Nayara
Zum wiederholten Mal schlägt der Pfeil nicht da ein, wo er sollte. Ich senke den Arm und schaue Talib missmutig an.
„Das hat doch alles keinen Sinn“, meckere ich, genervt von mir selbst. „Ich schieße einfach immer daneben.“
Dabei stört mich weniger das Zielen an sich, als die eher schwierige Handhabung der Armbrust.
„Schon okay“, erwidert Talib, in seinen Augen glänzt noch immer die Hoffnung, dass wir die passende Waffe für mich finden.
Während Leana und Dante in der Küche ihre Zielscheiben aufgehängt haben, um das Bogenschießen zu perfektionieren, hat Talib mich mit sämtlichen Waffen bekannt gemacht, die er in der rostigen Truhe im Hinterzimmer gefunden hat.
„Ich würde mich einfach wohler fühlen, wenn du auf eine Fernkampfwaffe zurückgreifen würdest und somit einen körperlichen Kampf eventuell vermeiden kannst.“
Mein Herz macht einen Sprung, als ich realisiere, wie sehr er dabei an mich denkt. Wie sehr er mich beschützen will.
„Ich versuche es einfach noch einmal“, sage ich, überzeugt davon, dass ich es dieses Mal besser machen werde.
Ich strecke den Arm gerade nach vorn aus, lege den kleinen goldenen Hebel um und kneife die Augenlider etwas zusammen, visiere mein Ziel an. Und Schuss.
Mit einem lauten Geräusch trifft der Pfeil direkt neben den Türrahmen ein, bringt das Holz zum Zerbersten. Und im gleichen Augenblick öffnet sich eben diese Tür und Tarun, der den Mund geöffnet hat, um etwas zu sagen, duckt sich gerade noch rechtzeitig darunter hinweg.
Das ist ja prima gelaufen.
„Tarun!“, entfährt es mir sofort geschockt. „Es tut mir so leid! Geht es dir gut?“
Doch ich scheine die Einzige zu sein, die besorgt darüber ist, denn Talib bricht hinter mir in ein schallendes Lachen aus.
Tarun hebt die Hände als würde er sich ergeben und schaut mich mit einem frechen Grinsen auf den Lippen aus an, „Na, das nenne ich mal eine Begrüßung.“
„Es tut mir wirklich leid“, sage ich, „war keine Absicht.“
Doch Tarun drückt sich nun an mir vorbei, schließt die Tür hinter sich und klopf mir im Vorbeigehen auf die Schulter. „Ist mir nicht zum ersten Mal passiert.“
Ich sehe ihn fragend an, doch er hat sich bereits weggedreht um Talib mit einem brüderlichen Handschlag zu begrüßen.
„Ich habe mich um alles gekümmert“, lässt er uns wissen. „Wie geht es bei euch voran?“
Talib presst seine geschwungenen Lippen zu einer dünnen Linie aufeinander und nickt unauffällig auffällig in meine Richtung.
Doch ehe er etwas sagen kann, übernehme ich das.
Ich fühle mich sowieso schon schlecht genug. Ich will helfen und keine Belastung sein!
„Keine der Waffen sagt mir zu“, gestehe ich kleinlaut. „Dabei habe ich bei der Jagd als Wolf niemals mein Ziel verfehlt.“
Talib schenkt mir einen einfühlsamen Blick aus seinen graublauen Augen. „Niemand macht dir Vorwürfe, so was lernt man eben nicht von heute auf Morgen.“
Niemand ist nicht ganz richtig.
„Das muss ich aber, wenn ich euch nicht im Weg sein will!“
Ehe unsere Diskussion in ein wirkliches Wortgefecht ausbrechen kann, hebt Tarun beschwichtigend die Hände. Dann kramt er in seiner schwarzen Tasche, die er geschultert hat und zieht einen Lederbeutel hervor, den er mir reicht.
„Was ist das?“, fragen Talib und ich beinahe wie aus einem Mund.
„Probier es mal aus“, erwidert Traun nur mystisch, ohne wirklich zu antworten.
Gespannt öffne ich die Ledertasche, während Talib näher herantritt um ebenfalls zu sehen, was es damit auf sich hat.
Im Inneren befinden sich spitze, kleine Pfeile aus Metall. Sie sind so dünn, dass ich Angst habe sie könnten zwischen meinen Finger durchgleiten, wenn ich einen davon heraus nehme. In einem Fach daneben steckt ein etwas größeres, silbernes Röhrchen.
Was zur Hölle ist das?
„Sind das die magischen Betäubungspfeile?“, bricht Talib nun hervor. Lässt mich noch verwirrter zurück als zuvor.
„Magische Betäubungspfeile?“, wiederhole ich fragend seine Worte.
Die Brüder werfen sich nur einen schelmischen Blick zu, ehe mich der jüngere von Beiden aufklärt.
Tarun nimmt mir den Beutel vorsichtig aus den Händen, legt ihn auf den Tisch zu seiner Rechten und steckt vorsichtig einen der dünnen Spitzen in das Metallröhrchen. Dann baut er sich gegenüber der Tür auf, dessen Rahmen von meinem Pfeil durchbohrt wurde und hält sich das Projektil an die Lippen. Er bläst einmal kräftig hindruch und der Pfeil jagt durch den Raum, landet in einer perfekten Linie direkt unter meinem.
Anerkennenden pfeift Talib durch die Zähne. „Du bist noch immer so gut im Zielen wie früher.“
Taruns Wangen verfärben sich leicht rosa, doch seine spitzbübischen grauen Augen funkeln vor Stolz auf.
