Talib
„Bevor wir Felan retten, müssen wir euch noch etwas sagen“, gesteht Dante, seine Miene ist ernst. Er sieht zu Leana herüber, die zustimmend nickt.
Bitte sagt mir nicht, dass ihr doch auf Aidens Seite steht. Bitte nicht!
Ein mulmiges Gefühl breitet sich in meinem Magen aus, sofort spannt sich jeder Muskel meines Körpers an und ich kann nichts dagegen tun. Ich sehe zu Nayara herüber, mache mich auf das Schlimmste gefasst, obwohl sich jede Faser meines Körpers dagegen sträubt.
Ich kann nicht noch mehr Freunde verlieren.
Dante schiebt seine Hand in die Hosentasche und zieht einen etwas zerfledderten Papierfetzen hervor. Langsam kommt er auf mich zu und legt es auf den Tisch vor mir.
„Also wenn du uns immer noch nicht glaubst, dann sollte spätestens das hier deine Zweifel bereinigen.“
Gott sei Dank!
„Was ist das?“ Ich greife danach, richte meinen Blick aber weiterhin auf meinen Freund.
„Eine weitere Prophezeiung“, erklärt Leana an seiner Stelle. „Wir glauben...nein, nun wissen wir, dass sie sich auf euch bezieht.“
„Auf uns?“
Was für eine Prophezeiung soll das sein?
Ich falte das Papier mit vor Anspannung zitternden Fingern auf.
„Auf dich und Nayara“, antwortet Dante grinsend als würde es etwas gutes verheißen.
Nun eilt Nayara an meine Seite, ich mache ihr etwas Platz auf der Bank. Auch Tarun tritt zu uns, bleibt zwischen Dante und Leana stehen.
Ich überfliege den Text. Mehrmals.
Gefrorener Blitz? Nur gemeinsam?
„Was soll das bedeuten?“, sagen Nayara und ich wie aus einem Mund.
„Ihr habt beide unentdeckte Fähigkeiten, die so machtvoll sind, dass ihr sie nur gemeinsam heraufbeschwören könnt“, erklärt Dante sachlich. „Aber es ist wohl unheimlich schwer, sie zu meistern.“
„Woher wisst ihr davon?“ Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Ein Gedanke nach dem anderen setzt sich in meinem Kopf fest. „Und was soll das für eine Macht sein?“
„Wir sind durch Zufall darauf gestoßen als wir uns noch einmal in einem Buch die Wolfsnacht angesehen haben, stand diese Prophezeiung dabei. Sie war praktisch zwischen zwei Seiten verklebt, sodass es uns zuerst gar nicht aufgefallen war, aber als ich es dann entdeckt habe, dachte ich, es könnte uns vielleicht weiterbringen. Und da ihr uns eben noch gebeichtet habt, dass ihr wohl beide ohne magische Fähigkeiten aufgewachsen seid, sind wir uns nun ziemlich sicher, dass du und Nayara damit gemeint sind.“
Er fährt sich durch seine schwarzen Locken und sieht mir tief in die Augen. „Ich weiß, dass es vollkommen absurd klingt, aber Talib, das hier könnte uns dabei helfen, Felan zu retten.“
Ich schlucke schwer.
Er hat ja recht, das hier erhöht unsere Chancen um einiges. Aber was ist, wenn wir es nicht rechtzeitig anwenden können?
„Dante, bist du dir sicher, dass du mit uns kämpfen willst?“
Er sieht mich entschlossen an. „Ja, das will ich.“
Auch Leana und Tarun nicken einstimmend.
„Aber Aiden ist dein Bruder... und niemand kann uns versichern, das Felan noch am Leben ist.“
„Nein, meinen Bruder habe ich schon vor langer Zeit verloren. Er ist nur noch eine Hülle aus Hass und Skrupellosigkeit. Aber ich möchte diese letzte Chance ergreifen und versuchen, ihn zu retten.“
„Und was Felan angeht, ich bin mir sicher, dass er noch lebt“, wirft Leana ein, „immerhin reden wir hier von Felan.“
Ja, das hoffe ich auch.
