Nayara
Die Prophezeiung.
Wenn der Mond in die Schatten verfällt,
von der Sonne keine wärmenden Strahlen erhält,
wenn die Welt in vollkommener Finsternis steht,
und das Blut am Himmel zergeht.
Wenn der Kreis des Lebens besiegelt ist,
Kreide auf dem heiligen Grund einen Zirkel misst,
wenn die Linie ihren Partner findet
und der Mond sie miteinander verbindet.
Wenn das Blut der Gefährten fließt,
unerschrocken seinen Weg aus dem Zirkel frisst,
wenn sich die magischen Welten begegnen,
und zu einem gemeinsamen Universum absegnen.
Wenn es keine Zweifel mehr gibt,
und ein Körper den anderen liebt,
wenn sich zwei Schicksale miteinander vereinen,
erst dann soll die Welt es gut mit ihnen meinen.
***
Dicke Schweißperlen rinnen von Talibs Stirn, die er in Falten gelegt hat. Seine Lippen verzieht er schmerzlich. Immer wieder dringt ein leises Stöhnen aus seiner Kehle als würde er nach Hilfe schreien. Während Leana ein Stofftuch in die blaue Wasserwanne neben dem Bett taucht und dann das kalte Wasser wieder ausringt, um das feuchte Tuch auf Talibs Stirn zu legen, laufe ich nervös im Raum auf und ab. Mein Blick ist stets auf den schlafenden Mann gerichtet, der von einem Albtraum gequält zu werden scheint.
Was tue ich hier eigentlich?
Ich zwinge mich wegzusehen, presse die Lippen fest aufeinander.
Dieser Kerl hat mir bisher nur Unglück gebracht, wieso sollte ich mich also sorgen? Mal ganz abgesehen davon, dass er auf mich losgegangen ist.
Entschlossen balle ich meine Hände zu Fäusten.
Er hat es verdient zu leiden. So wie er mich leiden ließ.
Ich halte ihn erneut mit einem zornigen Blick fest. Ich sehe dabei zu, wie er sich qualvoll unter der schweren Bettdecke windet. Er keucht und seine Lippen zittern.
Ich schlage die Lider zu, versuche diesen Anblick wieder zu vergessen.
Aber... hat er es wirklich verdient so zu leiden? Immerhin hat er mich gerettet.
Auf die Palme gebracht hat er mich auch, aber seine Augen, sie wirkten die ganze Zeit so warm. So aufrichtig.
Hin und her gerissen in meinen eigenen Gedanken, kaue ich auf meiner Unterlippe herum. Zupfe gedankenverloren an dem Kragen des Wollpulvers, der unangenehm über meine Haut kratzt.
Plötzlich tritt jemand neben mich, berührt mich leicht am Arm. Ich zucke zusammen und schlage die Lider auf, blicke in Dantes blaue Augen. Sie schimmern voller Besorgnis.
„Willst du dich nicht setzen und einen Tee trinken?“ Er mustert mich streng, verzieht seine dünnen Lippen aber zu einem schmalen Lächeln.
Ich schüttele den Kopf. „Nein, es geht mir gut.“
Er nickt, scheint mir aber nicht zu glauben. „Wie du sicher weißt, heilen Wölfe schneller als Menschen, deshalb brauchst du dir keine Sorgen um die beiden zu machen.“
Dante deutet auf Talib, der sich noch immer unruhig im Bett hin und her wälzt. Und auf Tarun, den sie auf einem Berg aus Decken und Kissen gelegt haben. Er scheint seelenruhig zu schlafen. So ruhig, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob er noch atmet. Beide sind mit Kratzern und Blutergüssen im Gesicht versehen, wobei ich mir sicher bin, dass ihr restlicher Körper noch schlimmer aussieht.
„Ich mache mir keine Sorgen“, gebe ich scharf zurück.
Sein Grinsen wird breiter, seine Augen leuchten belustigt auf. „Schon klar.“
Dann dreht er sich einfach um und lässt mich alleine zurück.
Ich werfe ihm einen zornigen Blick nach.
Talib interessiert mich kein Bisschen!
