie gelegt, um sie zu wärmen und vor dem Schneesturm zu schützen. Ihr kleines Herz schlug nur noch schwach, deshalb wartete ich ab, bis sich das Wetter etwas gezügelt hatte und brachte sie kurzerhand zur nächsten Menschenhütte.“ Die entsetzliche Hitze schleicht meine Kehle hinauf und legt sich brennend auf meine Wangen, lässt sie bis nach außen hin glühen.
„Sie war so schwer, dass ich einen anderen Wolf aus meinem Rudel um Hilfe bat, er kreuzte nur zufällig meinen Weg. Als wir endlich an der Hütte ankamen, legten wir sie vor die Türschwelle. Als hätten es die Menschen geahnt, öffnete jemand die Tür im selben Moment. So schnell ich konnte, rannte ich davon. Der Mann hatte zu einem Gewehr gegriffen, als er uns sah.Vermutlich glaubte er, wir wollten ihn oder das Mädchen verletzen.“
Ich spüre wie gleißend heiße Tränen aus meinen Augenwinkeln schlüpfen, sie scheinen über meinem Gesicht zu verdampfen. Doch mein Herz fühlt sich im Gegensatz seltsam kalt an. Eingefroren.
Talib zerrt mich in seine starken Arme, presst mich fest an seine Brust und streicht über meinen Rücken. Doch es fühlt sich seltsam fremd an.
„Der andere Wolf, Feylon, starb. Er war bereits älter und nicht mehr flink genug, um den tödlichen Schüssen auszuweichen. Es ist meine Schuld, dass Feylon getötet wurde.“ Ein unkontrolliertes Schluchzen dringt aus meiner Kehle. „Ich habe sein Leben und das, des ganzen Rudels für einen Menschen riskiert und nun bezahle ich für meine Sünden.“
„Ich finde es sehr mutig und edel von dir, dass du das Mädchen gerettet hast. Ohne dich wäre sie verloren gewesen!“
Ich schluchze. Bittere Tränen kleben an Talibs dunkelgrauem Shirt. Ich kralle mich an dem Stoff fest und drücke mich noch enger an seine Brust. „Ich habe gegen meinen Instinkt gehandelt, ich habe die Warnungen meines Rudels missachtet, um einen Menschen zu retten.“ Das Wort Menschen dringt wie blanker Hohn aus meinem Mund. „Ich kann mir selbst nicht erklären, weshalb ich es getan habe.“
„Weil du tief in dir weißt, dass Menschen und Wölfe doch Freunde sein können.“
Talibs Muskeln sind so angespannt, dass ich sie durch seine Kleidung fühlen kann. „Nayara, ich verstehe, dass du dich schuldig fühlst. Aber es war dieser Mann, der Feylon getötet hat und nicht du. Hörst du?“
Er malt beruhigende Kreise auf meinen Rücken, seine Wärme kommt allmählich in meinem Herzen an.
„Außerdem weißt du selbst ganz genau, dass Wölfe ihre Namen bei ihrer Geburt vom Schicksal zugeschrieben bekommen. Die Ältesten können durch ihr glücksbringendes Ritual bei einem Neugeborenen, die Stimme des Schicksals flüstern hören.“
Warum erklärt er mir das? Das weiß ich doch selbst.
„Ich weiß“, presse ich mit kratziger Stimme hervor.
„Dann sag mir doch mal, was Feylon bedeutet.“
Feylon, Todgeweihter.
Ich presse die Lippen aufeinander, wage es nicht zu antworten. Talib scheint mein Schweigen zu verstehen. „Es war seine Bestimmung zu sterben. Du solltest dich nicht an seinem Tod aufhalten, sondern dich darüber freuen, ein Leben gerettet zu haben.“
„Er war mein Freund, ein Teil meiner Familie“, wimmere ich. Verdränge das Bild vor meinen Augen von dem hellbraunen Wolf mit den tiefschwarzen Augen, die glitzerten wie der sternenverhangene Nachthimmel.
„Nichtsdestotrotz die Entscheidung der Ältesten ist zu streng, ich verstehe, dass du dein Handeln bereust. Doch in meinen Augen hast du das Richtige getan.“
Wie ein Vulkan, bricht nun auch das Brodeln aus mir heraus, lässt meinen ganzen Körper in Flammen aufgehen. Zumindest fühlt es sich so an. Ich drücke mich von Talib weg, damit ich ihm in die Augen sehen kann. „Ich bereue es nicht, sie gerettet zu haben!“
Ich hasse mich nur dafür, dass ich, durch mein undurchdachtes Handeln meine Familie in Gefahr gebracht habe.
