Nachdem sich Jarik entfernt hatte, um die ihm aufgetragenen Aufgaben nachzugehen, schlenderte Ben zurück in den Bretterverschlag, welcher sich Hütte schimpfte und die Nacht verbrachte. Unterwegs dort hin rief jemand seinen Namen und erkannte zwei sich nähernde. Dario und einen gekleidet in der üblichen Jägerskluft.
»Hallo Benjamin, ich bin wieder da und habe dir ein paar lesenswerte Schriften mitgebracht. Da ich über die Verteilung der Siedlungen in der Mark nicht genügend Bescheid weiß, habe ich Tiron angestiftet, uns darüber Auskunft zu gewähren. Er ist einer von Jariks Männern, also durchaus kompetent.«
»Angestiftet? Herr Dario hat mir Vorhaltungen gemacht, wenn ich nicht schleunigst mitkäme und meine Dienste anbiete, so war‘s und nicht anders«, neckte dieser den alten Gelehrten.
Ben schmunzelte und begrüßte die Beiden und griff zu den Schriften, gebunden als Buch, die Dario ihm bereitwillig übergab, und stellte sich dem ihm noch unbekannten Jäger vor. Es verging eine gefühlte Ewigkeit und Tiron überschüttete Ben mit unzähligen Fragen. Er beantwortete jede Einzelne gewissenhaft und hegte keinerlei Abneigung noch fühlte er sich gelangweilt. Dario war derjenige, der das Gespräch durch seine penetrante Hibbeligkeit unterbrach und Ben mit aufzuckenden Brauen endlich verstand.
»Also gut, ein Buch – nicht sonderlich umfangreich. Bis zum Einschlafen wird es hoffentlich reichen.«
»Du sollst das meiste, von dem was dich interessiert, direkt erfahren. Vieles, was du nachlesen kannst, bezieht sich auf die Vergangenheit, in der die Brut noch nicht über das Land hergefallen ist. Tiron kann dir weitestgehend alles aus der Mark berichten, während ich bei meinem Gesehenem bleibe, was meine Augen erblickten, als ich durch die Marken wanderte.«
»Wollen wir uns auf einen der Stämme, dort bei der abgebrannten Feuerstätte setzen?«, bot Tiron an und wies den Weg mit der Rechten. Also wieder zurück zu der Stelle, an der er bereits saß. Zu dritt machten sie es sich weitestgehend gemütlich und Dario kramte aus seiner mitgeführten Tasche drei Zinnbecher hervor und einen gut gefüllten Schlauch. Er zog drehend an einem Korken und der austretende Duft erinnerte an Wein. Wo er den wohl herhatte?
Er bemerkte den fragenden Blick des Jägers und reckte trotzig das Kinn vor. »War ich nun einer der Gefangenen der Gouwors oder wer?«
Tiron zuckte lediglich mit seinen kräftigen Schultern und hielt den Becher auffordernd vor. »Solange er schmeckt.« Er grinste schelmig. Tatsächlich war es Wein, wenn auch ordentlich verdünnt. Ein leicht süßlicher Geschmack nach Erdbeeren umschmeichelte Bens Zunge. Obwohl er kein Weintrinker war, bediente er sich eines weiteren Schluckes und stellte seinen geliehenen Becher seitlich ab. »Das tat gut, danke. So, dann wollen wir mal. Was mich interessiert sind die hiesigen Menschen im Land. Leben sie alle so wie hier? Gibt es wehrhafte Zusammenschlüsse außer denen der Jäger? Wie erhaltet ihr eure Verpflegung, ich habe kaum Vieh gesehen?«
Tiron und Dario antworteten auf jedwede Frage ausgiebig und umfassend, sodass die Zeit wie im Fluge verging. Allmählich wurden die Feuer rundherum der Siedlung entfacht, um an diesen gemächlich die Tageswende ausklingen zu lassen. Mitunter konnte man Gesprächsfetzen vernehmen, in denen man über Unternehmungen und Handel sprach. Ben hatte noch viele weitere Fragen, die er zu stellen gedachte und viele weitere, entsprangen den geleisteten Antworten, die nahezu eine fragende Steilvorlage boten. Tiron und Dario wechselten sich mit den Erzählungen nahtlos ab, sodass einige Fragen in den Ausführungen des Gelehrten weiträumig erklärt und untermauert wurden. Einfache knappe Fragen hingegen nahm sich Tiron an.