Ich schlurfe zu dem kleinen Esstisch hinüber und lasse mich auf einen der Stühle fallen, der dabei leise knackt. Ich schaue mich in der kleinen Hütte um. Leana und Aiden kümmern sich um die verletzten Brüder, während sich Dante nun zu Felan gesellt hat. Die beiden unterhalten sich und sehen dabei so ernst aus, dass die Neugierde unter meiner Haut zu knistern beginnt.
Worüber die Zwei wohl reden?
Doch so sehr ich mich auch anstrenge, um etwas zu verstehen, die anderen Geräusche um mich herum sind so laut, dass es einfach keinen Sinn ergibt. Das Knacken des Holzes, welches im Kamin vom Feuer verschlungen wird. Das Geplätscher der Wasseroberfläche, wenn sie erneut von einem Händepaar durchstoßen wird, um einen Stoffetzen darin zu baden. Und Talibs unerträgliches Stöhnen.
Talib, dieses Hornochse.
Ich stütze meine Ellbogen auf den Tisch und lasse mein Gesicht mit einem tiefen Seufzen in die Hände gleiten. Mit jeder verstrichenen Sekunde in dieser neuen Haut, scheine ich auch meine Wolfsfähigkeiten immer und immer mehr zu verlieren. Und meinen Verstand.
Seit ich in einen Menschen verwandelt wurde, war Talib die erste Person, auf die ich traf. Er hat mich vor einem Schneesturm gerettet und hier aufgenommen. Er hat sich um mich gekümmert und mich gepflegt.
Doch dieselbe Person hat mich auch angelogen und getäuscht. Dieser Lüstling hat versucht sich in jedem nur möglichen Moment an mich ranzumachen, um mich für seine Zwecke zu benutzen.
Die Bilder an unseren beinahe Kuss steigen in mir auf, hängen sich in meinem Gedächtnis fest. Das Gefühl seiner zärtlichen, liebevollen Berührungen brennt auf meiner Haut.
Welcher Talib ist der echte?
Ich versuche jeden Gedanken an ihn zu verdrängen. Ich habe bereits genug Zeit mit ihm verschwendet. Ich sollte diesen Moment nutzen und abhauen. Endlich fliehen und meinen eigenen Weg gehen.
Aber was, wenn Talib meine einzige Lösung ist, um wieder eine Wölfin zu werden?
Immerhin scheint er dasselbe Problem zu haben.
Unentschlossen und verwirrt versinke ich erneut in meinem Gefühlschaos, das mich nur unbeweglich da sitzen lässt.
Was soll ich nur tun? Er könnte meine Chance sein, um mein Schicksal zu ändern.
Aber er hat auch versucht mich zu töten. Würde ich sicher in seiner Nähe sein? Kann ich ihm überhaupt auch nur ein winziges Bisschen trauen?
Erneut dringt ein Seufzen aus meiner Kehle.
Entscheide dich endlich!, ermahne ich mich selbst. Werde allerdings erneut von Dante zurück in die Realität gerissen. Er setzt sich auf den mir gegenüberliegenden Stuhl und fährt sich durch die schwarzen Locken, schiebt mir dann eine cremefarbene Tasse rüber, aus der heißer Dampf aufsteigt.
Hinter ihm tritt Felan näher heran und wirft mir einen eindringlichen Blick zu.
„Wir haben ein paar Antworten auf deine Fragen“, stößt er rau aus, seine Stimme klingt kratzig.
„Wir wollen dir wirklich nur helfen, du kannst uns vertrauen.“ Dante wendet sich mit einem tiefen Blick an mich, seine Augen glänzen einfühlsam.
Das hat mir schon einmal jemand versprochen.
Argwöhnisch blicke ich sie an, schließe die Finger fest um die Tasse vor mir, spüre die Wärme unter meine Haut kriechen.
„Warum ich?“ Eigentlich kenne ich die Antwort auf diese Frage bereits, aber ich brauche Gewissheit.
„Du bist auch eine Wölfin, oder?“ Dante nimmt einen kräftigen Schluck Tee, starrt mich aber weiter an. Ich tue es ihm nach. Heißer Kräutertee breitet sich in meinem Mund aus. Ich schlucke ihn runter und setze zu einer Antwort an.
Das war keine Frage.
