Nayara
Am Himmel zucken Blitze, deren heller Schein durch das kleine Fenster fällt und das halbe Zimmer in silbernes Licht taucht. Das Donnergrollen lässt mich zusammenzucken. Ich drücke mich enger in die Matratze und ziehe die Bettdecke über den Kopf. Mit jedem Grollen beginnt mein Herz immer schneller zu rasen.
Hoffentlich ist es bald vorbei.
Selbst unter der dicken Decke schimmern die Blitze hindurch. Ich kneife die Augen fest zusammen.
Obwohl ich es gewohnt bin im Freien zu leben, vor Gewittern habe ich mich schon immer gefürchtet. Im hintersten Eck unserer Höhle habe ich mich versteckt gehalten und mich an meine Geschwister gekuschelt. Ihre Nähe und Wärme hat mich immer beruhigen können.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“ Talibs Stimme dringt abgeschattet durch den dicken Stoff an mein Ohr. Langsam öffne ich die Augen und ziehe die Decke von meinem Kopf.
„Mir geht es gut“, presse ich hervor, zucke allerdings erneut zusammen, als ein Blitz direkt vor dem Fenster in den Boden fährt.
„Hast du Angst vor Gewittern?“ Ich erwarte, das Talib mich auslacht, doch er tut es nicht. Dann lässt er sich auf die Bettkante sinken und schaut mich an. Seine graublauen Augen schimmern in dem silbernen Licht. „Ich kann dich verstehen, ich mag sie auch nicht“, gesteht er.
„Ich habe keine Angst“, gebe ich wenig einfallslos zurück. Jetzt lacht er doch. „Mhm, aber ich.“
Er beugt sich über mich, so dass sein Gesicht direkt vor mir schwebt. „Darf ich mich in deine Arme kuscheln, bis das Gewitter vorüber ist?“
„Blödmann“, zische ich zurück. „Verarschen kann ich mich selbst!“
Er zuckt mit den Schultern und steht wieder auf. „Dann eben nicht.“
Ein lautes Grollen dröhnt zu uns herab, bringt meinen Körper zum Zittern. „Na gut“, nuschle ich mit rasendem Herzen und greife nach Talibs Arm. „Aber nur, bis es vorüber ist.“
Auf seinen Lippen klebt ein selbstgefälliges Grinsen. Talib steigt über mich hinweg ins Bett, zieht die Decke etwas zurück und schlüpft darunter.
„Dreh dich zu mir“, flüstert er, seine Stimme duldet keinen Widerspruch. Ganz langsam lege ich mich auf die Seite, um ihn ansehen zu können. Er streckt seine Hand nach mir aus und streicht mir durchs Haar. „Keine Angst, ich bin bei dir.“
Ich schlucke fest. „Gerade das macht mir ja Angst“, gestehe ich leise. Seine Hand wandert meinen Kopf herab, streicht sanft über meinen Hals und dann über meine Schulter. Er hinterlässt ein wohliges Kribbeln an den Stellen, an denen er mich berührt hat. „Ich werde dir schon nichts tun.“
Sein Arm packt mich fest um die Taille und mit einem Ruck zieht er mich an sich. Erschrocken keuche ich.
Talib leckt sich über die Lippen und seine Augen funkeln mich sehnsüchtig an. Mit einem Mal habe ich das Gewitter vollkommen vergessen. Na ja, fast.
Ich lege meinen Kopf auf seine Brust und lausche seinem Herzschlag, während er mit seiner Hand Kreise auf meinen Rücken malt. „Jetzt landen wir ja doch noch zusammen im Bett“, scherzt er, doch sein rauer Unterton verrät mir, dass er sich wirklich zusammenreißen muss.
