-4-
Nives
Der Sturm saust in stürmischen Böen um mich herum, wiegt mich in seinen Wogen hin und her. Wild und ungeschickt, aber auch liebevoll, auf seine eigene Weise. Ich stehe mitten in dem tobenden Schneegewitter, sehe die dicken Flocken vom Himmel fallen, wie sie vom Wind aufgefangen und zu einem undurchsichtigen Schleier aufgewirbelt werden. Doch die Kälte bleibt aus.
Die glitzernde Schneedecke um mich herum wird immer dichter, immer höher. Versucht mich zu vergraben. Sie funkelt so schön, wie sie es immer getan hat, versteckt den eisigen Tod in sich. Doch in meinem Inneren breitet sich eine unwirkliche Wärme aus, kribbelt unter meiner Haut. Es sticht wie tausend kleine Flammen, die heraus wollen. Das Eis auftauen, bis die komplette Winterlandschaft geschmolzen ist.
Und nichts mehr davon übrig geblieben ist.
Ich lasse mich nicht verunsichern, laufe weiter durch den wirbelnden Sturm. Immer weiter auf den Wald zu, dessen Tannen von einer weißen Decke eingehüllt wurden. Das ewige Weiß raubt mir fast vollkommen die Sicht, doch ich finde auch blind meinen Weg. Denn ich kann sie wittern: Meine Freunde. Meine Familie. Mein Rudel!
Mein Herz pocht wie wild, es rast und scheint sich fast zu überschlagen. Zu explodieren.
Ungeduldig erhöhe ich mein Tempo, renne durch die Schneeberge. Das weiße Pulver wird dabei aufgewirbelt und überall verstreut. Es fällt rieselnd zu Boden, vermischt sich mit den abertausend anderen Flocken. Doch ich spüre keine Kälte, kein Stechen auf meiner nackten Haut. Kein unheimliches Kribbeln, das sich versucht auszubreiten. Nichts.
Ich renne, kämpfe gegen das Unwetter an. Und gegen mein Schicksal.
Sie warten auf mich. Sie alle.
Ich eile durch die dichten Schneemassen, doch die einst so grazilen, flinken Bewegungen weichen ungeschickten, wackeligen Beinen, die wegknicken. Ich falle, lande erneut im Schnee. Doch selbst jetzt bleibt der Schmerz aus.
Einzig das Gefühl der Freude breitet sich in mir aus, nimmt mich vollkommen ein.
Blitzschnell erhebe ich mich wieder aus dem frostigen Pulver, streiche es von meiner menschlichen Haut. Unbeirrt stolpere ich weiter durch den dichten Nadelwald, der mir so vertraut ist. Immer weiter meiner Nase nach.
Ich husche durch das von Eis überzogene Dickicht, verfange mich erneut und rutsche aus. Doch genauso schnell wie ich gefallen bin, stehe ich auch wieder auf. Laufe weiter. Bloß nicht liegen bleiben. Niemals aufgeben. Denn sie erwarten mich bereits. Voller Sehnsucht.
So wie auch ich es kaum noch erwarten kann, sie wiederzusehen. Meine Nase gegen ihre zu drücken, um ihren feuchten Atem zu spüren. Ihre Wärme zu fühlen. Ihre Liebe.
Mein Herz pocht so schnell, so laut. Das Blut dröhnt in meinem Kopf, vibriert unter meinen Schläfen. „Schneller!“, scheint es zu rufen. Es treibt mich unweigerlich voran.
Ich entdecke ihre Spuren im Schnee, die Abdrücke ihrer Pfoten, die sich nun mit meinen Fußspuren vermischen. Ich bin gleich bei euch! Mein Atem dringt stoßartig hervor, unkontrolliert und verformt sich an der frischen Luft zu winzigen Rauchwolken. Meine Lunge droht zu zerspringen, sie sind zu schwach um dem Druck Stand zu halten. Doch ich bin es nicht!
Ich zwinge diesen müden Körper unerbittlich weiter. Der Geruch meines Rudels wird intensiver, er klebt in meiner Nase, kribbelt darin. Ich schlage die Äste der Tannen und Büsche weg, die versuchen mir den Weg zu versperren. Sie streifen kratzend über meine menschliche Schale, hinterlassen ihre Spuren, doch es stört mich nicht weiter. Es ist als würden sie nach mir greifen, mich festhalten wollen, aber ich lasse sie hinter mir. Renne immer weiter. Nichts und niemand kann mich aufhalten.
Ich dringe immer tiefer in das Innere des Waldes ein, doch das Gewitter aus Eis und Schnee scheint mich selbst bis hierher zu verfolgen. Die hohen Bäume wippen in dem Sturm hin und her, versuchen mich gefangen zu halten. Doch auch sie lasse ich zurück, erreiche völlig aus der Puste die steinerne Höhle. Mein Zuhause.
Mit zitternden Beinen renne ich darauf zu, so schnell es dieser müde Körper eben zulässt. Der Geruch ist nun so ausgeprägt, dass er mir fast schon entgegen schlägt. Es riecht so vertraut.
Wie eine Wilde dringe ich in die Höhle ein. Freudentränen rinnen über meine Wangen, tropfen auf den Boden. „Da bin ich!“, schreie ich. Sinke erschöpft auf den steinernen Grund. „Ich bin endlich zurückgekehrt.“
***
Nayara
Doch meine Familie sieht mich nur erschrocken an, weicht ängstlich vor mir zurück. „Was ist mit euch? Ich bin es doch, Nives!“ Doch das gesamte Rudel scheint mich nicht zu erkennen. Selbst mein Vater und meine Geschwister nehmen Abstand von mir. Die Freudentränen wandeln sich in ein bitteres Schluchzen, meine Unterlippe bebt. „Ich bin es doch, die Tochter eures Rudels! Erkennt ihr mich denn nicht?“ Ich krieche angestrengt nach vorn, spüre plötzlichen wieder jeden Schmerz in meinen Gliedern.