„Nayara.“ Talibs Pupillen sind vor Schock geweitet, ungläubig sieht er mich an. „Deine Augen.“
Meine Augen?
„Was ist mit meinen Augen?“
Er packt mich am Handgelenk und zerrt mich ins Badezimmer, er setzte sich auf den Rand der Badewanne und zieht mich zu sich herunter. „Sieh nach oben.“
Ist er jetzt vollkommen verrückt geworden?
Ich lege meinen Kopf in den Nacken und erstarre als ich mein Spiegelbild erkenne. In meinen silbernen Augen ist ein Schneesturm ausgebrochen. Glitzernde Eiskristalle wirbeln wie ein Strudel in meinen Pupillen umher.
Was zur Hölle...
Ungläubig schließe ich die Lider, atme tief durch. Konzentriere mich darauf, die Hitze aus meinem Körper zu vertreiben. Die Vergangenheit zu vergessen und mein Herzrhythmus zu verlangsamen, bevor es noch aus meiner Brust springt.
Als ich die Augen wieder aufschlage und in den großen Spiegel blicke, schießt ein innerer Schwindel wie ein Schlag in meinen Kopf. Mein Blick ist wieder normal. Silber. Doch dann wird alles schwarz und ich merke, wie ich falle.
***
Ihr Körper liegt da, regungslos. Begraben unter einer dicken Schneeschicht. Der Wind peitscht mir um die Ohren, überzieht mein Fell mit einer eisigen Hülle. Dennoch renne ich so schnell ich kann in den tobenden Sturm hinein, lasse mich nicht verunsichern.
„Nives!“, brüllt mein Begleiter, sein hellbraunes Fell sträubt sich. „Es tut mir leid“, denke ich, lasse ihn unerbittlich zurück. Ich muss sie retten.
Meine Pfoten tauchen in die hohen Schneehaufen ein, ich versinke fast komplett darin. Obwohl es mir schwer fällt hindurch zu rennen, versuche ich immer schneller und schneller zu werden. Ich muss zu ihr!
„Halte durch“, flehe ich innerlich. „Ich bin gleich bei dir.“ Endlich angekommen, drücke ich meine Schnauze in ihr Gesicht, ihre Wangen sind eiskalt. „Wach auf!“, befehle ich ihr, doch sie kann mich nicht hören. Keiner ihres Volkes kann das. „Bitte.“
Ich beginne den Schnee von ihr zu buddeln, langsam und vorsichtig, um sie nicht zu verletzen. Sie rührt sich nicht, selbst das Pochen ihres kleinen, schwachen Herzens ist kaum noch zu vernehmen. Verzweifelt lecke ich ihr über das zarte, schmale Gesicht, ich will, dass sie aufwacht. Sie muss leben.
Panisch blicke ich mich um, doch ich kann nichts außer dem aufwirbelnden Pulverschnee erkennen. Der Himmel hat sich in ein teuflisches, bedrohliches Schwarz verfärbt, kein einziger Stern leuchtet mir den Weg. Entschlossen lege ich mich auf den zerbrechlichen Menschenkörper, schenke ihr all meine Wärme. „Du kriegst sie nicht!“, schreie ich dem Tod entgegen. „Nicht heute!“, jaule ich bedrohlich, bete zum Mond, dass er mir seine Kraft leihen mag.
„Nives!“ Der hellbraune Wolf taucht wie aus dem Nichts vor mir auf, seine stechend schwarzen Augen starren mich besorgt an. „Lass uns von hier verschwinden, wenn wir erwischt werden…“ Doch ich lasse ihn nicht ausreden: „Geh! Lass mich allein!“
„Das kann ich nicht.“ Er klingt ernst, starrt mich flehend an. Mit seiner Schnauze reibt er sachte über meinen Rücken. Leckt mir über das durch gewuschelte Fell. „Bitte, wir müssen von hier fort, bevor sie uns entdecken.“
Nur für einen kurzen Moment lasse ich von dem Menschenkind ab, springe blitzschnell auf und schubse meinen Freund beiseite. Präsentiere ihm meine gefährlichen, scharfen Reißzähne. „Verschwinde, habe ich gesagt!“
„Nein!“ Auch er fletscht die Zähne, hält meinem Blick eisern stand. Ohne darüber nachzudenken springe ich auf ihn, ramme mein Gebiss in sein Fleisch, bis sich süßes Blut in meinem Mund ergießt. Er heult auf, versucht mich panisch abzuschütteln. Doch ich lasse das nicht zu. Getrieben von dem Geschmack des frischen Bluts, das sich auf meiner Zunge festsetzt und meine Sinne vernebelt, verbeiße ich mich in seinem Fleisch. Er windet sich unter mir, zappelt und winselt. Aber ich lasse nicht nach. Und plötzlich ist alles still. Als hätte die Zeit angehalten, löst sich das stürmische Sausen des Windes auf und weicht dem unwirklichen Stillstand des Herzschlags. Der Wolf unter mir hat die Augen weit aufgerissen, doch sie wirken leblos. Tot.