„Komm bloß nicht auf dumme Ideen“, warne ich ihn. Talib klemmt mein Bein zwischen seine und drückt mir einen Kuss aufs Haar. „Das würde ich doch nie tun.“
Ich schließe die Augen und sauge seinen Duft in mich auf. Er riecht nach Zedernholz mit einem Hauch von Moschus. Und ein kleines Bisschen rieche ich auch noch den Duft von Käse-Makkaroni an ihm. Ich streiche ihm langsam über den Bauch, im selben Rhythmus wie er meinen Rücken liebkost. „Hast du immer noch Angst?“
„Vor dir oder dem Gewitter?“
Ein Lachen durchzuckt seinen Oberkörper. „Beidem.“
„Nein“, flüstere ich so leise, dass ich hoffe, dass er es nicht gehört hat. „Danke.“
Talibs Wärme geht auf meinen Körper über und ich fühle mich genauso geborgen, wie damals bei meinen Geschwistern. Dennoch löst er ganz andere Gefühle in mir aus. Mein Herz scheint zu explodieren und in meinem Magen kribbelt es. Es ist plötzlich ganz still zwischen uns geworden und ich genieße diesen Moment. Als ich die Augen langsam öffne, um nachzusehen, ob er eingeschlafen ist, bemerke ich, dass das Gewitter aufgehört hat. Auch Talib schaut aus dem Fenster nach draußen, sagt aber kein Wort.
Nur dieses eine Mal lasse ich das Gewitter in meinem Inneren weiter toben und schließe die Lider. Seine Nähe fühlt sich einfach zu gut an. Mit dem wilden Pochen seines Herzens und dem sanften Heben und Senken seines Brustkorbs gleite ich über ins Land der Träume.
Am nächsten Morgen wache ich in Talibs Armen auf. Allerdinsg scheinen wir im Schlaf die Positionen gewechselt zu haben. Er drückt sich an meinen Rücken, seinen Arm hat er unter meinen Kopf gelegt, der andere umschlingt meine Hüfte. Erschrocken darüber, wie nahe wir uns gekommen sind, schrecke ich hoch, wecke ihn dabei versehentlich auf. Gestern Nacht kam es mir unwirklich vor, wie ein Traum. Doch jetzt neben ihm aufzuwachen, bringt mein Herz erneut aus der Ruhe.
„Morgen“, murmelt er verschlafen. Er reibt sich über die Augen und sieht mich dann lächelnd an.
„Hast du gut geschlafen?“
Der Glanz in seinen funkelnd blauen Augen und der liebevolle Klang seiner Stimme lässt die feinen Härchen in meinem Nacken zu Berge stehen. „Könnte besser sein“, erwidere ich knapp und rutsche von ihm weg.
Nun richtet er sich auf, beugt sich zu mir herüber und drückt mich in die Matratze. Verzweifelt versuche ich ihn von mir abzubringen, als ich an seine Worte denke. An seine Berührungen und das sehnsüchtige Funkeln in seinem Blick.
Doch Talib ist zu stark. Sachte schüttelt er den Kopf. „Bitte nicht.“
Bitte nicht?
„Was?“ Gebe ich sichtlich verwirrt zurück. „Bitte zieh dich nicht wieder vor mir zurück und tu so, als wäre letzte Nacht nichts passiert.“
Was?!
„Aber letzte Nacht ist doch nichts passiert! Oder hast du...“ Meine Stimme überschlägt sich, bricht dann heiser ab. „Als ich geschlafen habe, hast du...“
Talib schnaubt belustigt. „Da habe ich auch geschlafen“, beteuert er mir. „Ich bin zwar verrückt nach dir, aber so verrückt bin ich dann auch wieder nicht.“
Erleichtert atme ich aus und auch mein rasendes Herz scheint sich etwas zu beruhigen.
„Außerdem hättest du es bemerkt, wenn ich etwas mit dir angestellt hätte“, flüstert er mir zwinkernd zu und rollt sich dann von mir runter.
Gähnend steigt er vom Bett, während ich noch immer daliege, unfähig mich zu bewegen.
Wieso rast mein Herz in seiner Nähe nur immer so? Und gleichzeitig ist er in der Lage, mich zu beruhigen, wenn ich es alleine nicht schaffe.
„Willst du zuerst duschen gehen?“ Er reckt sich und dabei zieht sich sein Shirt etwas nach oben und entblößt seine Bauchmuskeln. Wie gebannt starre ich darauf und kann mich nicht davon abwenden.
Er sieht mich amüsiert an. „Gefällt es dir?“
„Was?“ Ich zucke zusammen, zwinge mich dazu, ihm in die Augen zu sehen. „Ob dir gefällt, was du siehst?“
„Duschen“, murmle ich geistig komplett umnachtet. „Ich gehe zuerst.“ So schnell es geht krabble ich aus dem Bett und renne ins Badezimmer. Talibs prustendes Gelächter verfolgt mich bis zur Tür.