„Woher wusstet ihr das?“
Die beiden Männer grinsen sich verschmitzt an, ehe sich Felan zu mir herunter beugt. „Wir können es riechen.“
Mir ist klar, dass Wölfe einen ausgeprägten Geruchssinn haben, aber seit ich in einen Menschen verwandelt wurde, hat sich meine Wahrnehmung so sehr verschlechtert, dass ich sie alle für echte Menschen hielt. Wieso also ist es ihnen noch möglich?
Wie kann ich immer noch nach Wolf riechen, wenn ich mich allmählich gar nicht mehr wie einer fühle.
Mein Herz setzt einen Schlag aus, geriet bei dieser Erkenntnis ins stocken, nur um dann in einen wilden, verzweifelten Rhythmus auszubrechen.
„Weshalb wurdet ihr in Menschen verwandelt?“ Bei meiner Frage wechseln die Beiden verzweifelte Blicke.
„Es wäre uns lieber, wenn Talib dir das erzählt“, murmelt der Lockenkopf dann, legt die Stirn in Falten. Wütend schlage ich mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich dachte ihr wolltet mir helfen. Ihr hab gesagt, ihr gebt mir die Antworten, nach denen ich suche.“
So viel zum Thema Vertrauen.
Aus Felans Kehle dringt ein tiefes, warnendes Knurren.
„Unsere Hintergründe haben nichts mit dir zu tun.“ Seine Worte klingen drohend und ich weiß, dass ich nicht weiter nachfragen sollte, aber ich muss es wissen. Ich brauche Klarheit.
„Wie soll ich euch trauen, wenn ihr nicht mit offenen Karten spielt?“
Felans Blick verfinstert sich. „Vielleicht vertrauen wir dir einfach nicht genug.“
„Felan!“, mahnt Dante ihn und drängt ihn ein Stück zurück.
„Nayara“, er betont meinen Namen, zieht ihn absichtlich in die Länge.
Nayara ist der menschliche Name, den mir die Ältesten aufgezwungen haben. Nayara, die Wanderin. Die nach ihrem Schicksal sucht.
„Ich weiß, dass es dir schwer fällt uns zu glauben, aber unsere Vergangenheit spielt gerade wirklich keine Rolle. Wir wollen es dir auch nicht verheimlichen, aber Talib sollte derjenige sein, der es dir erzählt. Bitte habe etwas Geduld.“
Ich presse die Lippen aufeinander, überlege kurz.
Ich weiß sowieso nicht wohin und zur Zeit scheint keine Gefahr von ihnen auszugehen, also kann ich auch bleiben und abwarten, was Talib mir zu sagen hat. Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht weiterhin auf der Hut sein werde.
„Von mir aus“, stoße ich mit dünner Stimme hervor.
„Und was genau wollt ihr nun von mir?“ Ich versuche eine ausdruckslose Miene aufzusetzen.
„Es gibt da etwas, das du wissen solltest“, erklärt mir Dante, während Felan ihm ein zerknittertes Stück Papier reicht, das er mir über die Tischkante herüber schiebt. „Talib hatte gehofft, dass du diejenige bist, die er gesucht hat. Diejenige, die sein Schicksal ändern kann. Unser aller Schicksal.“
Ich streiche das Papier glatt, überfliege die Zeilen, lasse jedes einzelne Wort auf mich wirken.
„Wenn es keine Zweifel mehr gibt, und ein Körper den anderen liebt, wenn sich zwei Schicksale miteinander vereinen, erst dann soll die Welt es gut mit ihnen meinen“, wiederhole ich gedankenverloren den letzten Absatz.
Was soll das nur bedeuten?
„Was ist das?“ Ich zwinge mich selbst dazu, ruhig zu klingen. Doch mein Innerstes ist aufgebracht, verwirrt und erahnt, dass ich die Antwort eigentlich gar nicht hören will.
„Es ist eine alte Prophezeiung. Wir glauben, dass deines und Talibs Schicksal miteinander verknüpft wurde. Ihr braucht einander, um eure Ziele zu erreichen“, erklärt Dante, als er meinen verwirrten Ausdruck zu bemerken scheint. Er schenkt mir ein zuversichtliches Lächeln. „Nives, du und Talib müssen ein Liebespaar werden, erst dann können wir alle zurück in unsere Wolfsgestalt.
