Dante
Ich ducke mich hinter dem Gebüsch weg, sodass er mich nicht entdeckt. Vorsichtig stecke ich meine Schnauze durch das Dornengewirr, es kratzt über meine Haut, aber es stört mich nicht weiter. Der Rothaarige spaziert weiter durch den Wald, hinterlässt Spuren im Schnee.
Er hat mich also zum Glück nicht bemerkt.
Langsam gebe ich meine Deckung hinter dem Gestrüpp auf und verfolge ihn, pirsche mich versteckt zwischen den dicht aneinander gereihten Tannen an.
Dann bleibt er mit einem Mal stehen und auch ich halte inne, mache mich ganz klein hinter einem Baumstamm.
Doch ich bezweifle, dass er mich auf die Entfernung erkennen kann. Als Wolf sind meine Sinne da weitaus geschärfter als seine.
Er schließt die Lider, reckt sein Gesicht nach oben und atmet tief ein, stößt dann die Luft geräuschvoll wieder aus.
„Tut das gut“, höre ich ihn murmeln.
Der Anblick versetzt mir ein Kribbeln in der Brust.
Das ist der alte Aiden. Mein Bruder, der die Natur geliebt hat. Das Wolf sein. Der keine finsteren Gedanken hegte oder seine Freunde verraten würde.
Vor mir steht ein Lebewesen, so rein und unschuldig, wie Aiden als Jungwolf.
Als er die Augen wieder öffnet, funkeln sie heiter auf. Er lächelt vor sich hin und geht dann vorwärts, durch das glitzernde Weiß, vorbei an einer Parkbank, die von dem eisigen Pulver eingehüllt wird.
Aiden fährt mit dem behandschuhten Fingern darüber und wirbelt den Schnee auf, lässt sich dann auf den Platz fallen, auf dem das dunkle Holz durchschimmert.
Neugierig beobachte ich ihn weiter, doch er sitzt einfach nur da und betrachtet die Umgebung. Den Wald in all seiner glitzernden, vershcneiten Pracht. Die erhabenen, hochgewachsenen Tannen und den schimmernden, eingefrorenen Bachlauf, zu seiner Linken.
Es versetzt mir einen Stich ins Herz, dass ich nicht einfach zu ihm hingehen kann, umd ie ganze Szene gemeinsam mit ihm zu genießen. Stattdessen drücke ich meinen fellüberzogenen Körper auf den Boden und halte mich versteckt.
Er war mein Bruder.
Doch jetzt ist er nur noch seine menschliche Hülle. Der Wolf ist fort. Und mit ihm auch Aidens Seele.
Und dennoch kann ich mich nicht von ihm abwenden.
Als Leana mir vor ein paar Tagen berichtet hat, dass sie Aiden im Krankenhaus gesehen hat, ist mir das Blut in den Adern gefroren. Manch einer mag es für einen Zufall halten, doch wir Wölfe kennen nur das Schicksal.
Aiden, der junge Mann, der sich an nichts außer seinen Namen erinnern konnte, erwachte wohl irgendwo in der Nähe des Krankenhauses, in dem Leana arbeitet.
Er wurde dort eingeliefert und der erste Mensch, den er nach seinem Aufwachen erblickt, ist meine wunderschöne Freundin.
Das muss etwas zu bedeuten haben. Wieso hat der Schicksalswolf das zugelassen? Wieso ist er wieder hier? Direkt vor meiner Nase? Und doch kann ich nichts mehr für ihn tun.
Daran ist er selbst schuld und doch bricht es mir das Herz.
Die Schuldgefühl ein meinem Inneren lasten so schwer auf mir, dass ich mich abwenden muss.
Ich ertrage Aidens Anblick nicht mehr, der mich nicht einmal erkennen würde, würde ich nun auf ihn zu rennen.
Ich vermisse meinen Bruder, aber einem Fremden hinterher zu jagen, wird keinem von uns nützlich sein.
Ich hätte für ihn da sein müssen, als es noch nicht zu spät war.
So leise ich kann, eile ich davon, werfe einen letzten Blick zurück zu Aiden. Er hat sich von der Bank erhoben und starrt in meine Richtung. Doch ich bin zu weit weg, als dass er mich erkennen könnte. Und wenn doch, es ist mir egal.
Immer schneller renne ich davon. Vor meinem kleinen Bruder, meiner Vergangenheit und meiner Schuld.
Als ich den Waldrand erreiche, entdecke ich eine wunderschöne, rote Wölfin zwischen den Baumstämmen versteckt. Ihre kupferfarbenen Augen sehen mich voller Sorge an, sie heben sich in einem starken Kontrast von dem weißen, herzförmigen Mal unter ihrem linken Auge ab.
Meine Schritte werden schneller.
„Hey“, sage ich, als ich direkt vor ihr zum Stehen komme.
„Hey“, erwidert sie beinahe flüsternd. Mit der Nase reibt sie über meine Schnauze, schleckt mich ab.
„Wie war es?“, fragt sie mit ruhiger Stimme, doch ich kenne sie gut genug, um zu wissen, dass ihr Innerstes tobt. So wie meines.
„Gut“, gebe ich zurück. „Es tat gut, mich zu verabschieden.“