»Dario, diese Brut – Gouwors – was sind das für Wesen?«
Angesprochener atmete tief ein und lang aus. »Das ist nicht so einfach zu erklären. Diese Geschöpfe entstammen einer Zuchtreihe und sind das Ergebnis eines perfiden rachsüchtigen Wesens – Lord Inat. Aus verschiedensten Arten kreuzte jener Herrscher reinste Abarten, um Herr aller Länder zu werden und vernichtete auf seinen Wegen vielerlei Völker, nur die Pferdeherren schafften es stets, sich ihm entgegenzustellen. So vergangen viele Jahreswenden des vermeidlichen Friedens, als sich die einzelnen Marken gegenseitig zerstritten und eine neue Art in Erscheinung trat. Mit dieser Zucht gelang es dem Lord, auch das letzte freie Volk zu knechten. Diese Gouwors sind äußerst grobschlächtig und unterliegen dem dauernd gierigen Hunger nach Fleisch und Blut. Sie sind behänden wie Heuler – eine Abart der Wölfe – und sind in der Lage, im Blutrausch ihre Klingenknochen durch Muskeltraktion aus ihren Unterarmen zu pressen. Kurzum, sie sind sehr gefährlich.«
Da Ben die kommenden Tageswenden über nichts Handfestes zu tun gedachte, traf er sich regelmäßig mit beiden, um seine Wissenslücken so nach und nach zu füllen. Gelegentlich ließ er sich etwas außerhalb der Siedlung führen, um die Gegend besser kennenzulernen und handelte gegen die mahnenden Vorwürfe Darios. Tiron nutzte diese Möglichkeit, seinem neuesten Weggefährten hinreichend über Flora und Fauna zu berichten. So erfuhr Ben auch, wo sich die nächsten Siedlungen befanden und wie sich die Jäger im Umland bewegten und auf welche Details er achten musste, um Patrouillen aus dem Weg zu gehen. Sofern die Siedler in kleinen Gruppen unterwegs waren, rieben diese sich großzügig mit Bärlauch ein. Der Saft einer frischen Pflanze verströmte einen überlagernden Geruch aus, der die feinen Nasen der Heuler täuschte und fernhielt. Lord Inat, der Knechter ganzer Völker und Herr der Brut war Erzählungen nach, einst ein angesehener Lord und Großlandbesitzer. Sein Land war das üppigste und grünste, welches die Völker von einst kannten. Auf diesem gab es Ruinen von einem unbekannten und längst vergangenen Volk oder einer fremdartigen Nation. Die Architektur der verfallenen Gebäude schienen vor allem andersartig und unheimlich. Lord Inat jedoch war von der Neugierde zerfressen und ließ diese entweihen und untersuchen. Seltsame Artefakte wurden gefunden und zutage gefördert. Kurz darauf verschwanden die ersten Magiebegabten Rongards. Trotz vorbehalte ließ Inat eine riesige Festung auf eines jener Ruinen bauen und sein Wesen änderte sich fortan von geachtet zu geächtet. Unheimliche Lichter und Geräusche drangen aus den Wäldern des Landes und die Menschen verließen dieses. Unbekannte Wesen wurden kurz darauf gesichtet und das Angesicht des einstigen blühenden Landes veränderte seine Natur. Es dörrte aus und verkam zur Öde. Die Marken und umliegenden Länder taten sich zusammen und beschlossen dem Treiben des Lords ein Ende zu bereiten – sie alle wurden geschlagen und zerschlagen. Nur noch Rongard und seine Pferdeherren konnten sich den Horden Inats standhaft zur Wehr setzen. Zwietracht und Intrigen jedoch schafften, was der Lord nicht vollbringen konnte. Erst die Hüter und dann die Fürsten wendeten sich voneinander ab und so gelang es ihm das freie Land Rongard zu überrennen.