Was? Nein! Aus welchem Märchenbuch habt ihr das denn geklaut?
„Auf keinen Fall!“ Hastig trinke ich von dem Tee, schlucke ihn mitsamt meines Missfallens herunter. „Und sprich mich ja nie wieder mit meinem Namen an, solange ich... das hier bin!“
Wut, Angst, Verwirrung, Hilflosigkeit. In mir toben so viele Schlachten der Emotionen, dass ich selbst nicht einmal mehr weiß, was ich fühlen soll. Oder denken.
Ein Liebespaar?
„Wie soll das denn funktionieren? Ich könnte mich niemals in einen wie ihn verlieben. Außerdem hätte er mich fast getötet, ich bin nicht sicher in seiner Nähe!“, setze ich hinterher.
„Das wissen wir“, bestätigt mir der Anführer, „und versteh mich nun bitte nicht falsch, ich kann nicht schön reden, was passiert ist, aber Talib ist noch ein Jungwolf, der gerade eine schwere Phase durchmacht. Manchmal hat er seine Gefühle einfach nicht unter Kontrolle und der Wolf in ihm kann sehr mächtig sein. So mächtig, dass er seine Sinne verliert. Aber wir arbeiten daran. Er selbst arbeitet daran.“ Dante macht eine kurze Pause, als er meinen Blick auffängt. „Es tut ihm sicher selbst schrecklich leid.“
Das verstehe ich. Das verstehe ich so gut. Nur mit Hilfe meiner älteren Geschwister, die mich immer beschützt und bestärkt haben, habe ich gelernt meine Wolfstriebe zu zügeln. Sie zu kontrollieren. Sie zu beherrschen.
Wäre ich jetzt im Stande mich zu verwandeln, so wie es Felan und die anderen können, würde ich sicherlich auch das Biest in mir freilassen. Da es so schrecklich verwirrend hier ist. Und angsteinflößend. Einsam.
Ich verstehe ihn und mache ihn keinen Vorwurf, zumindest versuche ich es. Und schließlich habe ich mich selbst mit ihm angelegt, obwohl ich das Glühen seiner Augen bemerkte.
„Jedenfalls wollen wir dich zunächst woanders unterbringen, bis sich die Wogen geglättet haben“, reißt Dante mich aus meinen Gedanken.
Er scheint eigentlich ein ganz netter Kerl zu sein.
„Und der Abstand zu ihm soll mir dabei helfen, Gefühle für einen lüsternen Widerling zu entwickeln?“ Ich ziehe die Augenbrauen fragend nach oben, schnaube verächtlich. Dante lacht. „Natürlich nicht, aber du würdest dich doch zumindest sicherer fühlen, oder?“
Ich nicke. „Ein wenig“, gebe ich dann zu. „Aber wo soll ich denn hin?“
Die beiden Männer zucken mit den Schultern.
„Vorübergehend könntest du bei mir..“, setzt Felan an, doch ich unterbreche ihn sofort.
„Da bleibe ich lieber hier!“, schreie ich, ernte dafür einen missmutigen Blick aus Felans schwarzen Augen. Selbst Leana und Aiden schielen kurz herüber.
Ich traue diesem Kerl keinen Meter über den Weg. Er ist gefährlich. Weitaus gefährlicher als Talib.
„Zu mir und Leana kannst du nicht“, mischt sich Dante ein, seine Wangen verfärben sich leicht rötlich. „Wir haben nicht genug Platz, außerdem...“ Er schaut zu seiner Gefährtin rüber und schenkt mir dann einen vielsagenden Blick. „Wir genießen unsere Zweisamkeit.“
Oh, da will ich bestimmt nicht stören.
Plötzlich tritt Tarun in mein Sichtfeld, dem es allem Anschein nach um einiges besser geht. Er stützt sich mit einer gequälten Miene an der Tischplatte ab, scheint noch immer Schmerzen zu haben. Dante greift nach seinem Arm. „Du solltest dich noch etwas ausruhen“, gibt er dem braunhaarigen Mann neben mir zu bedenken, doch dieser ignoriert ihn vollkommen. Stattdessen beugt er sich herunter, sodass sein Gesicht direkt vor meinem schwebt. „Du könntest mit zu mir kommen.“
Ich werfe einen verstohlenen Blick zu Talib hinüber. Er schläft noch immer, doch er ist ruhiger geworden. Vermutlich konnte er den Albtraum abschütteln und sich nun vollkommen auf seine Heilung konzentrieren.