Das warme Wasser fühlt sich unheimlich gut an auf meiner Haut. Für einen Moment vergesse ich alles um mich herum und genieße einfach nur die Ruhe. Als ich nach dem Shampoo greife, bemerke ich, dass das Fläschchen anders aussieht. Auch der Duft ist neu. Es riecht nach einer tropischen Früchtemischung. Am stärksten nehme ich die Mango und Kokos Note wahr. Ich verteile es in meinem Haar und knete es gut ein.
Ob das vielleicht auch ein Mitbringsel von Leana ist?
Auch das Duschgel riecht anders. Nach Honig. Obwohl es nur eine Kleinigkeit ist, bin ich froh, dass ich nicht mehr nach Mann rieche. Die neuen Düfte sind so viel sanfter und umschmeicheln meine Nase.
Als ich mich abbrause klopft es an der Tür. Talibs Stimme dringt nur dumpf an mich heran. „Brauchst du noch lange? Oder wartest du nur darauf, dass ich zu dir reinkomme?“
„Bei so einem großen Ego wie deinem, ist in der Kabine nicht genügend Platz für uns zwei“, schreie ich zurück und stelle das Wasser ab. Ehe er noch auf die Idee kommt, seine Drohung wahr zu machen, schlinge ich ein großes, rotes Handtuch um meinen Körper und ein weiteres um mein Haar. Ich nehme mir die Bürste vom Waschbeckenrand und öffne die Tür.
Talib steht noch immer davor, sein Blick mustert mich nun von unten bis oben. Ich verschlinge die Arme vor der Brust und halte mit eisernem Griff mein Handtuch fest. „Du kannst jetzt rein.“
Er leckt sich über die Lippen, verzieht diese dann zu einem schelmischen Grinsen. „Weißt du wie gefährlich es ist, so leicht bekleidet heraus zu kommen? Ich könnte auf falsche Gedanken kommen.“
Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu. „Weißt du wie gefährlich es ist, mich vor meinem ersten Kaffee am Morgen zu reizen?“
Er lacht, drückt sich dann an mir vorbei ins Badezimmer. „Du weißt wo die Kaffeemaschiene steht. Mach mir auch einen mit.“ Dann schließt er die Tür und nach wenigen Sekunden höre ich, wie das Wasser auf den Boden der Duschkabine prasselt.
Ich tapse in die Küche und lasse Wasser in den dafür vorgesehen Behälter laufen, so wie Talib es mir gezeigt hat. Danach befülle ich den Kaffeefilter und der aromatische Geruch des bräunlichen Pulvers verwöhnt meine Sinne. Ich sauge den Duft in mich ein.
Dass ich so lange auf Kaffee verzichten konnte, ist mir echt ein Wunder.
Ich schalte die Maschine ein und laufe ins Schlafzimmer. Aus dem großen Schrank zerre ich ein paar der Klamotten, die mir Leana gegeben hat. Eine schwarze, enge Jeans und ein weißer Pullover mit Spitze, außerdem etwas frische Unterwäsche.
Nachdem ich mich angezogen habe, sinke ich zufrieden auf die Bettkannte und durchfahre mein noch immer feuchtes Haar mit der Bürste. Ich wickle eines der Haargummis, die mir ebenfalls Leana hinterlassen hat, um das Haar und ziehe es zu einem hohen Zopf.
Talib ist um einiges schneller als ich mit duschen fertig und ich bin froh, dass er nicht gerade dann rauskam, als ich mich umgezogen habe.
Zu meinem Glück ist er bereits vollkommen angekleidet.
Wer weiß, was er sonst meinem armen Herzen noch antut.
„Ist der Kaffee schon fertig?“ Er fährt sich durch das noch immer feuchte Haar. Allerdings wartet er meine Antwort nicht ab, sondern folgt direkt dem frischen Duft von Schokolade und Nuss in die Küche. Als ich zu ihm gehe, nimmt er gerade zwei schwarze Tassen aus dem Schrank und füllt sie mit der dampfenden Flüssigkeit. Er reicht mir eine und ich nehme sie lächelnd entgegen. Die Hitze des Kaffees dringt nach außen und wärmt meine Hände auf. Als ich einen Schluck davon trinke, wärmt er mich auch von Innen.
