Nayara
„Lass uns umkehren“, sage ich in der Hoffnung, dass Talib es einfach zulässt. Die Panik in meinem Herzen ist so groß, dass es fast zu explodieren scheint.
Doch er lässt mich nicht.
Natürlich nicht.
Talib springt vor mich und knurrt tief und bedrohlich.
„Nein, wir sind fast da.“
„Aber eben nur fast. Komm schon, wir könnten doch stattdessen so viel schönere Dinge machen“, entgegne ich hoffnungsvoll.
„Was für Dinge denn?“, erwidert Talib belustigt.
„Ist doch egal, irgendwas anderes eben“, knurre ich wenig einfallsreich.
Aber Talib wäre nich Talib, würde er mich jetzt den Schwanz einziehen lassen. Stattdessen macht er einen Schritt auf mich zu und stupst mir gegen die Nase.
„Ich weiß, dass das angsteinflößend ist, aber ganz egal was uns erwartet, ich bin bei dir.“
Uns. Was uns erwartet. Und nicht nur mich.
Die Bedeutung seiner Worte lässt den Knoten in meiner Brust etwas lockerer werden, doch ich hadere immer noch mit mir.
Talib, dem das nicht entgeht, beißt mir leicht ins Ohr und zieht daran.
„Los jetzt.“
Und so eilen wir weiter durch die Schneemassen, die uns den Weg zurück eben. Zurück, zu meinem alten Ich. Zu meiner Familie oder das, was sie einst einmal gewesen ist.
Mit jedem Schritt, fühle ich mich noch nervöser als zuvor und dabei ist mir bereits übel.
Nach all dem, was Talib und Tarun durchmachen mussten mit diesem...Scheusal von Vater, habe ich wirklich noch viel mehr Angst. Talib tut zwar so, als sei es ihm egal, aber ich weiß, dass dem nicht so ist. Und nur durch ihn habe ich den Mut gefunden, mich selbst auch meinen Dämonen zu stellen. Gemeinsam.
Hinter dem Dickicht aus spitzen Ästen, die fast bis zum Boden reichen, versteckt sich die in die steinerne Wand eingelassene Höhle.
Mein Herz rast, in meinem Kopf scheint es zu dröhnen und ich habe das Gefühl, dass ich keine Luft mehr bekomme.
Talib sieht mich an, seine verschiedenen Augen schauen beruhigend in meine.
„Du hast es fast geschafft“, flüstert er. Er drängt mich nicht weiter, wartet einfach bis ich genug Mut aufbringen kann. Er macht auch keine falschen Versprechungen, sagt, dass alles gut werden wird.
Und allein dass es bei mir ist, mich unterstützt, aber zu nichts zwingt, lässt mich noch viel mehr für ihn empfinden, als ich es sowieso bereits tue.
Du bist eine Wölfin und kein Angsthase!
Noch einmal tief durchatmen und dann betrete ich die Höhle, in der es wie gewohnt nach feuchter Luft, xx und meiner Familie riecht.
Wir müssen ein paar schmalere Gänge passieren, ehe wir den Vorraum erreichen, in dem sich die meisten Wölfe versammelt haben. Auf den unterschiedlich großen Felsvorsprüngen haben sie sich niedergelassen, so ausgelassen und fröhlich, wie ich sie in Erinnerung habe.
Doch als sie uns kommen sehen, uns riechen, halten sie inne. Nicht panisch oder erschrocken, einfach nur gespannt.
„Ich bin Zuhause“, sage ich mit rauer, trockener Kehle. Doch niemand rührt sich oder erwidert etwas. Mein Herzschlag trommelt in meinen Ohren.
Gerade als die Angst so groß ist, dass ich einfach wieder raus rennen will, kommt ein hellbrauner Jungwolf auf mich zu geschossen, dicht gefolgt von drei weiteren in unterschiedlichen Brauntönen. Kijani, der Kämpfer. Renko, der Weise. Jonalyn, die Sanftmütige. Bliss, die vom Glück geküsste.
Meine Geschwister.
„Nives du bist zurück“, ruft Bliss aus, so fröhlich wie eh und je. „Wir haben dich vermisst.“ Ein hellbraunes Fellknäul tobt um mich herum, schubst mich spielend hin und her. Ich stelle mich auf die Hinterläufe und wehre sie mit den Vorderpfoten ab, um sie etwas zur Ruhe zu kriegen.
Renko sieht mich mit seinen goldenen Augen durchdringend an, sie alle.
Sie alle haben dieselben honig-goldenen Augen meines verstorbenen Vaters geerbt, nur ich komme nach meiner Mutter.