Bei ihm bleiben wäre keine gute Idee, er hat zu viel Schaden angerichtet, als dass ich unter einem Dach mit ihm schlafen könnte.
Ich benötige Abstand, doch sobald er wieder gesund ist, werde ich meine Antworten von ihm bekommen. Und dieses Mal alle Antworten, die ich brauche.
Ich verziehe die Lippen zu einem zaghaften Lächeln. „Das klingt gut.“
***
Deine schweren Lider sind stets geschlossen,
blenden all das Vergangene aus dem Herzen,
denn all die leidvollen Tränen, die bereits flossen,
sind Zeugen deiner unendlichen Schmerzen.
Fährst mit der Zunge über deine tiefen Wunden,
suchst ein Heilmittel für dein zerrissenes Vertrauen,
all die Schatten haben es zu Tode geschunden,
lassen dich in einen tiefen Abgrund schauen.
Stählerne Krallen drücken deine Kehle zu,
die Luft zum Atmen bleibt dir aus,
die bösen Mächte gönnen dir keine Ruh‘,
der Weg verschwimmt, lässt dich nicht mehr raus.
Eisern willst du die Einsamkeit überstehen,
um jeden Preis dein Schicksal umschreiben,
willst nicht nochmal durch die Hölle gehen,
sondern im Meer der Träume treiben.
Ein einfaches, aber ernst gemeintes Wort,
eine zarte Berührung, ein Kuss,
trägt dich an einen verzauberten Ort,
lässt dich vergessen, dass es grausam enden muss.
Dein verletztes Herz will endlich fliegen,
deine müden Lippen sollen lachen,
deine Gefühle wollen die Zweifel besiegen,
denn du sollst endlich aus dem Albtraum erwachen.
***
Knarzend schwingt die weiße Tür des Studentenwohnheims nach innen, Tarun überlässt mir den Vortritt.
„Die Dame“, näselt er und deutet eine Verbeugung an. Ich schaue ihn verwirrt an, wende dann meinem Blick dem Inneren der Wohnung zu. Ein schmaler Flur, auf dessen hölzernen Boden eine Ansammlung von Schuhen und Jacken überall verstreut liegt. Unsicher trete ich an ihnen vorbei den langen Flur entlang, rechts von mir befindet sich ein Türrahmen ohne Tür. Ich kann nur einen kurzen Blick auf die grau-grüne Küchenzeile erhaschen, bevor Tarun mich ungeduldig weiter schiebt.
Schon seltsam wie Wohl ich mich bei ihm fühle, obwohl er mir so nah kommt. Er wirkt so offen und ehrlich, dass ich nicht den geringsten Grund habe, ihm zu misstrauen. Zumindets hoffe ich das.
Ein paar Schritte weiter links ist das Badezimmer, erklärt er mir. Sehen kann ich es allerdings nicht, da sein Mitbewohner sich darin eingeschlossen hat und laut grölend versucht gegen einen Metalsänger aus dem Radio anzuschreien. Tarun schenkt mir ein belustigten Gesichtsausdruck, als er meinen irritierten Blick bemerkt.
„Kenny ist etwas schräg, aber ein echt netter Kerl.“
„Kenny?“, frage ich neugierig.
Etwa im selben Moment öffnet sich die Badezimmertür schwungvoll nach außen, ich mache einen Satz zur Seite, um nicht getroffen zu werden.
„Kenneth, freut mich.“ Ein hochgewachsener, fülliger Kerl mit langem Bart und Glatze streckt mir die prankige Hand entgegen. Seine Augenbrauen sind so buschig, dass die schmalen, dunklen Augen darunter noch viel kleiner wirken.
Ein wenig verunsichert greife ich danach und schüttele sie. „Nayara.“
Er nickt leicht.
„Ein neuer Zeitvertreib?“ Er richtet seinen Blick über mich hinweg an Tarun.