Sie fletschen ihre Zähne, knurren mich bedrohlich an. Ihre Ohren sind leicht nach hinten gelegt und ihre wachsamen Augen beobachten jede einzelne meiner Bewegungen, damit ich ja nicht zu nahe komme. „Ich bin zurück“, versuche ich es erneut, doch meine Stimme bricht ab.
Ich lasse den Tränen freien Lauf, sacke in mich zusammen. Wieso erkennen sie mich denn nicht? Sie erwarten mich doch. Oder?
Ich strecke die zitternden Finger nach ihnen aus, versuche den Wolf direkt vor mir, der mir nun so fremd zu sein scheint, zu berühren. Doch meine Sicht verschwimmt, sie alle verlaufen ineinander, sodass ich nichts mehr erkennen kann. Wer ist das? Was ist aus meinem Rudel geworden?
Die Wölfe vor mir springen mich mit lautem Gejaul an, versenken ihre scharfen Zähne in meiner Haut. Blut dringt aus den Wunden, ergießt sich über den Boden. Der süßliche Geruch steigt in meine Nase, doch es riecht so fremd.
Der einzige Schmerz, den ich fühlen kann, ist der meines Herzens. Das Pochen bleibt aus. Stillstand. Ehe sich ein winziger, schmaler Riss darin bildet.
Ein weiterer Wolf greift mich an, zerfetzt einen Teil meiner neuen, unbekannten Verpackung, in die ich gezwungen wurde. Und auch ein weiterer Riss entsteht in meinem Herzen. Noch einer. Und noch einer.
Es werden immer mehr. Ich kann sie nicht stoppen. Sie machen so lange weiter, bis es zerspringt. Zuerst zerreißt es mein Inneres und danach diese schwache, erbärmliche Hülle meiner Selbst.
Doch mein Herz entschließt sich dazu, weiter zu kämpfen. Das Elend noch ein weiteres Bisschen aushalten zu wollen. Selbst mein eigenes Herz ist gegen mich, will mich leiden sehen.
Ich schreie auf, versuche diese entsetzlichen Qualen aus meinem Körper zu vertreiben. Meine Freunde zucken unter dem Aufschrei zusammen, lassen von mir ab und ergreifen die Flucht.
Mich so zurück zu lassen schmerzt mehr, als die vielen Bisse und Kratzspuren. Ich bin doch ein Teil ihrer Familie. Mit letzter Kraft erhebe ich mich, versuche ihnen nachzueilen. Trotz des Adrenalins, das nun durch meine Adern pumpt, schaffe ich es nicht, sie einzuholen. Aber aufgeben werde ich auch nicht.
„Wartet auf mich!“, jaule ich, doch die Stimme passt nicht zu mir. Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Der eisige Sturm schlägt sofort nach mir als ich die schützende Höhle verlasse, eine Böe reißt mich mit sich und stößt mich herum. Unsanft lande ich im Schnee, keuche schmerzerfüllt auf. Meine Glieder scheinen in Flammen zu stehen, meine Knochen zu schmelzen. Immer wieder rinnt neues Blut aus den tiefen Fleischwunden, verfärbt den glitzernden Schnee in ein düsteres Rot.
Mit bebenden Armen versuche ich mich wieder hoch zu drücken, doch sie wollen die Last nicht weiter stützen. Auch meine Füße sind des Laufens müde geworden. Doch mein Wille ist es nicht. „Nicht liegen bleiben, steh auf!“, ermahne ich mich selbst. Versuche neue Kraft zu schöpfen, aus einem Gefäß, das bis zum Boden nur mit Leere gefüllt ist. Ich zwinge mich dennoch dazu, mich wieder aufzurichten und weiterzugehen. Mit jedem Schritt verliere ich immer mehr meines Blutes, fühle wie mit ihm auch die Stärke und der Mut aus meinem Körper schwinden.
Immer weitergehen, niemals stehen bleiben. Ich darf mein Ziel nicht aus den Augen verlieren.
Der Sturm spielt mit mir und ich kann absolut nichts dagegen tun. Er schubst mich hin und her, scheint seinen Spaß daran gefunden zu haben. Ich keuche angestrengt, stütze mich an einem Baumstamm ab. Ein bisschen Blut bleibt auch an ihm haften.
Wenn das so weiter geht werde ich hier draußen sterben, in einer Gestalt, die mir aufgezwungen wurde. Die nicht einmal ein kleines Stück meiner selbst widerspiegelt. Es sind nur Haut und Knochen, die das Monster in meinem Inneren verstecken. Doch ich kann es nicht frei lassen. Ich bin nur eine Gefangene.
Die Gedanken treiben mich voran, lassen mich nicht zurückblicken. Sie vertreiben jeden aufsteigenden Zweifel, der sich in mir auszubreiten versucht. Ich muss jetzt stark sein. Mein Schicksal selbst in die Hand nehmen!
Entschlossen kämpfe ich um jeden Zentimeter, der mich vorwärts bringt. Ich bestreite den tosenden Sturm, ignoriere den peitschenden Wind und überwinde die inneren Zweifel, die mich zurückhalten. Stück für Stück.
Und plötzlich sehe ich sie, die Wölfe meines Rudels. Wie grazil und elegant sie durch das tobende Unwetter springen. So unbeirrt und flink als könne es ihnen nichts anhaben. Sie verhöhnen es auf ihre eigene Art und Weise. So wie auch ich es immer getan habe. Doch in diesem Augenblick verspottet der Sturm mich.