„Es ist schön, dass du es geschafft hast“, meint der Kastanienbraune, doch seine Stimme klingt nicht halb so warmherzig wie die von Bliss. Auch Jonalyn, die sonst immer übersprudelt vor Wärme und Liebe, bleibt einfach mit etwas Abstand stehen. Sie sieht mich nicht feindselig an, aber auch nicht wie Familie.
Allein meine jüngste Schwester kuschelt sich an mich und es fühlt sich auf einmal völlig absurd und fremd an.
Kijani wirft einen Blick zu Talib, der sich die ganze Zeit zurückgehalten hat.
„Wer bist du?“, will er von dem pechschwarzen Wolf wissen.
Talib tritt nun an meine Rechte, seine Wärme durchflutet mich noch im selben Augenblick, schenkt mir Kraft.
„Talib“, stellt er sich einfach vor, ohne eine Erklärung abzugeben.
Dann gleitet Kijanis Blick wieder zu mir, seine Stimme klingt eisern hervor. „Sie wartet hinten auf dich“, meint er und dreht sich um, weist uns den Weg zu meiner Mutter.
Als wir an all den anderen Wölfen vorbeikommen, die Teil meines Rudels sind, senke ich voller Demut den Kopf. Ihre sonst so herzliche Art ist einer eisigen Kälte gewichen und das einzige, dass mich nicht innerlich erfrieren lässt, ist Talibs Berührung. Er läuft so dicht neben mir, dass unsere Körper permanent aneinander reiben, ich schaue dankbar zu ihm auf.
Und dann gelangen wir bis ans Ende der Höhle, wo meine Mutter in die Ecke gekuschelt liegt.
„Sie sieht aus wie du“, befindet Talib, als wir näher treten. Und es lässt mein Herz kribbeln.
Das stimmt. Wir sehen uns gleich, nur dass die weiße Wölfin vor mir bereits in die Jahre gekommen ist.
Ihre silbrig glänzenden Augen sind einem grauen Schleier gewichen.
Schockiert muss ich feststellen, dass sie in meiner Abwesenheit erblindet ist.
Mutter hebt die Schnauze in die Luft, atmet tief die Düfte ein, die nun präsenter inder Luft liegen, ehe sie sagt: „Nives, du hast es also geschafft den Fluch zu brechen.“
„Ja“, sage ich, meine Stimme zittert.
„Schön, das freut mich.“ Doch die lange Pause, die sie nun macht, verheißt nichts gutes.
„Ich bin wirklich stolz auf dich mein Kind, aber nichts desto trotz hast du uns alle durch dein voreiliges, unbedachtes Handeln in Gefahr gebracht.“
Meine Kehle verengt sich, mein Herz setzt einen Schlag aus und die Übelkeit steigt wieder in mir auf.
„Ich weiß, aber es stand auch ein Leben auf dem Spiel.“
„Ein unbedeutendes“, erwidert meine Mutter abschätzig. Und ich spüre wie Talib sich neben mir verkrampft, so wie auch mein Innerstes.
„Kein Leben ist jemals unbedeutend“, erwidere ich mit fester Stimme. Ich weiß nicht, woher auf einmal der Mut kommt, doch es fühlt sich gut an. Berauschend.
„Ihr werdet mich vermutlich niemals verstehen, aber ich werde nicht aufgeben, euch zu beweisen, dass die Wölfe und die Menschen einander brauchen. Dass wir im Einklang miteinander leben können.“
Meine Mutter lacht und auch alle umstehenden stoßen ein verächtliches Geräusch aus.
„Als deine Mutter bin ich wirklich froh, dass es dir gut geht“, sagt sie dann, ignoriert meine Worte zuvor, „aber du hast hier keinen Platz mehr. Du magst zwar wieder zur Wölfin geworden sein, aber ich kann den Mensch noch immer an dir riechen.“
Ich lächle.
Das war mir bewusst.
Natürlich könnte ich nicht einfach zurückkommen. Das war auch niemals der Plan. Aber dennoch zeigt mir meine Mutter, dass sie mich liebt, auf ihre ganz eigene Weise. So absurd es auch klingen mag.
„Ich weiß“, sage ich dann vor Stolz geschwellter Brust.
„Denn der Mensch ist ein Teil von mir, so wie auch ihr immer ein Teil von mir sein werdet.“
Jonalyn zu meiner Linken knurrt spöttisch auf, selbst die kleine Bliss hält nun argwöhnisch Abstand.
„Danke für alles.“ Ich schenke meiner Mutter einen liebevollen Blick, den sie zwar nicht sehen, aber ich hoffe doch, hören kann.
Sie atmet zittrig ein, ehe sie sich an Talib wendet, der still die ganze Zeit an meiner Seite verharrt hat.
„Pass gut auf meine Tochter auf, Fremder.“
„Das werde ich.“