Mit Tiron trainierte er ab und an Bogenschießen und ließ sich seine Handgriffe korrigieren, um seine Schüsse zu optimieren. Er war ein ausgezeichneter Ausbilder, denn Ben schaffte anvisierte Ziele tatsächlich leichter und effektiver zu treffen als jemals zuvor. Als Gegenleistung erhielt Tiron Unterweisungen im Schwertkampf und lernte seine Standhaltung und Armführung zu verfeinern. Dario blieb beflissen in ihrer Nähe, beobachtete ihre Fortschritte und komplimentiert Erfolge oder Misserfolge. Ben erfuhr während der kommenden fünf Tageswenden, was geschichtlich in Rongard noch geschah und seit dem verlorenen Krieg im ganzen Land unter der Herrschaft der Besetzer erfolgte und weiterhin passiert. Dass die Menschen der Marken Hornvieh züchteten, um dessen Leder und Horn zu verarbeiten, aber auch um an Fleisch zu gelangen. Wenn die diebischen Gouwors oder die streunenden Heuler nicht wären, hätte man mit dem Hornvieh als auch den Pferden mehr Handel treiben können und den Bewohnern erginge es deutlich besser. Getreide für Stroh und Mehl wurde regelmäßig verbrannt und daher nur noch auf kleinen uneinsehbaren Flächen angebaut. Er erfuhr weiterhin Wissenswertes über bekannte Geschehnisse des Umlandes und dass die Jäger, leider die einzig Wenigen waren, die als wehrhaft galten. Alle anderen bedienten sich nur im Geheimen mit Schwert und Axt, jedoch nicht so vehement um sich gegen die Invasoren zu Wehr setzen zu können.
Auch die Zeit- und Maßberechnung ließ sich Ben erklären, da diese für ihn bis auf die Bedeutung einer Tageswende, Zehnen und Hundertschaften keinen Bezug hatten. So erfuhr er, dass die ihm bekannten Maß- und Zeitrechnungen ähnlich denen Rongards glichen. Ein Zehnteltag ergab in etwa zweieinhalb Stunden, die Tageswende hingegen einen kompletten Tag. Ein Zehntag bestand aus zehn Tageswenden, ein Mond wiederum dreißig Tageswenden, sodass eine Jahreswende eben zwölf Monde umfasste.
Morgengrauen wich Sonnenhoch, anschließend der Dämmerung, die unweigerlich der Nacht Platz machte und Ben saugte Wissenswertes in sich hinein. Er lernte und bekam erklärt, was er wissen musste, um sein Leben im Land Rongards bestehen zu können. Thanh hingegen saß noch immer an seinen Karten, stimmte diese mit den Markierungen Jariks überein und hatte sich bisher nicht weiter gezeigt, ausgenommen zu Zeiten, wo es was zu essen gab. An diesen blieb er jedoch weitestgehend stumm und beteiligte sich an keinerlei Gesprächen.
Wie versprochen und zugesagt wurde Ben nach der fünften Tageswende, an der er neben Tiron saß und sein Wissen grob zusammenfasste, überschwänglich begrüßt. »Benjamin, hey Benjamin! Wir sind zurück.«
Yaeko nährte sich dem Lagerbereich der Jäger, sein Pferd führend auf ihn zu, um ihn per Handschlag zu begrüßen. Er ließ sein Pferd frei laufen und setzte sich zu ihnen. »Ich soll dir von Fendrik ausrichten, dass er direkt auf dem Weg zu seinem Bruder ist.« Leiser fügte er hinzu: »Er hat einen kleinen Umweg genommen, um die Männer fernab der Siedlung zur Schlucht zu führen.«
»Habt ihr es geschafft? Sind wirklich alle gekommen?«
»Aber ja. Fendrik hat sich mehr als nur bemüht, die Leute auszusuchen. Er ist ein guter Mann, nur leider zu sehr unter der Knute seines Bruders.«
Stirnrunzelnd sah Ben ihm in die Augen, hinterfragte die gegebene Äußerung und erfuhr, dass Jarik sich als dessen Beschützer fühlte, und so seinem jüngeren Bruder im Tatendrang einschränkte. Die Aufgabe ihn auszusenden, um nach geeigneten Männern Ausschau zu halten, hatte ihn aus dessen Schatten gestellt und erwiesen, dass er eigene durchaus führen könne.