Verwirrt drehe ich mich zu ihm herum. Der braunhaarige Mann hat ein freches Grinsen aufgelegt.
„Leider nicht“, erwidert er dann gespielt empört. „Sie wird eine Weile unser Gast sein. Ich hoffe das ist in Ordnung.“
„Klar.“ Der große Bärenähnliche Typ vor mir nickt erneut, lässt aber keinerlei Gefühlsregung durchscheinen.
Jetzt weiß ich was Tarun mit schräg meinte.
„Ihr entschuldigt mich?“ Seine bassartige Stimme füllt erneut den Flur, ehe er sich an mir vorbeidrängt und hinter einer leuchtend roten Tür verschwindet und diese knallend ins Schloss fallen lässt.
„Nett.“
Tarun lacht laut auf, ehe er mich durch die letzte Tür schiebt. Sie ist himmelsblau und hat an einigen Stellen schon etwas von der zart glänzenden Farbe eingebüßt.
„Das ist das Wohnzimmer“, bemerkt er knapp und deutet auf eine dunkelbraune Ledercouch, die an so mancher Stelle mit Klebeband davor bewahrt wird, auseinander zu fallen. In der Ecke daneben, unter einem winzigen Dachfenster, türmen sich bunte Kissen und ein paar Wolldecken. Es sieht ziemlich gemütlich aus. Schräg gegenüber befindet sich ein Fernsehgerät auf einer offenen, weißen Kommode, in die Bücher und zerfledderte Magazine gestopft wurden. Viel größer ist das Wohnzimmer nicht.
„Und wo schläfst du?“ Ich schaue ihm in die hellgrauen Augen, die mit seinem Grinsen um die Wette strahlen.
„Das ist mein Reich“, verkündet er und tritt hinter einen schwarz-weiß gestreiften Vorhang in der anderen Ecke des Raums.
Ich folge ihm.
Vor mir liegt ein kleines, quadratisches Zimmer. In der einen Ecke ein schmales Bett mit dunkelgrünen Laken, daneben befindet sich ein schwarzer Beistelltisch, auf dem sich neben einer kleinen Lampe ohne Schirm große, dicke Bücher stapeln. Genau gegenüber steht ein ebenfalls schwarzer Schreibtisch, der von einer Vielzahl Papieren bedeckt wird. Das schmale Fenster dahinter spendet nur spärlich das Licht der Abendsonne, sodass Tarun einen Lichtschalter anknipst und sich dann auf das Bett fallen lässt.
Die gelben Wände wirken durch das helle Licht nun noch freundlicher und wollen irgendwie gar nicht so recht hier herein passen.
„Fühl dich ganz wie Zuhause.“ Er zwinkert mir zu und nimmt sich dann einen der dicken Wälzer vom Nachttisch und blättert darin herum.
Ich hebe den Klamottenberg vom Drehstuhl, der sich vor dem Schreibtisch befindet und setze ihn so ordentlich es geht auf den Boden daneben. Dann mache ich es mir auf dem ledernen Stuhl bequem.
Ich werde mich schon noch daran gewöhnen. Es ist immerhin besser als bei Talib zu sein.
Auch wenn ich seinen Ausbruch verstehen kann, ist er nicht vergessen. Und auch all seine Handlungen davor, lassen mich viel zu oft vergessen, dass er ziemlich nett sein konnte.
Neugierig lasse ich meinen Blick über das Papierchaos wandern. Abbildungen des menschlichen Skeletts und ewig lange Texte über die Anatomie des Menschen. Bilder von Knochen, die mit Nägeln und Platten zusmmengehalten werden.
Ich blicke neugierig zu Tarun herüber, der so in seine Lektüre vertieft zu sein scheint, dass er mein Räuspern einfach überhört. „Was studierst du eigentlich?“
Er heftet den Blick weiterhin auf das Buch vor sich. „Medizin“, erwidert er knapp.
Das ergibt Sinn.
„Wieso?“, will ich dann wissen, stoße mich mit den Händen vom Schreibtisch ab, um mich im Stuhl zu drehen. Er quietscht.
„Warum nicht?“, säuselt er, scheint aber gar nicht wirklich zugehört zu haben. Vermutlich ist es besser ihn in Ruhe zu lassen.