Talib sieht mich schmunzelnd an. „Solltest du dir nicht lieber die Haare föhnen bei dem Wetter?“
„Das hätte ich ja, aber jemand war so ungeduldig unter die Dusche zu kommen, dass ich nicht dazu kam.“
„Schlimm, diese Männer“, erwidert er spöttisch.
„Allerdings“, gebe ich zurück und nehme noch einen Schluck meines Kaffees. Talib tritt näher an mich heran und greift nach meinem nassen Zopf. Er spielt damit und seine Nähe macht mich plötzlich so nervös, dass ich mich nicht dagegen wehren kann. „Ich wusste, dass es gut an dir riechen würde.“
Ich räuspere mich, um etwas Fassung wiederzugewinnen. „Was?“
Hat er das Shampoo gekauft? Aber wann?
„Ich fand es schrecklich Taruns Duschgel an dir zu riechen“, gesteht er und riecht erneut an meinem Haar. Endlich bin ich in der Lage, seine Hand von mir zu lösen.
„Ich sollte wirklich meine Haare föhnen“, murmle ich einfallslos und trete aus der Küche.
Talib sieht mir nach, in seinen Augen liegt Etwas gefangen, das ich nicht zu deuten vermag.
„Danke, dass du es für mich gekauft hast“, bringe ich emotionslos hervor. Es versetzt mir einen Stich ins Herz und ich hasse mich selbst dafür, dass ich ihm in diesem Moment nicht ehrlicher gegenüber trete. Dabei freue ich mich wirklich sehr über diese Kleinigkeit.
Gedankenverloren trockne ich mein langes Haar, genieße die warme Luft, die mir ins Gesicht pustet. Ob ich ihm wohl eines Tages sagen kann, wie ich mich wirklich fühle? Ob ich ihm vollkommen vertrauen kann? Ob sich mein Herz irgendwann in seiner Nähe beruhigen wird?
Seufzend stelle ich den Föhn aus, kämme noch einmal flüchtig durch mein Haar und binde es erneut hoch.
Als ich ins Wohnzimmer komme, steht Talib am Fenster und drückt geistesabwesend auf seinem Handy herum. Langsam laufe ich auf ihn zu, doch er scheint mich überhaupt nicht zu bemerken.
Na warte, die Gelegenheit lasse ich mir doch nicht entgehen.
So leise wie möglich schleiche ich mich an ihn heran, selbst als ich direkt hinter ihm stehe, wirkt er noch immer weggetreten. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um ihm über die Schulter gucken zu können.
„10 Uhr. Kapellenstraße 39.“
Das ist doch in der Straße, in der Taruns Wohnung liegt.
„Was machst du da?“ Mein Plan scheint aufzugehen, denn Talib wirbelt erschrocken herum. Dabei stolpert er und hält sich an mir fest, um nicht umzufallen. „Äh, nichts.“
Er lässt mich sofort wieder los und geht einen Schritt zurück.
Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu. „Nichts?“
Er scheint zu bemerken, wie auffällig und dumm seine Lüge ist. „Ich habe nur eine Nachricht gelesen.“ Er bemüht sich gelangweilt zu klingen und zuckt mit den Schultern. „Sonst nichts.“
Ich nicke. „Achso.“
Irgendwas scheint er mir zu verheimlichen. Dabei war er doch derjenige, der wollte, dass wir ehrlich zueinander sind.
„Hör mal, ich muss nochmal wohin. Macht es dir etwas aus, auf mich zu warten? Es dauert sicher nicht länger als eine, maximal zwei Stunden.“
Ich blicke unauffällig auf die Uhr. Es ist bereits halb zehn, also hat er nicht mehr viel Zeit, um pünktlich zum Treffpunkt zu kommen.
Gespielt ruhig sehe ich zu ihm auf. „Ein bisschen Ruhe vor dir wird mir sicher gut tun.“
Doch er geht gar nicht auf meine Stichelei ein, sondern läuft direkt zur Garderobe, um seinen Mantel anzuziehen.
Hier ist wirklich mächtig was faul!
„Was hast du denn vor?“
„Ach, nur so ein Männerding“, erwidert er nach einem Moment der Überlegung.
„Männerding?“ Anscheinend hat er nicht lange genug darüber nachgedacht.
„Ja, Felan hat sich wohl ein Mädel aufgerissen und wird sie nun nicht mehr los. Ich soll ihn retten kommen.“ Die Lüge ist ihm praktisch ins Gesicht geschrieben.