Das Herz in meinem Brustkorb beginnt erneut zu schlagen, bei diesem Anblick. Doch die Risse werden immer tiefer, dehnen sich mit jedem Pochen aus. Der Schmerz durchzuckt meinen ganzen Körper, ich presse die Luft angestrengt zwischen den Zähnen hindurch.
„Bitte wartet auf mich!“ Meine Stimme ist nur ein kaum hörbares Flüstern, das unter der Anstrengung abbricht. Tränen der Verzweiflung treiben in meine Augenwinkel, doch ich versuche sie herunter zu schlucken. „Wartet doch“, flehe ich sie an, in dem Wissen, dass sie mich sowieso nicht hören, nicht verstehen können.
Nur noch wenige Schritte trennen mich von ihnen. Voller Hoffnung gehe ich auf sie zu, versuche die Entfernung zwischen uns zu überbrücken. Ich will ihre Nähe wieder spüren, ihre Wärme in meinem Herzen entfachen.
Doch als sie mich bemerken, weiten sie den Raum zwischen uns noch mehr aus. Versuchen so viel Abstand wie nur möglich zu halten. „Verschwinde!“, zischen sie bedrohlich. In ihren Augen funkelt Abscheu auf, tiefe, pure Abneigung gegen mich. „Du gehörst nicht hierher, Mensch.“
Ich beiße die Zähne zusammen, laufe ihnen unbeirrt nach. „Ich bin es doch, eure Nives.“ Doch ihre Augen erkennen mich nicht und meine Worte bleiben für sie unverständlich.
„Erkennt ihr mich denn wirklich nicht?“ Jetzt kann ich die Tränen nicht mehr zurück halten. Ungewollt sprudeln sie wie Sturzbäche aus meinen Augen, laufen mein Gesicht entlang und tropfen von meinem Kinn. Wie ein trotziges Kind wische ich mir mit dem Handrücken über das Gesicht. Schritt für Schritt schließe ich zu ihnen auf. Meiner Familie.
Doch mit jedem Schritt, den ich zurücklege, entfernen sie sich auch weiter von mir. Ich schließe die Hände zu Fäusten, treibe die müden Glieder immer weiter an. „Du schaffst das!“, versuche ich mir selbst einzureden. „Bleib stark.“
Plötzlich entdecke ich eine hölzerne Schneehütte, die zwischen einer Baumreihe versteckt liegt. Die Wölfe steuern direkt darauf zu.
Was machen sie denn da? Wir müssen uns doch von Menschen fernhalten. „Du darfst ihnen niemals zu nahe kommen!“, erinnere ich mich an die mahnenden Worte meiner Mutter. Meine Mutter, die mich immer nur schützen wollte. Doch selbst sie erkennt mich nicht mehr. Sie sieht den Menschen in mir, den sie aus mir gemacht haben. So wie all die anderen. Und mittlerweile sehe auch ich ihn.
„Von den Menschen fernhalten“, wiederhole ich, forme die Lippen, doch die Worte bleiben stumm. Das ist der Grund, warum sie von mir davon laufen. Doch ich werde nicht aufgeben!
Entschlossen gehe auch ich direkt auf die Blockhütte zu. In meinem Herz breitet sich Furcht aus, sie scheint es in der Hand zu halten. Die aufkeimende Angst schließt ihre eiskalten Finger um mein geschundenes Herz und drückt es zusammen, ich presse meine Hände auf die Brust, stöhne qualvoll auf.
Niemals werde ich diesem Unglück erliegen. Ich will wieder die Alte sein. Zurück, in mein vertrautes Leben. In meinen geliebten Körper.
„Du bist keine von uns!“, fauchen mich die Wölfe an, verschwinden hinter dem Häuschen, das nun direkt vor mir liegt und gar nicht mehr so klein wirkt. Es scheint fast als würden sie sich auflösen und nur einen undurchsichtigen Nebelschleier zurück lassen. Nebel und Leid.
Die Schmerzen zwingen mich in die Knie, durchfahren mich wie zuckende Stromschläge. Ich sacke zusammen und verliere vollkommen die Kontrolle über diesen fremden Körper. Und über mich selbst.
Wer bin ich eigentlich?
***
Mein Kopf qualmt, sucht angestrengt nach einer Lösung. Ein Ausweg aus diesem Grauen. Doch eine weitere, junge Frau taucht auf, droht mir meine Fluchtpläne zu ruinieren.
Ich hätte die Chance nutzen sollen, als sie zum Greifen nah war. Hoffentlich ist es nicht bereits zu spät.
Auch sie verbeugt sich Ehre erweisend vor Dante und Aiden. Eine lange, rotbraune Locke fällt ihr in das Gesicht, verdeckt ihre winzigen Sommersprossen.
Sie strahlt etwas reines aus, pure Schönheit, selbst in dieser menschlichen Verpackung.
Dante legt seine Hand unter ihr Kinn, zwingt sie ihn anzusehen.
Die grünen Augen der hübschen Frau leuchten freudestrahlend. „Leana“, flüstert er kaum hörbar, seine Stimme klingt unheimlich liebevoll.
Leana, die Schöne.
„Du weißt doch bereits, dass du das nicht tun musst.“ Fast schon peinlich berührt fügt er ein, „als meine Bestimmte“, hinzu.
Sie verzieht ihre erdbeerroten Lippen zu einem zaghaften Lächeln. „Ich weiß, aber ich möchte es tun.“
Dante lässt sich von ihrem Grinsen anstecken und küsst sie zärtlich auf die Stirn.
„Dann sind wir ja jetzt alle vollzählig“, unterbricht Aiden die prickelnde, schüchterne Stimmung, die gar nicht so recht hier reinzupassen scheint. Weder in dieses Geschehen, noch an diesen Platz oder in diesen Moment.