Ich drehe mich noch einmal und das Quietschen wird lauter. Tarun scheint es allerdings gekonnt auszublenden. Abwesend reibt er sich über den Bart an seinem Kinn, während er liest.
Na toll.
Ich blicke aus dem Fenster und entdecke eine riesige Reklametafel, die den Großteil des Lichtes der untergehenden Sonne abschirmt. Es ist eine Werbung des Militärs, die wohl eine große Anzahl an Jobs anbietet und neue Bewerber sucht.
„Mit uns kannst du nicht nur Selfies schießen“, prangen die Worte in Großbuchstaben an der Leinwand. Daneben steht eine junge, hübsche Frau in Nahaufnahme, die in ihrer einen Hand ein Gewehr hält und mit der anderen den Daumen in die Luft reckt. Ihr aufgesetztes Lächeln strahlt mir entgegen.
Selfies?
Ich weiß nicht wie lange ich gedankenlos aus dem Fenster starre, ehe mich die Geräusche aus dem Wohnzimmer zurück ins Hier und Jetzt holen.
Tarun hat die Beine übereinandergeschlagen und einen Arm stützend unter seinen Kopf geschoben, er liest noch immer.
Ich blicke zum Vorhang, neugierig stehe ich auf und laufe darauf zu.
Das Erste, das ich dahinter entdecke ist das grelle Flimmern des Fernsehers und das laute Knallen einer Pistole, das aus eben diesem dringt.
Davor sitzt Kenneth, der gerade einen großen Schluck aus einer Bierflasche nimmt. Die zwei jungen Frauen rechts und links von ihm kichern aufgesetzt und kraulen seinen dicken Bauch.
„Keeeenny.“ Eine Frau mit schwarzen, kurzen Haaren und braunen Augen haucht ihm Küsse auf die Wange und den Hals herunter. „Ich bin schon ganz ungeduldig“, seufzt sie und knöpft dabei ihre weiße Bluse auf, unter der ein dunkelblauer BH zum Vorschein kommt. Die Blondine rechts von ihr streicht sich eine lange Strähne hinters Ohr, ehe sie sich nach vorne beugt, um Kenneth einen Kuss auf die geschwungenen Lippen zu drücken. „Ich auch.“
Wo bin ich denn hier gelandet?
Unsicher taumle ich zurück, will mich wieder hinter dem Vorhang verstecken als ich gegen etwas stoße. Oder jemanden.
Tarun.
„Stimmt etwas nicht?“, fragt er gähnend noch ehe ich etwas sagen kann und folgt meinem Blick zum Ledersofa. Taruns Mund verzerrt sich zu einem breiten Grinsen, er fährt sich langsam mit der Zunge über die Lippen.
„Cynthia“, er tritt näher an die blonde Frau heran, beugt sich runter und gibt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Priscilla.“ Er wiederholt dieselbe Geste bei der Schwarzhaarigen. „Schön euch wiederzusehen.“
Sie schenken ihm ein schmales Lächeln, halten aber keine Sekunde darin inne, sich eng an Kenneth zu schmiegen und dabei langsam ihre Hände in südlichere Regionen wandern zu lassen. Ich merke wie Hitze in mir aufsteigt und peinlich berührt wende ich den Blick ab.
„Ist Maya heute nicht mitgekommen?“, höre ich Taruns tiefe Stimme fragen. Als die beiden Frauen verneinen, stößt er ein enttäuschtes Seufzen aus. „Dann werde ich mir wohl für einen Abend woanders ein bisschen Spaß suchen müssen.“
Was?
Ich spüre die brennenden Blicke, die sich in meine Haut bohren und schiele für einen Moment zu den Anderen herüber. Cynthia und Priscilla beäugen mich streng, schenken ihre komplette Aufmerksamkeit dann doch wieder Kenny, aus dessen Kehle ein knurrendes Stöhnen nach dem anderen dringt.
Ernsthaft, wo bin ich hier nur gelandet?
Angewidert trete ich zurück in Taruns Zimmer, um mich von den seltsamen Geschehnissen abzuschirmen.
Schulterzuckend kommt Tarun hinterher, murmelt aber noch ein flüchtiges „Tschüss Mädels“ in den Raum.