Was habe ich nur getan?
***
Eine eisige Kälte umfängt mich, kriecht mir bis in die Knochen hinein und erweckt mich aus diesem Albtraum. Angestrengt öffne ich die Augen, blinzle die verschwommene Sicht weg. Mein Kopf schmerzt, was mich aufstöhnen lässt. Ich liege in der Badwanne, das Wasser ist eiskalt und ich trage noch immer meine Klamotten.
Was ist hier nur passiert?
„Nayara?“ Talibs Stimme klingt besorgt, er beugt sich zu mir herunter und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht. „Wie geht es dir?“
„Nayara, du hast uns einen Schrecken eingejagt!“, mischt sich nun auch Faye ein.
„Was mache ich hier?“, antworte ich mit einer Gegenfrage, ignoriere meinen besten Freund, der sich auf dem Rand der Badewanne niederlässt. Das Stechen in meinem Kopf wird intensiver, ich reibe mir die Schläfen.
„Nachdem dieser Schneesturm in deinen Augen getobt hat, bist du plötzlich ohnmächtig geworden. Als ich dich aufgefangen habe, damit du dich nicht verletzt, habe ich bemerkt, dass dein ganzer Körper zu glühen scheint.“
Ich erinnere mich an das brodelnde Gefühl, das in meinem Inneren aufstieg. „Was war das?“, wende ich mich hoffnungsvoll an Faye, der bedrückt dreinschaut. „Ich weiß es nicht.“
„Komm da erstmal raus, du musst doch frieren“, wendet Talib ein, beugt sich herunter und schiebt vorsichtig seine Arme um meinen Rücken und Beine. Als er mich heraushebt, plätschert das Wasser unter mir wie wild. Talib drückt mich eng an seine Brust und sofort erreicht mich seine eigene Wärme. Er beachtet nicht, dass das Wasser aus meiner Kleidung den ganzen Boden volltropft und bringt mich zum Bett. „Kannst du stehen?“
„Mir geht es gut“, erwidere ich knapp. „Ich würde wirklich gerne über Wichtigeres reden.“
Talib hebt beschwichtigend die Hände. „Das werden wir, aber zuerst musst du aus diesen Klamotten raus.“
„Wieso habt ihr mich überhaupt mit Kleidung in die Badewanne gelegt?“
Talib beugt sich zu mir herunter und schmunzelt. „Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich dich ausgezogen hätte?“
Elender Lauerbock!
„Nein danke“, gebe ich so gefasst wie möglich zurück, merke aber, wie mir die Hitze ins Gesicht schießt. Talib verschwindet mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen, taucht kurz danach wieder auf um mir frische Wäsche zu bringen.
Er geht davon, damit ich mich in Ruhe umziehen kann. Doch als mir bewusst wird, dass er hinter der dünnen Trennwand alles sehen konnte, möchte ich ihm am liebsten eine knallen.
„Fertig?“, ruft er, steht aber schon neben mir. „Als würdest du das nicht wissen“, gebe ich bissig zurück und krieche in das Bett, schlinge die Bettdecke um meinen Körper, auf dem sich eine Gänsehaut ausgebreitet hat.
Talib setzt sich an die Bettkante und schaut mich besorgt an. „Besser?“ Sein ängstlicher Blick wühlt mein Innerstes auf. „Mir geht es wirklich gut“, versichere ich ihm. Er zwingt sich zu einem Lächeln, das ihm nicht wirklich gelingt. Nun tritt auch Faye an das Bett heran und setzt sich unterhalb meiner Füße. Er reibt sanft darüber, seine Berührung wird durch die Bettdecke gedämpft. „Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht, Kleines.“
Auch in seinen dunkelgrünen Augen flackert Besorgnis auf.