»Du stehst ihm sehr Nahe, habe ich recht?«
»Er ist mein Freund, Benjamin. Klar, Jarik ist ein guter Anführer – aber er unterdrückt ihn. Ich bin mir sicher, er tut es unbewusst aber es fällt auf und das nicht nur mir.«
»Danke für den Hinweis, ich werde daran denken, und versuchen die beiden etwas voneinander getrennt zu halten.«
»Wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen, konntest alles in Erfahrung bringen, was du wissen wolltest? Wie laufen die Dinge hier, wie steht‘s um Jarik und Eric?«
»Meine Wissensbegierde konnte ich durchaus stillen, was die beiden anderen anbelangt ... ich hab keinen Schimmer. Ich habe sie seit eurem Aufbruch nur selten gesehen und nicht weiter mit ihnen geredet. Willst du mich zur Schlucht begleiten?«
»Klar, lass uns los. Ich warte am Rand der Siedlung auf dich, da drüben neben dem Anger.«
»Gut, ich hole noch Jariks Stute.«
Wieso überhaupt, hat sie keinen Namen? Seltsam, dass mir das erst jetzt auffällt. Ich muss mit Jarik darüber reden.
Ben verabschiedete und bedankte sich bei Tiron, ging hinüber zu den angebundenen Pferden und fand die Gesuchte fast auf Anhieb. Dafür, dass diese reichlich ungestüm sein solle, verhielt sie sich ihm gegenüber äußerst handzahm. So betrachtet, ein stattliches Tier mit dem beschriebenen Temperament eines stolzen Rosses. Kräftiger gebaut als viele der übrigen seiner Art und höher gewachsen. Scheinbar ein Wurf aus den wilden Herden, die weiter oben im Norden leben sollten. Mit ihrer kastanienbraunen Färbung und einer weißlichen Blässe, eine verdammt Hübsche.
Ben streichelte die Stute sanft mit der ausgestreckten Rechten, beginnend an den Nüstern über die rechte Flanke über ihren Schweif und auf der linken Flanke zurück zu den Nüstern. Beim Betrachten ihres Kopfes fiel sein Blick irritierend auf ihre Blässe, so als sähe er diese zum ersten Mal. Sie war eigenartig gewachsen, nicht schlicht von oben nach unten gezeichnet oder als Stern – sie war geschwungen, ganz so, als wolle sie ein Symbol gleichen. Mit den Fingern zeichnete er die Form nach und vertiefte sich in Gedanken – sein Schwert. Die Parierstange geformt zu zwei Pferdeköpfen, die sich gegenüberstehend ansahen. Nicht so detailreich, aber mit ein wenig Fantasie durchaus erkennbar.
Hallo meine Schöne. Soll mir deine Blesse ein Zeichen geben?
Ben trat etwas seitlich der Stute, legte seinen rechten Arm um ihren Kopf, schmiegte sich mit dem seinen an den ihren und flüsterte ihr zu. »Ich werde Jarik bitten, dich mir zu überlassen. Ich möchte dich behalten, er kann mit dir eh nichts anfangen.« Wie als habe es die Worte verstanden, schnaubte sie und wippte mit dem Kopf auf und ab.
Hinter ihm nährte sich ein Reiter, der ohne Umschweife direkt auf ihn zuhielt und im fröhlich zurief. »Mach schon Benjamin, zum Träumen sind die Nächte gedacht.«
»Ich komme ja schon, war grad nur etwas in Gedanken.«
Yaeko lachte unverhalten und beugte sich vor. »Das hab‘ ich gesehen, hast dich wohl in die Zicke da verliebt was?«
»Sie ist keine Zicke, nur wählerisch was ihren Reiter anbelangt. Komm lass uns los«, erwiderte Ben gut gelaunt und mit einem zwinkernden Auge. Er warf ihr eine abgewetzte Reitdecke über.
»Ohne Sattel? Du bist doch echt Irre, Mann.«
»Lass nur, wird schon gehen, ich vertraue Artemis.«
Yaeko, nun vollends im Lachrausch brachte Umherstehende dazu, ihnen einen verwunderten Blick zuzuwerfen. Fragend, was sich da wohl zwischen den beiden ereignen würde. Er schluchzte beim Reden. »Ach herrje, nun hast du ihr auch noch einen Namen verpasst. Weiß Jarik bereits von seinem Verlust? Und was bitte ist das für ein seltsames Wort, was bedeutet es?«
»Artemis? Der Name stammt von einer damalig angebetenen Gottheit aus meiner Welt. Sie war die Göttin der Jagd und zumeist auf Kriegsfuß mit den Männern. Passt doch oder?«
Yaeko schüttelte den Kopf. »Nun komm schon, bevor ich noch Pferd falle. Artemis. Naja, ich weiß ja nicht.«