„Was hat denn so lange gedauert? Ich habe bereits auf dich gewartet“, wirft Dante beinahe schon vorwurfsvoll ein, legt dabei seine Hand auf ihre schmale Schulter. Sie wirkt so zerbrechlich, wie eine Porzellanpuppe. Doch ihre Augen strahlen voller Mut.
Leana schaut mich amüsiert an, wendet sich dann entschuldigend an den Mann neben sich. „Ich habe mir bereits gedacht, dass Talib nicht sonderlich gut in die Rolle des Gastgebers passt, also habe ich noch schnell etwas für unsere Besucherin besorgt.“
Unwillkürlich wandert mein Blick zu Talib herüber, doch sein Kopf neigt sich dem Boden zu. Stumm und starr steht er da, wirkt schon fast wie eine Statue.
Leana steht plötzlich vor mir, doch sie hält eine Art Sicherheitsabstand.
Sie scheint zu verstehen, dass ein gefangener, verzweifelter Wolf seinen Freiraum braucht. Dass man ihm besser nicht zu nah kommen sollte.
Die junge, hübsche Wölfin lenkt all meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie schenkt mir ein warmes, herzliches Lächeln. „Ich hoffe, er war nicht allzu unhöflich zu dir.“ Sie schaut mich prüfend an, ihr Blick klebt an meinen Lippen, doch ich kann mich nicht dazu ermutigen, irgendwelche Worte zu finden, die auch nur ansatzweise ausdrücken könnten, wie unhöflich er tatsächlich war.
Die junge Wolfsdame scheint meine Stummheit zu verstehen. „Ich sehe schon.“ Mit einem tadelnden Blick der Talib zu gelten scheint, legt sie ein paar Kleidungsstücke auf das Bett und geht dann wieder zurück zu ihrem Partner.
Ungewollt schießen mir die Bilder von Talib in den Kopf, der mir näher hätte niemals sein können.
Röte steigt mir ins Gesicht, ich kann sie auf den glühenden Wangen spüren. Mein Herz beginnt zu rasen, sich beinahe zu überschlagen, so wie es zuvor bereits außer Kontrolle geriet, als ich Talibs Nähe spüren konnte. Seine Wärme. Es scheint fast aus meinem Brustkorb zu springen. Unter meiner Haut kribbelt es, erinnert mich an das Prickeln, das mir seine liebevollen Berührungen bereiteten. Erneut fühlt sich mein Körper so unheimlich heiß an, glühend, als würde ich in Flammen stehen. Unbedacht fahre ich mit der Zunge über meine trockenen Lippen, die seinen so unheimlich nahe gekommen waren. Und doch nicht nah genug.
War das auch nur ein Teil seiner Scharade? Fühlte er sich wirklich zu mir hingezogen oder war das nur vorgetäuscht? Und wenn ja, wieso benimmt er sich im nächsten Moment dann wieder wie ein riesiger Vollidiot?
Noch ehe ich versuche die tiefen Gefühle in meinem Herzen, die Beschämtheit zu unterdrücken, wandeln sie sich in Wut um. Zorn auf mich selbst, weil ich mit mir habe spielen lassen. Weil ich zu naiv war, um gegen seine makaberen Spielchen zu gewinnen.
Das war doch nicht echt. Niemand versucht einen zu küssen, nur um sich im nächsten Moment wieder total daneben zu benehmen.
Was sollte das alles nur? Was will er von mir? Nur eine schnelle Nummer?
Ich hätte das niemals zulassen dürfen!
„Danke“, erwidere ich gedanklich abwesend, greife nach den Klamotten neben mir.
Das ist sie: Meine einzige Chance.
Ich drücke den Stoff eng an mich. „Ich würde mich dann gerne anziehen gehen.“
Mein Blick wandert durch den Raum.
Wie kann ich wohl am besten von hier verschwinden? Weg von diesem Kerl, der mir den Verstand raubt. Der mich in seinen Bann zieht, mich an sich drückt, nur um mich mit seinen anzüglichen, widerwärtigen Worten wieder von sich zu stoßen.
Die Stube an sich ist recht klein. Neben dem Bett steht ein kleiner Tisch, auf dessen türkisblaue Tischdecke sich der Kräutertee ergossen hat, der bei einer unserer Meinungsverschiedenheiten umgestoßen worden sein musste. Ein paar wenige Tropfen fallen noch immer auf den hölzernen Boden, doch niemanden scheint es wirklich zu stören.
Rechts neben dem Schlafbereich befindet sich ein hoher, aber schmaler hölzerner Bogen um den sich ein paar Rosenranken schlängeln. Es wirkt fast schon märchenhaft, scheint aber überhaupt nicht zu Talib zu passen.
Vielleicht hat Leana die Gewächse hier angebracht, um es etwas schöner zu gestalten?
Dahinter liegt eine kleine, quadratische Küche. Hinten in der Ecke, unter einem vergitterten, runden Fenster, durch das nun nur noch spärlich das Licht der untergehenden Sonne hereinfällt, steht ein Spülbecken und ein kleiner Tresen, auf dem sich schmutziges Geschirr stapelt. Links daneben ist eine Kochzeile aufgebaut, mit einem kleinen Ofen, direkt daneben befindet sich eine Herdplatte, auf der immer noch der Teekessel steht. Auf der gegenüberliegenden Seite befinden sich ein Kühlschrank und ein schmaler Tisch, auf dem sich diverse Päckchen und Tüten verteilen. Zimtschnecken, Karamellbonbons und Kartoffelchips mit Speckgeschmack.
Talib scheint eine Schwäche für Süßkram zu besitzen.