„Ich auch.“ Ich hole tief Luft und schaue zwischen den beiden hin und her. Doch bevor ich etwas sagen kann, erhebt Talib das Wort.
„Bevor du loslegst, würde ich dich gerne etwas fragen.“
Verwirrt blicke ich ihn an, nicke dann.
„Hattest du einen Albtraum, bevor du in der Wanne aufgewacht bist?“
Was?
„Ja.“ Ich ziehe fragend die Augenrbauen nach oben. „Aber wieso willst du das wissen?“
„Wovon hast du geträumt?“
Als ich mich an jedes Detail meines Traums erinnere, zieht sich mein Herz krampfhaft zusammen. Talib scheint meine Befangenheit zu spüren und fährt räuspernd fort. „Wenn Wölfe träumen, ist es anders als bei Menschen. Unsere Träume zeigen immer die Vergangenheit oder die Zukunft. Manchmal werden sie allerdings von unseren Gefühlen befangen und werden etwas anders dargelegt, als sie tatsächlich geschehen sind, aber der wahre Inhalt ändert sich nie.“
Ich beiße die Zähne fest aufeinander. Ich denke daran, wie ich Feylon tot gebissen habe.
„Also kann sich der Inhalt auch durch Schuld ändern?“
Talib nickt. „Auch Schuld ist ein Gefühl, das die Wahrheit etwas verzerren, aber niemals vollkommen ändern kann.“
Tot ist tot.
Ich erschaudere und versuche die Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. „Also sind unsere Träume immer eine Widerspiegelung unserer Vergangenheit oder Zukunft?“
Das ist mir neu.
„Sie zeigen niemals unsere Gegenwart?“
Sowohl Talib als auch Faye nicken bestätigend.
Wieso weiß Faye davon, aber ich nicht?
„Nayara“, haucht Talib zärtlich. „Hast du jemals davon geträumt, als Wolf zu deinem Rudel zurückzukehren?“
Ich zucke erschrocken über seine Frage zusammen. „Noch nicht.“
Aber hoffentlich bald.
„Und als Mensch?“ Er flüstert so leise, dass ich Schwierigkeiten dabei habe, ihn zu verstehen. Mein Herz setzt einen Moment aus, als ich seine Frage verstehe.
Nein! Das kann nicht wahr sein!
Mein Kopf scheint zu rauchen vor Überbelastung. Angestrengt suche ich nach einer plausiblen Lösung, weshalb ich davon geträumt hatte, als Mensch zurück zu meiner Familie zu kehren, die mich nicht erkannt hat.
Talib scheint mein Schweigen zu verstehe und legt mir tröstend eine Hand auf die Schulter. Ich schaue zu ihm auf, versuche einen klaren Gedanken zu fassen.
„Einmal habe ich davon geträumt, dass ich als Mensch mitten zwischen meinem Rudel stehe, doch sie erkannten mich nicht.“
Meine Stimme bricht und ich schlucke fest die Traurigkeit herunter, dich sich wie ein Kloß in meinem Hals festgesetzt hat. „Vielleicht war das nur ein Traum der an deine Vergangenheit gerichtet ist. Vielleicht bist du ja gar nicht als Mensch zu ihnen gekehrt, sondern als Mensch gegangen?“
Die Bilder, wie meine Familie mich angegriffen hat und wie letztendlich alle vor mir flüchteten blenden vor meinem inneren Auge auf und ich blinzele sie panisch weg.
Nein!
Ich schaue ihn geschockt an, mein Körper zittert. Bitte, das darf nicht wahr sein! Talib sagt doch, dass wir die Propheziung wahr werden lassen können und dass wir somit zurückfinden.
Und plötzlich kommt mit die Holzhütte in den Sinn, die ich am Ende meines Traumes gesehen habe. Die Hütte, in der Talib wohnt.
Vielleicht war es doch ein Zukunftstraum?
Vielleicht war das ein Zeichen, dass sich mein Schicksal tatsächlich durch Talib wieder zum Guten wenden kann!
Ich schiebe alle negativen Gedanken aus meinem Gehirn und halte mich verzweifelt an der Hoffnung fest.
„Wieso wolltest du überhaupt wissen, wovon ich geträumt habe?“, versuche ich mich selbst abzulenken.
„Ich dachte, es könnte uns einen Hinweis darauf geben, was mit dir passiert ist. Mit deinen Augen.“
Ich atme tief durch und brauche all meine Kraft, um die Worte über meine Lippen zu bringen.