„Kaum zu glauben, dass die Frauen nicht von sich aus die Flucht ergreifen“, gebe ich lächelnd zurück.
Wenn du mir nicht sagen willst, was hier vor sich geht, dann werde ich es eben selbst herausfinden.
Talib lacht aufgesetzt. „Sehe ich auch so“, murmelt er dann und läuft zur Tür. „Stell keinen Unfug an“, ruft er mir zwinkernd zu.
„Du auch nicht.“ Sein Blick bedeutet mir, dass er aber genau das vor hat.
Gerade als ich in meinen eigenen Mantel schlüpfe, um Talib hinterher zu spionieren, klopft es an der Tür. Talib ist schon zu lange weg, um zurückgekommen zu sein, weil er etwas vergessen haben könnte.
„Wer ist da?“, rufe ich zur Tür. Meine Muskeln verhärten sich, mein Puls rast. Plötzlich fühle ich mich so schrecklich hilflos und allein. Niemand ist da, der mir helfen könnte, wenn es jemand auf mich abgesehen hat.
„Ich bin es.“
Faye?
Ich eile zur Tür, öffne sie aber nur einen Spalt, um herausschauen zu können. Tatsächlich, er steht davor und reibt sich die Hände, pustet seinen warmen Atem auf die Handflächen. „Darf ich rein?“
Ich trete zur Seite, damit er ins Haus kann. „Was machst du hier?“
Er schaut mich gequält aus seinen graugrünen Augen heraus an. „Soll ich wieder gehen?“
Ich schüttle den Kopf. „Natürlich nicht, du weißt, dass ich dich gerne um mich habe. Aber beim letzten Mal warst du so schnell weg, bist einfach ohne ein Wort abgehauen und ich hatte keine Ahnung wo du steckst.“
„Tut mir leid.“ Seine Augen funkeln traurig auf. Er zieht mich in eine kurze Umarmung. „Ich werde dich niemals alleine lassen, das verspreche ich dir. Um ehrlich zu sein, bin ich untergetaucht, um Informationen zu sammeln. Aber ich habe mich die ganze Zeit davon überzeugt, dass es dir gut geht!“
„Welche Informationen? Und wie willst du dich denn bitte davon überzeugt haben? Hast du mich ausspioniert?“
„Natürlich nicht.“ Faye sieht verletzt aus und sofort bereue ich meine Unterstellungen. Mein bester Freund sieht sich einmal kurz in der Hütte um, vermutlich um sicher zu gehen, dass uns niemand hört. „Talib ist unterwegs“, lasse ich ihn wissen. Faye nickt nur knapp, hält mich dann an den Händen fest und schaut mir tief in die Augen.
„Nives, mich hat das nicht losgelassen, dieses ganze Gerede davon, dass du an diesen Talib gebunden bist.“ Er verzieht angewidert das Gesicht. „Da ist irgendetwas faul.“
„Aber die Prophezeiung...“, werfe ich ein, doch er unterbricht mich direkt. „Ich habe etwas herausgefunden, das ich dir zeigen möchte.“
„Ist es dringend, ich wollte eigentlich gerade los“, drängle ich, als mir Talibs Verabredung wieder einfällt. Faye sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Ich wäre nicht hier, wenn es nicht wichtig ist.“
Ich nicke ergeben. „Aber bitte schnell.“ Ich schiebe ihn zum Sofa herüber und lasse mich neben ihn fallen. Als sich unsere Knie berühren, beschleunigt sich mein Herz seltsamerweise nicht.
Das liegt sicher daran, weil ich Faye schon seit meiner Geburt kenne. Er ist gerade mal ein Jahr älter.
„Ich habe die Prophezeiung überprüft. Es gibt keinen Beweis dafür, dass ausgerechnet du es sein musst. Wobei ich auch eingestehen muss, dass ein paar Indizien dafür sprechen.“
Ich kaue ungeduldig auf der Unterlippe. „Das heißt?“
„Ich weiß es noch nicht, aber worauf ich eigentlich hinaus wollte, ist die Wolfsnacht. Hat dir der ach so tolle Talib auch davon erzählt?“
„Nein. Was ist das?“ Ich krame in meinem Gedächtnis nach einer Antwort. Die Wolfsnacht kommt mir irgendwie bekannt vor.