Jeder der Gerüche ist unverkennbar, kitzelt in meiner Nase. Allerdings lässt der des Specks, das Wasser so richtig in meinem Mund zusammenlaufen. Wie lange habe ich schon nichts mehr gegessen?
Aber dafür ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Ich wende mich von der Küche ab, doch das Bild von meinem vermeintlichen Entführer, wie er zwischen den schmalen Küchenzeilen herum werkelt, heftet sich in meinen Kopf. Es wirkt so absurd und vollkommen falsch.
Links vom Bett ist eine dünne Trennwand aufgestellt worden, auf die tanzende Schatten geworfen werden, die scheinbar vom Kaminfeuer dahinter stammen. Die Flammen bewegen sich so wild und ungezähmt und dennoch so anmutig und leidenschaftlich, dass es mir fast den Atem raubt.
Dahinter befindet sich das Wohnzimmer, mit der schwarzen Ledercouch und einem kleinen Fernseher, an die ich mich noch von meinem ersten Tag hier erinnere.
Wenn ich mich dahinter umziehen würde, müsste ich nur an dem kleinen Esstisch und den Stühlen vorbeirennen und schon wäre ich an der Tür, die direkt in meine Freiheit führt. Allerdings ist die Trennwand so dünn gehalten, dass sie mich die ganze Zeit über sehen würden. Verdammt! Was mache ich bloß?
Ich kaue nervös auf der Unterlippe herum, mein Kopf raucht förmlich vor lauter brodelnden Gedankengängen. In meinem Augenwinkel erspähe ich Talib, der mich neugierig mustert. Sein Blick hängt wie ein Schatten an meinem Körper, lässt mir die feinen Nackenhärchen zu Berge stehen.
Wenn ich dir doch nur niemals begegnet wäre! Wenn es nach mir ginge, wäre ich eher im Sturm erfroren als mich wie ein Kleinkind behandeln zu lassen, eingesperrt und gedemütigt von einem triebgesteuerten Mistkerl, der seine Grenzen nicht zu kennen scheint und mich nun seinen Freunden präsentiert, wie einen wertlosen Pokal. Eine neue Errungenschaft seiner Bettgeschichten.
Ich spüre wie die Wut in meinem Inneren langsam aber stetig aufkeimt, sie kribbelt unter meiner Haut. Meine Hände ziehen sich zusammen, ballen sich ungewollt zu Fäusten.
Wäre ich doch nur niemals so dumm und naiv gewesen…
„Was ist mit dir?“, fragt Talib besorgt, die Stirn in Falten gelegt. Ich kann nicht erkennen, ob er wirklich Angst um mich hat oder mich nur wieder verhöhnt. Doch ihm scheinen meine Gefühle keinesfalls unbemerkt zu bleiben, ich weiß, dass er sie in meinen Augen lesen kann, egal wie sehr ich mich auch bemühe, all meine Emotionen zu verbergen.
In den Tiefen meines Kopfes suche ich nach einer Antwort, nach etwas Logischem, das keine meiner Absichten verrät. Dann trifft es mich wie ein Blitzschlag,
hinter Talib befindet sich eine Tür, dass mir das nicht vorher aufgefallen ist. In der hintersten Ecke der kleinen Schneehütte versteckt liegt wohl meine einzige Chance.
Das Badezimmer.
„Wo ist denn das Bad?“, frage ich an meinen verlogenen, verräterischen Kidnapper gewandt, versuche mich zu einem unschuldigen Lächeln zu zwingen.
„Stell bloß keine Dummheiten an!“, raunt er drohend in mein Ohr, schlingt seine Finger um mein Handgelenk und drückt die Hand viel zu fest zusammen. Unsanft zerrt er mich hinter sich her.
Seine Berührungen haben nichts mehr von all der Wärme übrig, da ist keine Zärtlichkeit, die in ihnen steckt. Stattdessen sind sie kalt, eisig.
„Oder willst du, dass ich dich begleite und dir beim Umziehen helfen?“ Er schenkt mir ein neckisches Augenzwinkern.
Du elender Bastard, ich hoffe du verrottest in der Hölle!
„Nein danke!“ Ich reiße meinen Arm los und schlüpfe in den Raum, lasse die Tür hinter mir mit einem wuchtigen Tritt ins Schloss fallen. Mit vor Zorn zitternden Fingern drehe ich den Schlüssel um, schließe ab.
Das Badezimmer ist genauso klein gehalten wie die anderen Räume der Blockhütte. Der dunkle Holzboden unter meinen nackten Füßen fühlt sich rau an, kratzig. Sofort tapse ich zu einem der mintfarbenen Läufer, der meinen nackten Füßen etwas Wärme bietet, während ich den schmalen, länglichen Raum genauer begutachte. Direkt neben der Tür steht eine ebenfalls mintfarbene Badewanne, über der eine Dachschräge ragt, an welcher ein riesig wirkender Spiegel befestigt wurde.
Das war mit Sicherheit Talibs Idee. Keinem der Anderen würde ich bisher zutrauen, dass sie sich gerne nackt in der Badewanne beobachten.
Ich versuche die aufsteigenden Bilder von einem nackten Talib aus meinem Gehirn zu verdrängen, schüttle peinlich berührt den Kopf. Mit hochrotem Gesicht sehe ich mich weiter um.
Gegenüber befinden sich kleine Schränke und Wandregale, die von einer gähnenden Leere heimgesucht werden. Lediglich ein paar Handtücher und wenige Duschgel- und Shampooflaschen sind darin zu finden.
Nichts, dass für meine Flucht nützlich wäre.
