Endlich, es war so weit. Der Sommer nahte und die Einladung lag im E-Mail-Eingang. So die Aktuellste mit dem Betreff »Feudales im Harz«.
Heia Ihr Leuts so höret die Sage. Graven, unser aller König – Held und Leumund von den Euren – ruft auf zum Zwist an der Klamm im Berge zum Harze! So findet Euch ein im Lager zum Trainieren der Geschicke, am Tage des Sonnenaufganges zur Sumerzit. Wetzt die Klingen und lasset erstrahlen das Rüstzeugs, um zu bezwingen den Feind. Die ersten Übungen erfolgen noch vor der Mittagsstund.
Direkt darunter die Anmeldeinformationen.
Registrierung zu diesem Event, am 08.06.2014, nahe der Burg Herzberg bitte per Voraus über das bekannte Mail-Verfahren. Anmeldungen bis spätestens 15.05.2014, also in zwei Wochen!
»Hm, demnach wird ein interessantes LARP zum Sommeranfang geplant, diesmal im Harz. Wenn mich nicht alles täuscht, befindet sich die Burg in der Nähe der Einhornhöhle, die ich vorletztes Jahr besucht habe. Ein klasse Ort für ein Spektakel. Sehr gut, da melde ich mich gleich an.«
Geschwind flogen die Finger, im Drei-Fingersuchsystem über die Tastatur und tackerten eine Antwortmail.
Moin moin, ich melde mich hiermit für das Mittelalter-Event am 08.06.2014 ›Burg Herzberg‹ an. Ich werde als Schwertmann (Schwert und Bogen) unter dem Namen ›Rokks‹ auftreten. Ich gehörte inzwischen zum dritten Mal in Folge zu den Verteidigern des Königs und möchte ein weiteres Mal in dieser meinen Dienst verrichten. Ich reise bereits einen Tag eher an, um die Anlage vorab zu besichtigen. Bitte um eine Anmeldebestätigung und verbleibe mit erhabenen Grüßen Euer Schwertmann Rokks.
»So nun noch fix meine Personalien und ab zum Training, ich komme schon wieder zu spät. Scheiße.«
Kaum das der Mauszeiger den Absendebutton erreichte und ein verhaltenes ›höüps‹ diesen bestätigte, rief eine männliche brummend heisere Stimme aus der unteren Wohnetage den Hausflur herauf.
»Ben? Ben steckst Du schon wieder in einer deiner Fantasiewelten? Benjamin! Herrje Junge, du wolltest mich doch zum Arzt fahren. Wir kommen noch zu spät«, schalte es tadelnd hinauf zum Dachboden, dort wo Gerufener sich eine gemütliche Einzimmerwohnung hergerichtet hielt und es nur so von Gegenständen aus verschiedensten Fantasieszenarien strotzte. Prinzipiell sollte Ben mit seinen 21 Jahren bereits fest im Sattel sitzen und sich seinem Architekturstudium widmen, um nach dem Ausscheiden seines Vaters aus dem Arbeitsleben dessen Architekturbüro zu übernehmen. So zumindest die wohl geplante Vorstellung und Planung Ralfs, seinem Erzeuger. Ben hingegen sah das etwas anders und stand auf dem Standpunkt, seine Fantasieaffinität durchaus ausleben zu dürfen und vor allem auch zu können. Seine bisherigen Abschlussnoten während des Studiums waren allesamt überdurchschnittlich Gut. Und so stapelten sich in den Regalen entsprechende Bücher von Wolfgang Hohlbein, Michael H. Schenk, Joe Abercrombie, James Barclaym, Terry Brooks, Tolkien und vielen weiteren. Weiterhin sammelte er Schauwaffen aus Schaumstoff in den verschiedensten Ausführungen. Von einfachen Schwertern über Äxten bis hin zu reichlich ominösen Gegenständen, deren Anwendungen sich nur erahnen ließen, war so ziemlich alles zu finden. Sein Liebstes jedoch war seine ganz persönlich hergerichtete Schwertmann-Ausrüstung mit verlängerten Jagdbogen und Breitschwert. Die Parierstange seines Eineinhalbhänders war geformt, mit zwei Pferdeköpfen, die sich gegenüberstehend ansahen und am Griff mit nachgeahmten Goldeinlagen bearbeitet.
Die Rüstung wurde in einem warmen, braunen Farbton eingefärbt und bestand aus einem Brust- und Schulterpanzer samt Armstulpen, Stiefel, Handschuhe und Gürtel. Über den körperwichtigsten Stellen, die es beim Nahkampf zu schützen galt, ließ er verhärtete Metalplatten nähen, die mit einer aufwendigen Stilisierung verziert das Ansehen abrundeten. Seine Stiefel und Handschuhe, die auf den Handrücken eine Art Skelettierung darstellen, gestalteten sich ähnlich. Seine gesamte Ausrüstung trug zur Schaustellung für jeden Besucher ersichtlich, eine umfunktionierte Schaufensterpuppe. Er war unheimlich Stolz auf diese recht teuere ›Spielzeugausrüstung‹ für Erwachsene.