Faye zieht ein Papier aus seiner Manteltasche. Als ich es betrachte bemerke ich, dass es eine herausgerissene Buchseite ist.
„Der Wolfsmond taucht nur alle 150 Jahre für wenige Sekunden am Himmelszelt auf. Dabei verfällt der Himmel in ein tiefes Schwarz, der Mond jedoch hüllt sich in einen roten Schleier. Es ist bis heute ein ungeklärtes Phänomen, dass er in diesem Moment aussieht wie der Kopf eines heulenden Wolfes. Deshalb nennt man es auch die Wolfsnacht“, lese ich laut vor.
Was hat das zu bedeuten?
„Was ist damit?“
Faye tippt mit seinem Finger auf das Papier. „Ich habe nachgeforscht, dieser Wolfsmond wird in genau zwei Wochen am Himmel erscheinen. Und die Prophezeiung besagt, dass in genau dieser Nacht das Ritual durchgeführt werden muss, das jedes Schicksal verändern kann.“
„Zwei Wochen?“
Aber das bedeutet ja, dass mir kaum noch Zeit bleibt, um mich in Talib zu verlieben. Und überhaupt, muss ich wirklich mit ihm...schlafen?
Ich ringe aufgebracht nach Luft. „Bist du dir da sicher?“
Faye nickt, greift nach meinen Händen und drückt sie sanft, dabei zerknittert er die Buchseite. „Keine Angst, ich werde schnell eine andere Lösung finden. Ich werde dich nicht diesem Widerling überlassen.“
„Er ist kein Widerling!“ Ich entziehe mich Fayes Griff. Mein Freund sieht mich überrascht an.
Für einen kurzen Moment, bin ich selbst überrascht von mir,
„Nives, Kleines... ich verstehe ja, dass dich das Ganze überfordert, aber wir stehen das gemeinsam durch. Deshalb bin ich doch hier.“
„Und was ist, wenn Talib recht hat?“, werfe ich kopfschüttelnd ein. „Alles, was er behauptet hat, klingt logisch.“
Außerdem habe ich mich langsam mit dem Gedanken abgefunden, mich in ihn zu verlieben. Es könnte mich weitaus schlechter treffen.
Bei dem Gedanken an Felan schüttele ich den Kopf. Bloß nicht.
„Und was, wenn er dich nur ausnutzt?“ Faye legt den Kopf schief. Er mustert mich besorgt. „Ich bin mir mehr als sicher, dass er über den Wolfsmond Bescheid weiß. Weshalb hat er dir nichts davon erzählt?“
Ein stechender Schmerz zuckt mitten durch mein Herz. Mein Magen verkrampft sich und in meinem Kopf rauscht es. „Ich weiß es nicht“, gebe ich ehrlich zu. „Aber das werden wir jetzt herausfinden!“
Ich stehe von der Couch auf und zerre Faye mit mir hoch. „Hast du Lust, ein bisschen herumzuspionieren?“
Er sieht mich verwirrt an, reibt sich dann aber doch lächelnd durch den roten Bart. „Klingt gut.“
***
Zusammen mit Faye stapfe ich durch den hohen Schnee, der es uns schwer macht, schnell in die Stadt zu gelingen. Doch gerade jetzt, haben wir es eilig. Wieso hat mir Talib nicht von der Wolfsnacht erzählt? Und was versucht er vor mir zu verbergen? Vielleicht kann ich ihm wirklich nicht trauen?
Nachdenklich kaue ich auf der Unterlippe. Ich werde noch verrückt, wenn ich nicht bald Klarheit bekomme.
Faye scheint meine Unsicherheit zu spüren und legt seinen Arm auf meine Schulter. „Keine Sorge Kleines, gemeinsam stehen wir das durch. Wie in den alten Zeiten.“
Ich schaue zu ihm auf und lege meine Hand auf seine. „Habe ich dir schon einmal gesagt, wie dankbar ich dir bin? Du bist der beste Freund, den man haben kann!“
Seine Mundwinkel zucken nach unten. „Nives, ich weiß, dass du gerade den Kopf voll mit anderen Dingen hast, aber ich möchte ehrlich sein...“
Ich mustere ihn neugierig. Der sonst so selbstsichere und intelligente Faye, wirkt nun wie ein unsicherer Welpe. „Wenn all das hier vorbei ist, würde ich dich gerne zu meiner Gefährtin machen. Du bist die Einzige, die ich will. Ich liebe dich, Kleines.“
Was?Warte...was?