Links davon, fast schon unentdeckt in der Ecke, ist eine einfache Toilette befestigt. Ganz in Weiß gehalten, nichts Besonderes. Das Waschbecken in der anderen Ecke hingegen ist ein wahrer Blickfang. Die steinernen Wände schließen sich schützend in einem Halbkreis um das weiße Becken mit dem goldenen, verschnörkelten Wasserhahn, schirmen es fast vollkommen ab. Dahinter ragt ein hohes Fenster, mit dunkelgrünem Rahmen auf.
„Du hättest ihr ruhig etwas zum Anziehen geben können“, dringen die Stimmen von außen an mich heran. Sie wirken dumpf hinter der massiven Holztür, sodass ich nur erraten kann, zu wem sie gehören.
„Ich hatte leider nichts Sauberes und in all dem Trubel bin ich nun mal nicht zum Waschen gekommen. Hätte ich ihr etwa verschwitze Klamotten geben sollen?“
„Immer noch besser als eine stinkende Wolldecke“, wirft eine bassartige Stimme gehässig ein. Ich vermute Felan hinter diesen Worten.
Talib muss sich dicht an die Tür pressen, ich kann ihn dahinter wahrnehmen. Sein Geruch klebt förmlich in meiner Nase. Selbst das leise Kratzen über das massive Holz der Tür, als sich sein Gewicht dagegen lehnt, erklingt in meinen Ohren. „Der kurze Stoff hat ihren üppigen Rundungen ziemlich geschmeichelt.“
Dieser miese Schweinehund! Das macht er doch mit Absicht!
Aufgebracht stoße ich die Luft zwischen den Zähnen aus. „Üppige Rundungen? Leider konnte ich nichts üppiges bei dir vorfinden, da deine Hose genauso leer zu sein scheint wie dein Kopf“, erwidere ich. Die Züge meines Gesichts sind vor Wut verzogen, doch ich versuche ruhig und gelassen zu bleiben, damit er meiner Stimme nicht anmerkt, dass seine lächerlichen Provokationen tatsächlich Wirkung zeigen.
„Hast du das gehört?“, dringt eine lachende Stimme durch das Holz hindurch. Die Anderen verfallen in ein ähnliches, schallendes Gelächter. Nur Talib ist ruhig.
Nur zu gut kann ich mir sein dämliches Grinsen vorstellen, das ich wirklich liebend gern aus seinem Gesicht kratzen würde. Wobei ich mir ziemlich sicher bin, auch ohne ihn sehen zu können, dass ich dies gerade getan habe.
Ich werde dir schon noch zeigen, was alles in mir steckt.
Das Pochen in meinem Kopf wird immer lauter, schmerzerfüllt reibe ich über meine Schläfen.
Komm runter, versuche ich mich selbst zu beruhigen, presse die Lippen fest aufeinander. Ich atme tief durch die Nase aus und ein.
Ich muss auf der Stelle von hier verschwinden.
Ich steuere direkt auf das große Fenster zu, stütze mich am Waschbecken ab und versuche den Fensterrahmen so leise wie möglich zu öffnen, um unbemerkt zu entkommen. Ein eisiger Wind schlägt mir entgegen, lässt mich frösteln und überzieht meinen Körper mit einer Gänsehaut.
Es ist bereits Abend, die Sonne ist untergegangen und hat der schwarzen Nacht Platz geschaffen. Allein eine Vielzahl an funkelnden Sternen und der silberne, sichelförmige Mond hängen am Himmelszelt. Ich starre sehnsüchtig zu ihm hinauf.
Plötzlich rüttelt es an der Tür, es reißt mich aus den Gedanken. „Was treibst du denn so lange da drin? Es dauert doch wohl nicht ewig, um sich etwas überzuziehen.“
Talibs Stimme klingt misstrauisch. Zu recht.
Verdammt! Ich muss mich beeilen.
Zur Tarnung eile ich rüber zur Toilette und betätige die Spülung.
Fast schon panisch werfe ich zeitgleich die Kleidung aus dem Fenster, klettere auf das Waschbecken und zwänge mich durch den schmalen Fensterspalt. Doch plötzlich schwingt die Tür des Badezimmers krachend nach innen, lässt mich zusammenzucken.
Er hat die Tür einfach aufgebrochen.
Talib stürmt herein, sein Blick ist todernst. „Wusste ich es doch!“, brüllt er, rennt auf mich zu.
Scheiße!
Zu all meinem Unglück verheddert sich die Decke am Fenstergriff, ich ziehe daran, versuche einfach nur weg zu kommen. Weg von ihm. Er greift nach meinem Arm, doch im selben Moment schaffe ich es, die Decke von mir zu lösen, falle plumpsend in die hohen Berge aus Schnee. Sofort verschlägt mir die Kälte den Atem, doch zurückgehen kann und werde ich nicht.
In Windeseile rapple ich mich auf, schnappe mir die Klamotten und renne los.
Allerdings ist Talib viel schneller als gedacht. Wie aus dem Nichts stürzt er sich auf mich, erneut lande ich in dem frostigen, weißen Pulver, versinke darin. Mein Widersacher drückt mich zu Boden, hält mich eisern fest. „Dummes Mädchen!“, raunt er tadelnd, doch seine Lippen sind zu einem schmutzigen Lächeln verzogen. „Ich habe dir doch gesagt, dass du nichts anstellen sollst.“
„Sagt gerade der Richtige!“, zische ich zurück, versuche ihn wegzudrängen, doch er ist viel zu stark. Talib liegt mit vollem Gewicht auf mir, lässt mir nicht die kleinste Chance, ihn los zu werden.
Plötzlich beugt sich Felan über uns, seine schwarzen Augen strahlen etwas Finsteres aus. „Lass sie los!“ Seine Stimme klingt seelenruhig und dennoch bedrohlich und erhaben. Selbst in seiner menschlichen Gestalt verkörpert Felan die Macht eines Wolfes.