„Tut mir leid“, presst er dann hervor und mustert mich neugierig. „Eigentlich hätte ich gleich wissen müssen, dass dich dieser Anblick überfordert.“
„Er überfordert mich nicht“, gebe ich gelassen zurück. Bemerke selbst den Unterton in meiner Stimme, der die Lügnerin in mir enttarnt.
Verlegen beiße ich mir auf die Unterlippe. „Ich kann nur nicht verstehen, wieso sie auf so einen Kerl stehen sollten. Ich meine er ist...“
Er lebt in seiner eigenen Welt?
Noch während ich nach dem richtigen Wort suche, schmeißt Tarun mit Begriffen um sich.
„Unattraktiv? Komisch? Er redet wirres Zeug?“
Ich beiße die Zähne fest aufeinander und ziehe es vor nicht zu antworten.
„Hab gehört er hat ganz andere Qualitäten“, dringt es aus dem Mund meines Gegenübers. Neugierig sehe ich zu ihm auf.
„Wenn du verstehst was ich meine?“ Er kreist schwungvoll mit den Hüften und zwinkert mir dann verführerisch zu.
Ich glaube mir wird schlecht!
Das Missfallen scheint mir ins Gesicht geschrieben zu sein, denn Tarun lacht laut auf.
„Hör mal“, bringt er leise hervor, während er sich sein grünes Shirt über den Kopf zieht und seinen trainierten Oberkörper entblößt. Noch ehe er sich seinem Gürtel widmet wende ich den Blick ab und setze ein paar Schritte zurück. „Ich will heute Abend noch ein bisschen ausgehen. Das macht dir doch nichts, oder?“
Ich wage es nicht aufzusehen und starre stur auf den Wäscheberg neben mir.
„Schon gut“, presse ich mit dünner Stimme hervor. „Ich werde es mir hier einfach gemütlich machen.“
„Cool“, gibt er dann zurück und als ich seine Hand auf meiner Schulter spüre, traue ich mich doch wieder den Blick zu heben. Er hat seine Beine in eine dunkle Jeans gesteckt und sich ein blau-kariertes Hemd übergestreift.
„Nimm dir einfach was du brauchst.“ Er wendet sich schon dem Vorhang zu, sodass er mein Nicken gar nicht sehen kann. „Oh, bevor ich es vergesse. Du kannst auf der Couch schlafen. Ist bequemer als es aussieht“, murmelt er dann, sieht mich aber nicht an.
Sofort schießen mir Bilder von Kenneth und den zwei Ladies ins Gedächtnis und ich schiebe sie beiseite.
Vielleicht wäre es besser, wenn ich es mir in der Kuschelecke daneben gemütlich mache. Ich will gar nicht erst daran denken, was sie auf diesem Sofa schon so alles... getrieben haben.
Ich versuche es aus meinem Gehirn zu streichen und schüttele sachte den Kopf.
„Tarun?“ Noch ehe ich wirklich darüber nachdenken kann, habe ich seinen Namen ausgesprochen.
„Mhm?“ Er dreht sich halb zu mir um und sieht mich aus neugierig dreinblickenden Augen an.
„Wieso tust du das?“ Ich zupfe nervös an dem Ärmel meines Pullovers, an dem sich ein Faden gelöst hat.
„Was?“, hakt er nach, zieht die Augenbrauen nach oben.
„Ich meine.. wie kannst du Sex mit einer menschlichen Frau haben?“ Meine Worte kommen nur holprig stotternd zu Stande.
Er setzt ein tiefes Grinsen auf. „Es macht Spaß.“
„Aber ekelst du dich nicht vor den Menschen?“
Sie sind so anders als wir. So schwach und... anders eben.
„Nein“, entgegnet er ohne zu zögern. Seine Stimme klingt ernst.
„Nicht?“ Ungläubig starre ich ihn an. „Aber wie kann das sein?“
Taruns Grinsen wird tiefer, als hätte man es in sein Gesicht geschnitzt. Seine grauen Augen funkeln auf. „Es ist ganz einfach, Nayara.“ Er macht eine kurze Pause, legt den Kopf leicht schräg und mustert mich aus zusammengekniffenen Augen. „Ich wurde selbst als Mensch geboren.“