„Aber, Faye ich...“ Er legt mir seine freie Hand sanft über den Mund. „Ich weiß, du glaubst, dass du zu Talib gehörst, aber ich weiß einfach, dass es nicht so ist. Ich werde es dir beweisen.“
Als er meinen Blick bemerkt, nimmt er die Hand von meinen Lippen. „Faye, weißt du...“, setze ich vorsichtig an.
„Liebst du ihn bereits?“
„Nein!“ Ich denke nicht. Ich weiß es nicht.
Faye mustert mich kritisch. „Aber mich liebst du auch nicht. Oder?“
Ich suche angestrengt nach Worten, die mir seinen traurigen Blick ersparen können, doch ich finde sie nicht. „Ich liebe dich, wie einen Bruder.“
Faye nickt wissentlich. „Das kann sich aber noch ändern“, entgegnet er hoffnungsvoll und nimmt seine Hand von meiner Schulter. „Jetzt sollten wir aber erst einmal dein Schicksal umschreiben.“
„Faye, es tut mir leid“, presse ich hervor. Der Gedankenstrudel in meinem Kopf raubt mir die Besinnung. Doch mein Freund sieht mich mahnend an. „Das muss es nicht. Wenn ich eines nicht will, dann ist es, dass du dich schuldig fühlst. Okay?“
Ich nicke sanft. „Ich kann es ja mal versuchen.“
Er lacht und seine Augen lachen fröhlich mit. Dieser Anblick besänftigt meinen inneren Sturm ungemein und lässt ihn zu einem lauen Gedankenwind abschwächen.
„Wir sollten die Abkürzung durch den Wald nehmen“, sage ich, als wir an den ersten Tannen in der Nähe der Hütte ankommen. „Es ist zwar gefährlicher, aber der Weg ist um einiges kürzer. Und von so ein paar wilden Wölfen lassen wir uns doch sicher nicht abschrecken“, scherze ich. Faye nickt und folgt mir durch den Schnee, seine Fußspuren überdecken meine.
Ich schlinge den Schal enger um meinen Hals und stecke die Hände in die Jackentaschen. Es ist wirklich verdammt kalt geworden.
„Warte!“ Fayes Hand greift blitzschnell nach meinem Arm und hält mich fest, seine Stimme klingt alarmierend.
Als ich mich zu ihm umdrehe, bemerke ich, dass sich seine moosfarbenen Augen in das ursprüngliche Goldbraun getaucht haben. Was geht hier vor sich? Wieso kann er sich verwandeln? Und wozu überhaupt?
Panisch blicke ich mich um, kann aber nichts entdecken. Auch in der Luft liegt kein ungewöhnlicher Geruch, der mich argwöhnisch stimmt.
Fayes Verwandlung ist abgeschlossen. Der rotbraune Wolf mit den schwarzen Flanken steht so vor mir, wie ich ihn aus meinen vergangenen Tagen kenne.
„Was ist los?“, flüstere ich. Fayes Muskeln sind bis zum Zerreißen angespannt.
„Bleib zurück!“, knurrt er. Ich folge seinem Blick, der sich auf die Tannen etwas rechts von uns fixiert. Plötzlich dringt schwarzer Nebel aus dem Gestrüpp hervor und hüllt uns in einen dunklen Schleier, der die Bäume um uns herum verschwinden lässt und langsam breitet er sich auch zwischen meinem Wolfsfreund und mir aus. Ich muss husten, als ich ihn einatme und meine Augen brennen leicht. Ich presse sie eng zusammen, versuche etwas erkennen zu können.
„Was ist das?“
Faye sieht mich nicht an, stattdessen entblößt er seine scharfen Reißzähne. „Schwarze Magie.“
Was? Aber...
„Lauf!“, brüllt er, doch ich bewege mich nicht. „Nur wenn du mitkommst!“
Faye knurrt, blickt mich nur eine Sekunde lang an. Sein Blick ist der eines Wolfes. Ein Wolf, der festentschlossen ist zu kämpfen. „Lauf!“, befiehlt er mir erneut und hechtet dann nach vorn.
Er rast gezielt auf die Tannen zu. Ein lautes Gebrüll, das mich bis ins Mark trifft, zerreißt die angespannte Stille. Es ist der Schrei eines Bären.