„Misch dich da nicht ein“, faucht Talib zurück. In ihm scheint es zu brodeln, jede Sanftmütigkeit ist aus seinen Zügen gewichen. Doch Felan packt ihn entschlossen an der Schulter, versucht ihn von mir zu zerren. Aber selbst mit seiner Hilfe schaffe ich es nicht, Talib von mir zu hieven.
Mein Puls rast, mein Verstand setzt aus und drängt selbst die eisige Kälte für einen kurzen Moment aus meinen Gedanken, die sich viel zu schnell in meine Haut frisst.
„Was soll der ganze Zirkus hier?“ Dantes schriller Ausruf scheint die angespannte Luft zu durchschneiden, doch nicht einmal das scheint zu wirken, um Talib einknicken zu lassen. Felan lässt von ihm ab und macht einen Schritt zurück.
Eisern klammert sich mein Feind um meine Handgelenke, fixiert meine Beine mit seinen und sein Blick scheint sich in meine Haut zu bohren. Und in mein Herz. Es rast.
Selbst in Leanas Stimme schwingt nun ein Hauch von Zorn mit. „Lass sie los, Talib.“
Er ignoriert sie weiterhin, es scheint sich aber auch niemand sonst zu rühren. Langsam senkt er den Kopf, kommt mir immer näher. Ich erstarre. Mein noch eben so rasendes Herz versteinert mit mir, es scheint nicht mehr schlagen zu wollen. Talibs Lippen pressen sich an mein Ohr, sein Atem klebt warm auf meiner Haut, lässt die eisige Kälte um mich herum, die sich nun auch in meinem Inneren eingenistet hat, nur noch kälter wirken.
„Wenn ich jetzt aufstehe, werden sie dich alle nackt sehen. Willst du das wirklich, kleine Wölfin?“
Du elender Mistkerl!
Ich weiß beim besten Willen nicht wieso es mich so sehr stört. Woher kommt diese Scham? Dieses menschliche Gefühl der Bloßheit und des Spotts? Es ist nur ein Körper, nicht einmal mein eigener. Und dennoch bringt mich dieser Gedanke fast um. Ich will nicht, dass sie mich nackt sehen. Schwach. Hilflos. Und so entsetzlich dumm.
Der frostige Wind hat sich nun bis in meine Knochen hinein gezogen, jegliches Gefühl wandelt sich in Taubheit um. Ein unwirkliches Kribbeln ergreift Besitz von meinem Körper.
Ich breche in ein unheimliches Zittern aus, kann nicht sagen, ob es nur an der Kälte des Wetters liegt oder auch an der, die in Talibs Augen gefangen zu sein scheint.
Ich habe wohl keine andere Wahl…
„Dreht euch gefälligst um, verdammt!“, raune ich die anderen Wölfe unfreundlich an, die sich allesamt neugierig um uns versammelt haben. Zögernd gehen sie meinem Befehl nach. Talibs Lächeln wird intensiver, quälend langsam steigt er von mir herunter, streckt mir die Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.
Doch ich schlage sie weg, stehe von selbst auf. Die Arme um den bebenden Körper geschlungen, um meine Blöße zu bedecken.
Es ist so schrecklich kalt.
„Wie erwartet von dir, Kleines“, flüstert er mir zu, schenkt mir ein Zwinkern. „Dreh dich gefälligst auch um!“, fauche ich ihn an, doch er macht keine Anstalten, sich auch nur für eine Sekunde von mir abzuwenden. Stattdessen begutachtet er mich ausgiebig. Wenn ich nicht bereits nackt vor ihm stehen würde, hätte mich sein Blick wohl ausgezogen.
Dieser ekelhafte Spanner!
Ich mache einen Schritt auf ihn zu, will ihn dazu bringen sich von mir abzuwenden, aber er hält meine Arme fest. Unsere Blicke treffen aufeinander, niemand von uns will nachgeben. Doch plötzlich tritt ein seltsamer, nicht zu deutender Glanz in Talibs graublaue Augen. Er lässt meine Handgelenke los und selbst das schmierige Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht.
Ohne Vorwarnung macht er sich daran, das hautenge Shirt auszuziehen, entblößt stählerne Muskeln unter gebräunter Haut. Schon sein Oberkörper scheint gut durchtrainiert zu sein, lässt mich nur erahnen, wie es mit dem Rest aussieht.
Als er meinen Blick bemerkt, schenkt er mir ein amüsiertes Grinsen. „Gefällt dir, was du siehst?“
Bestimmt nicht! Obwohl, für einen Menschen sieht er gar nicht schlecht aus…
Zumindest schreckt mich seine äußere Hülle schon lange nicht mehr ab, ganz im Gegenteil. Und genau das macht mir Angst.
"Na ja, ich hatte mehr erwartet", gebe ich so ruhig wie möglich zurück, „was tust du da überhaupt?“
Mein Gegenüber wirft mir das T-Shirt zu. „Zieh dir das über, es ist kalt hier draußen.“
Widerwillig, wenn auch mit einem Funken Dankbarkeit tue ich wie mir geheißen. Der Stoff ist gerade lang genug, um meinen Hintern zu verdecken, doch wirklich wärmer wird mir dadurch auch nicht. Außerdem riecht das Shirt tatsächlich nach Schweiß. Und nach ihm.
Leider bietet sich keine andere Alternative als das hier, denn die Kleidung, die Leana mir gegeben hat, ist vollkommen durchnässt, dank des Schnees.