„Ich habe von Feylons Tod geträumt. Und von dem kleinen Mädchen.“
Talibs schaut betreten auf das weiße Bettlaken, doch sein Daumen fährt zärtlich über meine Haut. Hinterlässt ein wohliges Kribbeln darunter.
„Also hat niemand eine Idee, was das gewesen sein könnte?“
Faye senkt beschämt den Kopf, als sei es seine Schuld.
„Naja, hast du dich denn irgendwie anders gefühlt?“ Talib streicht sich unsicher über seine Bartstoppeln.
Anders?
„Mir war unheimlich heiß“, murmle ich. „Und ich war etwas... aufgebracht.“ Talib räuspert sich. „Sonst noch was?“
Ich presse die Lippen aufeinander, denke angestrengt nach. „Ich hab mich irgendwie ziemlich stark und mächtig gefühlt, fast als wäre ich...“
„Eine Wölfin?“, beendet Talib meinen Satz und ich schaue ihn erschrocken an. „Ich glaube schon.“
Talib nickt sachte. „Hattest du ein leichtes Ziehen in deinen Knochen?“
Ich ziehe verwirrt die Augenbrauen zusammen, reibe mt den Fingerspitzen über meine Schläfen. „Mehr so ein Vibrieren, es war aber so schwach, dass ich es nur ganz am Rande wahrgenommen habe“, erwidere ich nach einem Moment der Überlegung. „Wieso?“
Talibs graublaue Augen funkeln auf. „Es ist nur eine Vermutung und ich will dir nicht zu viele Hoffnungen machen, aber ich glaube...“ Er macht eine Pause, beißt sich auf die Unterlippe.
„Du glaubst was?“ Meine Stimme überschlägt sich fast. „Jedes Mal, wenn ich mich in einen Wolf verwandle, dann ändert sich zuerst die Farbe meiner Augen. Als nächstes spüre ich ein Zerren in meinen Knochen, es ist nicht unangenehm, eher im Gegenteil, es fühlt sich gut an. Und kurz bevor ich in meine ursprüngliche Gestalt übergleite, fegt eine Hitzewelle durch meinen Körper.“
„Heißt das, ich war dabei mich zurückzuverwandeln?“, spreche ich meine Gedanken aus und rutsche näher an ihn heran.
„Vielleicht.“ Er legt seine Hände auf meine Wangen und schaut mich durchdringend an. „Aber wir sollten dem Ganzen erst auf den Grund gehen, bevor wir voreilige Schlüsse ziehen.“
Ich streife seine Hände von mir ab. „Lass uns gleich loslegen!“
Ich will aus dem Bett springen, doch jetzt mischt sich Faye ein, der sich die ganze Zeit zurückgehalten hat. „Das ist doch Unsinn!“
Was? Nein! Wieso?
„Aber es wäre doch möglich“, setze ich hoffnungsvoll an. Doch er schüttelt nur den Kopf. „Du solltest nur einfach nichts überstürzen.“
„Was soll das denn heißen?“ Ich werfe ihm einen empörten Blick zu. „Das ist meine Chance, genau darauf hab ich gewartet!“
Fayes Augen mustern mich streng. „Ich weiß, Kleines“, setzt er vorsichtig an. „Aber du wirst deine Gestalt nicht einfach grundlos wiederbekommen.“
Er hat recht, es muss einen Grund geben. Außerdem habe ich mich nicht wirklich verwandelt, nur meine Augen haben etwas verrückt gespielt.
Talib schnaubt und reißt meine Aufmerksamkeit auf ihn. Er greift nach meinen Händen und drückt sie zuversichtlich. „Nayara, ich werde alles tun, damit wir zurückkehren können. Und ich bin mir mehr als sicher, dass das ein erstes Anzeichen für eine Verwandlung war.“
Mein Herz bebt, bei dem tiefen Blick, den er mir schenkt.
„Meinst du, dass unsere Annäherung schon etwas bewirkt hat?“ Die Worte kommen nur schwer aus meinem Mund, flüsternd. Talib drückt meine Hände noch fester.
„Du meinst, du hast dich in mich verliebt?“ Ich presse meine Lider aufeinander, weil ich mich sonst in seinen hoffnungsvoll aufschimmernden Augen verliere. Ich fühle wie eine angenehme Wärme in mir aufsteigt und sich auf meinen Wangen festsetzt. Mein Herz rast wie verrückt.