Tarun zuckt mit den Achseln. „Der alte Knochen ist zäh und hart im nehmen. Außerdem wäre Aiden ziemlich blöd, sein momentan einziges Druckmittel aufzugeben.“
Selbst Nayara stimmt ihnen zu. Sie legt ihre Hand auf mein Knie und drückt es ermutigend. „Wir werden ihn retten.“
***
Um dein Schicksal auszugleichen,
dein einstiges Leben zu retten,
all den Schatten auszuweichen,
löse deine mystischen Ketten.
Entfessle die Magie.
Unentdeckte Fähigkeiten gut versteckt,
Gefrorene Blitze den Himmel streifen,
mächtige Zauber nun entdeckt,
das Meistern musst du endlich begreifen.
Beschwöre herbei, das Schneegewitter.
Nur gemeinsam erreicht ihr euer Ziel,
haltet euch fest bei der Hand,
denn als eure pelzige Rüstung fiel,
versprach man euch ein neu' Gewand.
Rufe das tosende Weiß.
Und mögen alle Wege sich teilen,
euch auf falsche Fährten führen,
soll die wahre Liebe verweilen,
eure Herzen bis ins kleinste Eck berühren.
Vertraue deinen Gefühlen.
***
Nachdem wir den anderen alles bis ins kleinste Detail berichtet haben, machen wir uns daran einen Schlachtplan auszuarbeiten.
Ein Teil davon ist es, dass wir bis zur Abenddämmerung warten müssen, um nicht mehr Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen als nötig.
Hoffentlich hält Felan es bis dahin aus. Hoffentlich lebt er noch.
Trotz der genauen Planung breitet sich ein mulmiges Gefühl in meinem Inneren aus. Die Gedanken überschlagen sich in meinem Kopf.
Felan, der auf uns wartet. Nayara, die ich um jeden Preis beschützen möchte. Leana und Dante, denen ich noch immer nicht vollkommen vertrauen kann. Aiden und Candra, die uns auf so kaltblütige Weise hintergangen haben. Und Tarun, mein Bruder, für dessen Fluch ich allein verantwortlich bin.
„Was ist los?“ Tarun lässt sich auf den Stuhl mir gegenüber nieder. Verwirrt blicke ich von meinen ineinander verschränkten Händen zu ihm auf. „Was?“
Er lacht. „Du machst ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.“
Meint er das ernst?
„Unsere momentane Situation ist ja auch nicht gerade sonnig.“
Sein Lachen blitzt nun in den hellgrauen auf. Er wirkt noch immer wie der kleine, freche Junge auf mich. „Mag sein, aber dich beschäftigt doch noch etwas anderes.“
Der Nachdruck in seiner Stimme verrät mir, dass das keine Frage war.
Er kennt mich einfach zu gut.
Ich werfe einen flüchtigen Blick auf Nayara, die sich zusammen mit Leana und Dante über unseren nachgezeichneten Gebäudeplan von Fremonts Villa beugt und mit ihnen über mögliche Fluchtwege für den Notfall unterhält. Tarun räuspert sich, was meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn lenkt.
„Gefrorene Blitze“, murmle ich, presse die Augen zusammen und versuche das unangenehme Wühlen in meinem Herzen zu unterdrücken. „Was ist, wenn es meine Schuld ist?“
Ich schlage die Lider wieder auf, sehe meinen Bruder seufzend an. „Wenn ich...“
Taruns Grinsen ist verschwunden, seine Augen sind leer. Kalt. „Das meinst du nicht wirklich“, stößt er aufgebracht hervor, versucht seine Stimme aber in Zaum zu halten. „Du denkst, dass es deine Schuld war, dass unsere Mutter vom Blitz getötet wurde? Dass du dafür verantwortlich bist, dass ich als Mensch geboren wurde, statt als Wolf?“
Er kennt mich wirklich viel zu gut.
„Tarun, die Prophezeiung...“, fange ich an. Doch er lässt mich gar nicht erst ausreden.