„Können wir uns wieder umdrehen?“, erklingt Taruns Stimme ungeduldig, doch auch ohne eine Antwort abzuwarten, starren sie mich nun alle wieder an. Bis auf Dante, der beschämt den Blick abwendet. Leana steht direkt neben ihm und hält seine Hand fest umklammert. Er starrt sie mit strahlenden Augen an, scheint gar nicht genug von ihr zu bekommen.
Und da fällt es mir auf: Es ist Dante nicht peinlich, eine halbnackte Frau zu begutachten. Er hat einfach nur Augen, für die Frau an seiner Seite. Ausschließlich für sie.
Ich fühle mich immer noch schrecklich entblößt. Schäbig.
Auf einmal schlingt Talib seine Arme um mich, hebt mich hoch und drückt mich eng an sich.
Was soll das denn jetzt?
Ich versuche mich dagegen zu wehren, doch er lässt es nicht zu.
Mit seiner Hand versucht er meine Scham zu bedecken, die das knappe Oberteil wohl kaum verstecken kann. Seine Hand so nah an meiner empfindlichsten Stelle, bringt mich dazu, still zu halten. Mein Atem geht flacher und ich achte auf jede seiner Bewegungen.
Tut er das falsche, reiße ich ihm seine Arme aus.
Ihm scheint sehr wohl bewusst zu sein, wie sehr er mich damit aus der Fassung bringt und doch, nutzt er es nicht aus. Vorerst nicht.
„Weißt du, ich dachte, du solltest nicht die Einzige sein, die hier immer halbnackt rumläuft. Deshalb wollte ich dir auch etwas zu sehen geben“, versucht er mich zu provozieren.
„Da gibt es nichts sehenswertes“, erwidere ich, versuche die Ruhe zu bewahren.
Das wirst du noch bereuen. Wenn ich erstmal vollständig bekleidet bin, bist du fällig, du mieser Arsch.
„Ach ja? Deine Blicke vorhin haben mir da aber etwas ganz anderes bewiesen.“ Er klingt schon wieder so voller Spott. Verhöhnt mich. „Du hast ja beinahe angefangen zu sabbern.“
Ich hasse ihn abgrundtief!
„Träum weiter!“, brülle ich ihn an, spüre, wie mein Herz zuckt. Für einen Moment glaube ich, dass das Herz einer Wölfin in diesem schwachen, menschlichen Körper erwacht ist. Es beginnt zu pochen, nur schwach, aber es schlägt.
Ich habe es so satt, dass er sich wieder und wieder lustig über mich macht. Talib nutzt mich aus für seine Machtspielchen und lässt seine Freunde an dieser kleinen, perversen Show teilhaben. Doch was mich noch viel mehr trifft, ist die Tatsache, dass ich nicht weiß, ob er sich wirklich zu mir hingezogen fühlt oder nicht?
Hat er das selbe gefühlt, in diesem kleinen, vertrauten Moment also wie uns fast geküsst haben oder geht es ihm nur darum, seine Lust zu befriedigen?
Aus dem Augenwinkel sehe ich wie Felan sich rührt, dabei aber zu Dante sieht als würde er auf eine Art Befehl warten. Doch dessen schwarzer Lockenkopf schüttelt sich nur leicht, bedeutet Felan noch abzuwarten.
„Nur von dir“, gibt Talib augenzwinkernd zurück, fährt mit der Zunge die Konturen seiner Lippen nach. Schenkt mir einen Kussmund.
Das reicht! Ich halte das einfach nicht mehr aus!
Ich knurre ihn an, lasse ihn wissen, dass er es zu weit getrieben hat.
"Ich werde dich nicht einmal in deinen Träumen begehren."
Talib sieht mich erschrocken an, sogar ein wenig verletzt.
Hat er es jetzt endlich kapiert?
Als er sich wieder gefasst hat, zwinkert er mir frech zu.
"Oh glaub mir, nur eine Stunde mit mir allein und du willst gar nicht mehr ohne mich."
Ich werfe die Haare in einer stolzen Geste über meine Schulter und schnaube.
"Ich könnte schwören, dass wir bereits weitaus mehr als nur eine Stunde miteinander hatten und ich kann es kaum erwarten, von dir loszukommen."
Talibs Lippen pressen sich zu einer schmalen Linie aufeinander.
Das hat wohl sein viel zu großes Ego verletzt.
Tja, das das du nun davon, du Mistkerl!
In dem Moment, in dem wir das Innere der Hütte erreichen, wirft er mich regelrecht ab. Unsicher stehe ich auf den Beinen, die sich mit einem Mal so unglaublich wackelig und kraftlos anfühlen.
Ehe ich weiß wie mir geschieht, sacke ich in mir zusammen und mein Blick verschwimmt.
Schwärze.
***
Der Schneesturm tobt und wütet und brüllt,
verbreitet ein eisiges Chaos im Kopf.
Dein Schicksal, das ist längst festgeschrieben,
doch du willst es auf keinen Fall schon besiegeln.
Dein Inneres zerreißt, zerfetzt,
deine Vergangenheit verschwimmt komplett,
selbst deine Zukunft wird jetzt ausgelöscht,
bis die Schwärze dein Herz zerbricht.
Der eisige Wind weht dich davon,
wandelt tiefe Gefühle in Leere um,
was zurück bleibt, ist nur die menschliche Hülle,
doch der Inhalt – kehrt er zurück?
Blitzartig, rasend schnell, beinahe ungesehen,
bewegst du deine schmerzenden Hände,
ziehst an den zarten Marionettenfäden,
erbaust deine eigene Bühne zum Spiel.
Jeder soll nach deinen Regeln tanzen,
soll dir helfen das Geschriebene zu korrigieren,
doch wenn bald all die Stricke reißen,
wirst du von deinem ewigen Albtraum verschlungen.