Dann hält er mir das Röhrchen hin und fordert mich zwinkernd auf, es ihm nach zu tun. „Dann lass uns mal sehen, wie zielsicher du wirklich bist.“
Ich ignoriere seine Herausforderung gekonnt, nehme mir aber ebenfalls einen Pfeil heraus. Als mir plötzlich auffällt, dass sich die Lücke, die ich eben hinterlassen habe, sich wie von Zauberhand schließt.
Oder bilde ich mir das nur ein?
„Was genau macht diese Dinger nun so magisch?“, will ich wissen, ehe ich mich wage, es an meinen Mund zu führen.
Sicher ist sicher.
„Ah“, erwidert er. „Ganz einfach, normalerweise müssten wir die Spitzen in das Betäubungsmittel tauchen, dadurch würdest du aber riskieren, dass du dich selbst an ihnen stichst und ohnmächtig wirst. Aber diese kleinen Babys werden automatisch mit dem Mittel versorgt, sobald sie durch das Röhrchen gleiten.“
Argwöhnisch beobachte ich das metallene Stück in meiner Hand, drehe es zwischen den Fingern hin und her.
„Keine Angst, es hat keine Auswirkungen auf dich“, mischt sich nun Talib ein. „Ansonsten hätte ich es sicher nicht in deine Nähe gelassen.“
Talibs Beschützerinstinkt beschert mir eine wohlige Gänsehaut auf dem Rücken.
Tarun hingegen röchelt angeekelt auf. „Na na Leute, ihr tut ja fast so, als könnte man mir nicht trauen.“
„So war das nicht gemeint“, sprechen Talib und ich wieder gleichzeitig. Doch Tarun lacht nur, zuckt mit den Schultern als hätte er einen Witz gemacht.
„Außerdem füllen sich die Pfeile automatisch auf.“
„Sie werden also niemals leer?“
„Nun ja, es ist so. Nimmst du sie einzeln, nacheinander heraus, reproduzieren sie sich automatisch innerhalb eines Augenschlags. Bist du aber zu gierig und entnimmst sie alle gleichzeitig, brauchen sie ein paar Minuten, um sich vollständig zu regenerieren.“
„Ich verstehe“, gebe ich wenig einfallslos zurück. „Also sollte ich sie besser nicht fallen lassen.“
Und so eine mächtige Waffe, in den Händen eines Tollpatsches wie mir?
„Also, willst du es Mal versuchen?“ Tarun reißt mich auf meinen Selbstzweifeln.
Ich nicke nur, stecke die Spitze in die Öffnung des Röhrchens und setze es an meinen Mund, puste mit viel Druck hindurch, nachdem ich mein Ziel anvisiert habe.
Sie schlägt schräg neben Taruns Pfeil in die hölzerne Wand.
„Nicht schlecht“, lacht dieser nun auf, aber wenn du versucht haben solltest, meinen Pfeil zu treffen, dann zielst du weitaus schlechter als du vorgegeben hast.“
Na warte.
„Hey, lass sie“, höre ich Talib sagen, doch ich schenke ihm nur ein herausforderndes Lächeln. Er scheint es sofort zu verstehen.
Nacheinander ziehe ich fünf weitere Pfeile aus dem Ledertäschchen und lasse sie durch die Luft sausen. Sie treffen alle in einem perfekten Kreis, um Taruns Pfeil herum, in das Holz.
Die Genugtuung, die sich in meinem Körper ausbreitet, lässt mich fast vergessen, wie schrecklich ich mich mit all den anderen Waffen angestellt habe.
Dieses Mal sind es die beiden Brüder, die im Chor einen beeindrucktes Pfeifen ausstoßen.
Ich glaube, damit kann ich mich in einem Kampf behaupten.
„Aber wo hast du das Teil überhaupt her?“ Die Neugierde juckt mir in den Fingerspitzen. So etwas einzigartiges findet man sicher nicht einfach im nächsten Geschäft.
„Sagen wir mal so, ich habe es mir vom guten alten Fremont...ausgeliehen.“
Erneut bildet sich eine Gänsehaut auf meinem Körper, aber sie hinterlässt ein schauriges Gefühl, als der Name des schwarzen Magiers fällt.
Auch aus Talibs Gesicht ist mit einem Mal die Farbe gewichen. Doch obwohl mein Herz vor Panik fast zu zerspringen scheint, habe ich einen Entschluss gefasst. Ein Entschluss, der nur vom Mut einer Wölfin getragen werden kann.
Ich werde Fremont mit seiner eigenen Waffe schlagen, sodass er niemals wieder jemanden quälen kann.
Gerade als ich den Lederbeutel zusammenrolle, um ihn zu verstauen, taucht Talib neben mir auf und greift danach. Ich bin davon so überrascht, dass er es schafft, ihn an sich zu reißen.
„Dann lass uns als nächstes Mal schauen, wie du dich im Kampf behauptest“, sagt er mit teils unheilvoller und teils neckischer Miene.
„Den hier“, er wackelt mit dem Beutel, „bekommst du erst zurück, wenn du mich besiegen kannst.“
Ein aufregendes, lebendiges Prickeln entsteht unter meiner Haut.
Oh, das klingt nach Spaß. Obwohl ich ihm bereits verzeihen habe, wollte ich mich trotz allem noch für seine perversen kleinen Spielchen rächen.
Und ehe er sich versieht, mache ich einen Satz auf ihn zu uns reiße uns beide zu Boden.
Lasset die Spiele beginnen.