„Es reicht!“, erwidert er bestimmt, dieses Mal lauter als zuvor. Er springt auf, fährt aufgebracht mit den Händen durch sein langes, braunes Haar und läuft um den Tisch, bleibt direkt vor mir stehen. Mein kleiner Bruder wirkt nun sehr viel größer auf mich. Er beugt sich zu mir herunter und schlägt mir der geballten Faust auf den Tisch, er erbebt und die Kerze darauf fällt um. Im Augenwinkel sehe ich wie die anderen Drei geschockt zu uns herübersehen, aber ich beachte sie nicht weiter. Ich habe nur meinen kleinen Bruder vor Augen, der unheimlich wütend und zugleich verletzt und verzweifelt wirkt. Mein Magen verkrampft sich und meine Kehle schnürt sich zu.
„Du kannst nichts dafür!“, sagt er laut. Er schreit fast. „Du hast mich mein Leben lang beschützt und warst für mich da. Du hast alles für mich aufgegeben, wie kannst du dir nur die Schuld daran geben?“
Aber wenn ich wirklich über die Kraft des Gewitters verfüge, kann es doch sein, dass ich meine Fähigkeiten aus Versehen angewandt habe. Ich war nervös und aufgedreht gewesen, kurz vor der Geburt meines Bruders, vielleicht habe ich diesen schrecklichen Unfall ausgelöst.
„Es kann doch sein, dass...“
Wieder schneidet Tarun mir das Wort ab. „Nein, kann es nicht! Ich weiß, dass es nicht so ist!“
„Das kannst du nicht wissen.“ Keiner kann das. Aber wieso fühle ich mich so schuldig?
„Doch. Ich weiß es aber.“ Tarun legt seine Hände auf meine Schultern, drückt sie leicht.
„Ich weiß es einfach“, sag er mit Nachdruck in der Stimme. Er lässt meine Zweifel nicht zu und seine ernste Miene, lässt auch meine verschwinden. Zumindest für den Moment. Ich nicke, atme tief durch.
Jetzt klopft er mir auf das Schulterblatt, zieht sich ein Stück zurück und angelt dann sein Handy aus der Hosentasche. „Ich mach mich jetzt auf den Weg, in spätestens 2 Stunden bin ich zurück.“
Ich stehe auf, um ihm einen Handschlag zu geben. „Pass auf dich auf, Kleiner.“
„Klar doch“, erwidert er lachend. „Jeder weiß doch, dass mein großer Bruder ihm das Fell über die Ohren ziehen würde, wenn er sich an mir vergeht, sogar Aiden. Also mach dir mal keine Sorgen.“
Ich schenke ihm ein Lächeln, doch es ist nicht ehrlich. Der bloße Gedanke, dass ich ihn an Aiden verlieren könnte, jagt mir einen eisigen Schauer über den Rücken. Er wendet sich nur flüchtig an die anderen, hebt die Hand zum Gruß. „Bis später.“
Sie erwidern die Geste oder nicken nur kurz. Nayara lächelt. „Sei vorsichtig.“
Doch Tarun entgegnet nichts darauf. Er ist schon fast aus der Tür, als er mit angespannte Unterton in sein Telefon spricht. „Ich bin's Kenny, wir brauchen deine Hilfe.“
Dann fällt die Tür hinter ihm ins Schloss und seine Worte werden durch die Wände abgedämpft, ehe sie ganz verklingen.
„Ist alles in Ordnung?“ Nayara kommt auf mich zu, hält aber etwas Abstand. Ihre grauen Augen funkeln besorgt auf.
„Ich denke schon.“ Ich zwinkere ihr zu. „Den Umständen entsprechend eben.“ Sie nickt, doch der fürsorgliche Ausdruck in ihrem Gesicht bleibt bestehen. Ich ziehe sie an mich und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. „Aber wir sollten uns nun wichtigeren Dingen zuwenden. Denn da schlummert eine Kraft in unserem Inneren, die wir beide nicht beherrschen können.“
Sie schmiegt sich an mich, versenkt ihren Kopf in meiner Halsbeuge. „Du hast recht, das sollten wir dringendst ändern.“
Ich schiebe sie zärtlich ein Stück zurück. „Hast du schon mal einen Zauber gewirkt?“
Sie sieht mich beschämt an, zuckt mit den Achseln. „Nicht, dass ich wüsste.“
Das ist schlecht. Sehr schlecht sogar.