Nein! Wie soll Faye alleine gegen einen Bären bestehen?
„Faye!“, schreie ich verzweifelt, doch der Nebel ist nun so dicht geworden, dass ich ihn nicht mehr sehen kann. Tränen brennen in meinen Augen, mein Atem dringt stoßartig hervor. Ich renne auf die Tannen zu, bemerke erleichtert, dass sich der schwarze Nebel dort etwas lichtet.
Doch es ist immer noch schwer überhaupt etwas zu erkennen.
Wenn ich mich doch nur auch verwandeln könnte.
„Faye!“, schreie ich hilflos. Ich höre ihn aufwinseln, danach folgt das wütende Gebrüll des Bären. Ich renne weiter in die Richtung, aus der die Geräusche kommen.
Angestrengt suche ich nach einer Lösung in meinem Gedankenstrudel, doch mir fällt nichts ein, wie ich meinen besten Freund retten kann. Faye, der mich immer beschützt hat. Der mich immer zum Lachen gebracht hat, wenn ich mich schlecht fühlte. Und der mir bis in die Menschenwelt gefolgt ist und sein eigenes Schicksal zurückgelassen hat.
Eine starke Hitzewelle durchflutet mich, es ist als würden meine Knochen glühen, zerbersten. Ich fühle eine Macht durch meinen Körper strömen, die einen Ausweg sucht. Und dann tritt ein stechender Schmerz hinter meine Augen, durchfährt meinen Kopf. Ich kann es spüren, es ist so wie beim letzten Mal, als das Schneegewitter in meinen Augen tanzte und ich kurz davor war, mich zu verwandeln.
Ich versuche all die Gefühle, die Gedanken freizulassen. Ich versuche die Kraft anzunehmen und sie zu kontrollieren. Ich versuche mit all meiner verbliebenen Macht, mich zurückzuverwandeln, denn es ist die einzige Chance, Faye zu retten.
Doch es bricht so plötzlich alles wieder in sich zusammen, wie es aufgetaucht ist. Die Verwandlung bleibt aus und so auch meine letzte Hoffnung.
„Faye, bitte sag mir, dass es dir gut geht!“ Natürlich weiß ich, seinem Heulen nach zu urteilen, dass es ihn schwer erwischt haben muss, aber es ist die Hoffnung, die aus mir spricht.
Als ich die Nebelwolke verlasse und endlich etwas erkennen kann, sehe ich ihn im Schnee liegen. In seinem rotbraunen Fell klebt Blut und es mischt sich immer mehr darunter. Seine Augen sind geschlossen. Vor ihm ragt ein riesiger, brauner Bär auf, der mindestens das Doppelte meiner Größe erreicht. Er brüllt erneut und lässt seine Pranke auf den leblosen Faye runtersausen. „Nein!“, brülle ich, spüre wie die zurückgehaltenen Tränen nun ausbrechen. Entsetzliche Wut und Verzweiflung durchflutet meinen Körper, lassen ihn erbeben. Der Bär hält kurz vor dem Wolfskörper inne, dreht sich dann knurrend zu mir um. Er türmt sich vor mir auf und schreit noch wütender als zuvor. Es versetzt mir eine Gänsehaut und lässt mich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er schlägt mit seiner wuchtigen Pranke nach mir, reflexartig weiche ich zur Seite aus, doch ich rutsche ungeschickt aus und falle in den Schnee. Mein Herz trommelt gegen meinen Brustkorb, hinter meinen Schläfen pulsiert es. Ich krabbele durch den Schnee, versuche mich aufzurappeln, doch der Bär schlägt immer weiter nach mir. Allein das Adrenalin, das durch meinen Körper jagt, lässt mich weiter durch den Schnee kriechen. Schneller werden. Gerade als es mir endlich gelingt, mich auf die Beine zu stellen, trifft mich seine riesige Pfote am Kopf. Seine scharfen Krallen schneiden in mein Gesicht und reißen Hautfetzen heraus.
Der Schmerz wird vom Adrenalin gedämpft und dennoch ist er so stark, dass ich nichts anderes mehr fühle. Das letzte, das ich noch wahrnehme, ist ein schwarzblauer Rabe, der sich aus den Tannenzweigen erhebt und in den Himmel aufsteigt. Und mich hier meinem Schicksal überlässt.
Talib, ich...