»Ben, verdammt. Lass uns endlich los. Du wolltest mich vor Deinem Training noch zu diesem Knochenbrecher kutschieren, also los jetzt. Wenn Du während dieser komischen Ritterspiele auch so lahmarschig bist, soll es mich nicht wundern, wenn du stets einer der Ersten bist, der ausscheidet.«
Ben rückte vom Schreibtisch, schob seinen drehbaren Chefsessel zurecht und schaltete den PC aus. Auf dem Weg zur Treppe schnappte er sich seine parat stehende Sporttasche und verließ sein Reich. Kopfschüttelnd trat er an seinem Vater vorbei und raunte ihm seine Missstimmung zu.
»Ich bin während der LARP´s, wenn überhaupt immer einer der Letzten, der die Waffen streckt. Was weißt du schon von Schaukämpfen oder deren Regeln. Du baust Häuser und schubst deine Angestellten von A nach B. Du magst einer der hochangesehensten Architekten sein, aber von Fantasie und Rollenspiel hast du absolut keinen Schimmer.«
Verärgert betätigte er die Klinke der Haustür und zog sie weit auf. »Los jetzt, mein Training fängt bald an.«
Gemeinsam stiegen sie in Bens alten Nissan Primera, der geparkt auf der Auffahrt neben dem Haus stand und mit seiner bläulichen Perllackierung noch einen annehmbaren Eindruck machte. Aus dem Radio schalte eine Moderation von R.SH, dem beliebtesten Radiosender Schleswig-Holsteins, als der Motor aufheulte. Ben lenkte rückwärts die Parkfläche hinab und wendet auf der Einliegerstraße richtung Stadt um seinen alten Herrn, zu seinem ›Knochenbrecher‹ zu kutschieren – den Physiotherapeuten. Ralf war auf einer seiner betreuten Baustellen unglücklich gestolpert und hatte sich bei einem Sturz den Rücken folgenschwer verdreht. Nun mussten seine Knochen und Muskeln wieder dorthin bugsiert werden, wohin diese ursprünglich gehörten.
Sie fuhren eine Zeit lang schweigend nebeneinandersitzend durch Kiel und ließen sich vom Radio berieseln, als Ralf den Mund verzog und das Schweigen brach. »Ben, hör mal. Ich weiß, dass du mein Büro nicht übernehmen willst. Auch, dass deine Interessen aktuell mehr in der Bereicherung deiner Fantasien liegen. Nur, bitte Junge, steigere dich nicht zu sehr in diese Themen herein, ja. Früher oder später wirst du sonst kein Architekt, sondern Autor oder gründest einen eigenen Staat, wo du König spielen darfst.«
Ungläubig, aber durchaus amüsiert grinste Ben in sich hinein und schenkte seinem Vater belustigende Blicke. »Mach dir darüber mal keine zu großen Sorgen. Ich liefere stets gute Noten und meine Arbeiten im Büro sind auch gern gesehen. Weiterhin ist LARP ein Rollenspiel, dessen ich fraglos bewusst bin, bald überdrüssig werden zu können. Genauso mein Training im Schwertkampf, beim Reiten und - hach ich vergaß, das Bogenschießen. Ach Papa, lass mir doch einfach meinen Spaß und gönne es mir. Ich muss noch früh genug, nach meinem Studium, den Ernst des Lebens erfahren. Heiraten, Kinder zeugen und dich damit zum Opa krönen. Reicht es denn nicht, dass mir Katrin ewig die Daumenschrauben anlegt?«
Bevor Ralf zu einer Erwiderung ansetzen konnte, mahnte Ben mit rechtem Zeigefinger. »Sie teilt mit mir die Neigungen am Bogen und den Pferden, unterstützt mich ebenso beim Schwertkampf aber für meine Interessen am Fantasy scheint sie sich mit dir verschworen zu haben.«
»Hmm, mir gefällt es dennoch nicht sonderlich das du einen gehörigen Großteil deines Lebens mit deiner Freizeitgestaltung verbringst. Heute fuchtelst du mit dem Schwert herum, morgen Bogenschießen und übermorgen die Pferde. Wenn noch Zeit bleibt, dein Fantasiekrams und den kümmerlichen Rest füllst du dann mit deinem dualen Studium. Aber okay, du hast vermutlich Recht. Ich sollte dich nicht ständig drängen.« Ralf verschränkte die Arme vor sich und verzog bockig den Mund. »Ich hoffe nur, dass Katrin dir bald die Flügel stutzt und dich häuslicher werden lässt«, brummte er vor sich hin.
»Papa?«, rief Ben und schlug mit der flachen Linken aufs Lenkrad.
»Ja ja. Ist ja schon gut. Ich halt‘ die Klappe«, wehrte dieser beschwichtigend mit den Armen rudernd ab.
Das Thema war damit vorerst ad acta, so hoffte Ben es zu mindest. Den restlichen Weg zur Physio fuhren sie schweigend und verfolgten die Radiosendung »Baumann und Clausen«.