„So ein Unsinn!“, fährt es aus Faye heraus und als ich die Lider überrascht nach oben schlage, zerrt er Talib mit einem einzigen Ruck von der Bettkannte. Fluchend fällt dieser zu Boden.
Was soll das?
„Willst du mich veraschen?“ Talibs Stimme klingt tief und knurrend. Sofort krieche ich unter der Bettdecke hervor und lasse mich zu Talib auf den Boden sinken, ehe er sich aufrichten und auf Faye losgehen kann.
„Wieso sollte sie sich in einen wie dich verlieben?“ Aus Fayes Unterton dringt Spott. „Außerdem, wieso sollte sie das zurück verwandeln?“
„Es gibt da eine Prophezeiung“, will ich ihm gerade erklären, als Talib blitzschnell hochspringt und Faye so hart ins Gesicht schlägt, dass dieser mit voller Wucht auf dem Boden aufkommt.
Nein!
„Talib, nicht!“, schreie ich aufgebracht und reiße ihm von Faye weg. Es kostet mich nicht viel Kraft, ihn festzuhalten. „Tut mir leid, das musste sein“, meint er und reibt sich über die Handknöchel.
„Das musste sein?“ Ich werfe ihm einen wütenden Blick zu, merke wie mein Körper vor Zorn erzittert. Ich schiebe mich an ihm vorbei, um Faye aufzuhelfen. Er stöhnt, hält sich die Hand vor die Nase. Dunkelrote Blutstropfen rinnen darunter hervor. Der süßliche Geruch klebt sofort in meiner Nase. „Heilige Scheiße, ist es sehr schlimm?“
Faye lächelt gequält. „Geht schon.“
„Was hast du gemacht?“, brülle ich Talib an, der sehr zufrieden mit seinem Werk scheint. „Seine Nase ist mit Sicherheit gebrochen!“
„Gut.“
Ich fahre zu Talib herum und verpasse ihm einen Schlag gegen die Brust.
Talib zieht die Luft scharf zwischen den Zähnen ein. „Merkst du denn nicht, dass er sich einfach nur zwischen uns stellen will?“
Warum sollte er das tun? Faye ist mein Freund!
„Du spinnst doch!“
Talib versucht meinen Arm zu packen, doch ich schlage seine Hände fort. Tränen drücken sich in meine Augenwinkel, ich wische sie wütend weg.
Faye, der seinen schwarzen Schal nun vor seine Nase gedrückt hält, um die Blutung zu stoppen, tritt näher an uns heran. „Er hat recht.“
Was?
„Nayara, ich bin gekommen um dich zu retten. Ich werde nicht von deiner Seite weichen.“ Dann nickt er schnaubend in Talibs Richtung. „Ich werde dich sicher nicht, einem Bastard wie ihm überlassen.“
„Pass auf was du sagst!“, raunt Talib bedrohlich. Ich lege meine Hände schnell auf seine Brust, um ihn wegzudrücken. „Wag es ja nicht!“, fauche ich ihn an. „Du hast schon genug getan.“
Talib macht knurrend einen Schritt auf mich zu, packt mich an den Armen und zieht mich an sich. „Du hast ihn doch gehört, er will dich mit sich nehmen und das lasse ich ganz sicher nicht zu.“
Ich schaue ihn ernst an, versuche etwas in seinem Blick finden zu können.
Ist das hier nur ein Machtkampf oder hat er wirklich Angst davor, mich zu verlieren?
Doch ehe ich etwas erwidern kann, mischt sich Faye ein.
„Nayara, lass uns gehen“, fleht er mich an. Doch Talibs Arme umschlingen mich noch enger. „Ganz sicher nicht!“, faucht er mit tiefer Stimme.
Ich drücke ihn von mir, nur widerwillig lässt er von mir ab. „Lass mich“, flehe ich an.
Dann wende ich mich an Faye, versuche mich an einem Lächeln.
„Du weißt, dass du mein bester Freund bist und ich vertraue dir. Aber dieses eine Mal musst du mir vertrauen“, bitte ich ihn inständig. „Es gibt da eine Prophezeiung und wenn man ihr Glauben schenken darf, dann sind Talibs und mein Schicksal miteinander verbunden.“
In Fayes mossgrünen Augen flackert unendliche Traurigkeit auf. Meine Kehle wird ganz trocken, ein Stich trifft mich mitten ins Herz.
„Das kann ich nicht zulassen.“