„Schon gut.“ Ich versuche mich an einem Lächeln. „Ich bringe es dir bei.“
***
„Atme ruhig weiter und konzentriere dich auf das Kribbeln unter deinem Herzen. Es fühlt sich warm an und leicht. Halte die Augen fest geschlossen und fokussiere dich auf dieses Gefühl, blende alles andere aus. Du musst es vor deinem inneren Auge sehen und danach greifen.“
„Danach greifen?“ Nayara klingt irritiert. Sie seufzt frustriert auf und als ich die Augen wieder aufschlage, sehe ich, dass sie die Arme vor der Brust verschränkt hält. „Ich spüre nichts und sehe nichts. Es ist einfach hoffnungslos!“
Ich schüttele den Kopf. „Nein, du darfst jetzt noch nicht aufgeben. Es ist schwer und braucht eben einige Zeit, für meinen ersten Zauber habe ich wochenlang geübt.“
„Wochen?“ Nayara schnaubt. „Wir haben nur noch ein paar wenige Stunden, Talib.“
Das weiß ich auch.
„Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns erst einmal auf etwas anderes konzentrieren?“
„Etwas anderes?“ Sie zieht die Augenbrauen unschlüssig zusammen. „Aber wenn wir es nicht schaffen, unsere magischen Fähigkeiten anzuwenden, sind wir verloren.“
Ich lache trocken auf. „Jetzt mal nicht gleich den Teufel an die Wand.“
Ich trete näher an sie heran, blicke ihr tief in die wunderschönen Augen. „Natürlich wäre es von Vorteil, wenn wir sie anwenden können, aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir es in der kurzen Zeit erlernen ist einfach zu gering. Außerdem ist es mir wichtiger, dass du ein paar Dinge für den richtigen Kampf lernst... mit Waffen umgehen zum Beispiel.“
Nayara versteift sich bei meinen Worten. „Ich will keine Waffe“, entgegnet sie aufgebracht.
Dante, der gerade aus der Küche zu uns in die Gästestube tritt, mischt sich ein. „Aber Talib hat recht, du musst dich verteidigen können.“
„Wo ist Leana?“, versucht sie abzulenken. Dante deutet mit dem Kopf hinter sich. „Sie ruht sich etwas im Aufenthaltsraum aus. Euch zu heilen hat sie Energie gekostet, genau diese wird sie für den Kampf aber brauchen.“
„Lenk nicht ab“, sage ich bestimmt. „Entweder, du lernst mit einer Waffe umzugehen, oder du bleibst hier.“
„Das ist nicht dein ernst. Das hast du überhaupt nicht zu entscheiden“, knurrt sie mich an. Ihr zorniger Blick durchbohrt mich. Und wie das mein ernst ist. Ich werde dich doch nicht einfach mit aufs Schlachtfeld lassen, wenn du dich nicht einmal selbst verteidigen kannst. Vielleicht sollte ich sie generell hierlassen. Hier, wo es sicher ist.
„Ich stimme Talib zu. Wenn du nicht einmal das kannst, bist du uns nur im Weg.“
Bei Dantes Worten verfinstert sich Nayaras Blick noch mehr, er sieht sie entschuldigend an, doch es schein nichts zu nützen.
„Leana muss es auch nicht lernen“, wirft sie nun trotzig ein, beißt die Kiefer fest aufeinander.
Nun lächelt er stolz, fährt sich mit der Hand durch die dichten Locken. „Leana kann wunderbar mit Pfeil und Bogen umgehen, glaub es mir, sie verfehlt niemals ihr Ziel.“
Wie ein Kleinkind schiebt Nayara ihre Unterlippe vor, schaut zwischen Dante und mir hin und her, ehe sie seufzt. „Na schön.“