Wohin das Auge reichte, egal ob zur rechten oder zur linken Seite. Ebenso weit voraus - Bäume. Den Reitern bot sich nichts anderes als ein riesiger scheinbar undurchdringlicher Wald und hinter ihnen das karge triste Gestein der Berge. Sie trabten unvermittelt vorwärts, den Pass wie auch den ausladenden Gebirgskamm im Rücken. Währenddessen sie so durchs Gelände streiften, erklärte Jarik ihrem Neuling das Umland.
»Wir befinden uns jetzt in unserer Heimatmark, der Middellande. Sie ist die größte aller Marken im Land, welches sich bis hinunter zum großen Strom erstreckt, den Brinn. Flankiert wir Middellande von den Marken Nord- und Südfluss als auch Brinlah und Bregeran. Hinter uns der naturgemäße Grenzverlauf die Bergreihen des Brehin, deren Ausläufer noch weit hinter Nordfluss auszumachen sind. Die Gebirgszüge umschließen Bregeran im Nordwesten und bilden ebenso eine gewachsene Grenze in Südfluss. Außerdem befindet sich noch die Mark Brinlah zwischen Süd- und Nordfluss, der diese drei Marken als auch unserem ehemaligen Reich als Grenzverlauf dient.«
Ben hörte interessiert zu und betrachtete das Gelände aufmerksam um die ungewohnten Eindrücke in sich aufzunehmen. »Wenn die Marken im Zwist mit dieser einfallenden Brut liegen, aus welchem Grund stellen diese nicht ein gemeinsames Heer und vertreiben sie? Und ...« Ben drehte sich im Sattel und schaute angespannt zurück zum Pass. »... weshalb kann ich den Zugang des Passes nicht mehr sehen? Wir sind doch noch nicht allzu weit davon entfernt?«
Jarik drehte sich ebenso im Sattel herum und deutete Ben mit der Hand zum Gebirge. »Wenn Du den Bergverlauf von rechts nach links verfolgst und den Vorsprung etwa mittig genau betrachtest, siehst du einen farblichen Unterschied. Der Pass biegt leicht ein und die hohen Felswände vermitteln dadurch einen unpassierbaren Eindruck. Hinzu kommt von hier aus betrachtet, der enge Baumbewuchs. Obwohl, auch von der Lichtung vor dem Pass, wirst Du diesen wohl kaum als das ausmachen, was er zu sein scheint. Dass sich dahinter alte Magie verbirgt, vermag ich nicht auszuschließen.«
»Nur wenige verlaufen sich so hoch in die nördlichen Gebiete der Mark, seltener noch jene der Brut. Unsere Siedler versuchen beisammenzubleiben und entfernen sich nie weiter als Sichtweite zur Heimstadt, es sei denn zu mehreren, um mit Nachbarsiedlungen zu handeln«, erklärte ein anderer, den Jarik ihm vor einiger Zeit als Yaeko vorstellte.
Streng betrachtet, unter der eben erhaltenen Beschreibung des Geländeverlaufes, leuchtete die Unbekanntheit des Passes durchaus ein. Sie ritten durch üppig ausgedehnte Wald- und Wiesenflächen, ohne dass Aufregendes geschah. Vereinzelt erspähte Ben Unebenheiten im Gelände. Unförmig hervorstechende Skelette, mitten in der gähnenden Fläche einer Lichtung. Er schaute sich interessiert um und erkannte eher zufallsbedingt den Zusammenhalt derer. Es waren Mauern, oder vielmehr das, was von ihnen seit jener verhängnisvollen Zeit übrig blieb. Es musste ein Dorf oder gar eine Stadt gewesen sein.
»Ich erahne, woran Du gerade denkst. Zu damaliger Zeit gab es vieler solcher kleineren Ansiedlungen. Manche waren nur schlichte Weiler mit wenigen Bewohnern, andere jedoch wohl belebte Dörfer. Fast schon kleine Städte. Erzählungen nach soll sich an dieser Stelle ein Handelsposten befunden haben, der Waren aus den Flussmarken verarbeit und weiter verkaufte. Du kannst hier eindrucksvoll erkennen, was uns geblieben ist«, erklärte Eric mit belegter Stimme und zeigte in eine ferne Richtung. »Dort vorn. Wenn du genau hinsiehst. Dort im Einschnitt der Bäume verlief früher einmal ein mit Steinplatten ausgelegter Weg – die alte Handelsstraße. Heutzutage wirst du, wenn überhaupt, nur noch gesprungene Reste finden oder vielleicht auch das eine oder andere verwitterte Wegekreuz.«
Über ihnen hinwegfliegende Schwingen rissen Ben aus trübseligen Gedanken, die ihn dieser und ähnliche Plätze vermittelten. In der Ferne konnte man undeutlich Ansammlungen von Zelten erkennen und Jarik erklärte, dass es eine Vielzahl solcher Orte gäbe, wo sich die verängstigten Menschen zusammenfanden. Manche, so wie hier in der Nähe ihrer Ahnen.
Schweigend ritten sie weiter; vorbei an Bächen, ohne ein offenkundiges Ziel zu verfolgen, als ihm ein seltsamer stechender Geruch in die Nase wehte. Ein Hauch von Lagerfeuer vermischt mit etwas Modrigem oder eher Verfaultem. Scheinbar zeitgleich legte Jarik eine Hand auf Bens Unterarm. Er mahnte leise aber durchdringend zur Ruhe. »Brut«, zischte er durch zusammengebissenen Zähnen hervor.
Weitestgehend lautlos schwangen sich alle aus den Sätteln, führten ihre Pferde hinter eine Baumreihe rechter Hand und banden sie dort an.
»Was machen wir jetzt Jarik, wir müssen weiter dieser Richtung, wenn wir auf direktem Wege zur Siedlung wollen oder einen Umweg einschlagen und die Patrouille umgehen.«
»Yaeko, du bist der geschickteste Kundschafter. Finde heraus, wie viele es sind.«
»Unterwegs.« Kaum das er sich auf dem Weg begab, war er auch schon nicht mehr zu sehen, geschweige denn zu hören. Der Gestank schien noch intensiver zu werden und die natürliche Geräuschkulisse, die sie bisher begleitete, war vollkommen verschwunden. Keine nistfähige Schwinge trillerte ihr Lied und kein brechender Ast von vorbeilaufendem Kleingetier war zu vernehmen, nur das aufgeregte Atmen der Gefährten und verhaltene schnauben ihrer Pferde. Auch sie spürten instinktiv die Gefahr.
»Haltet die Bögen parat. Benjamin, an meinem Sattel – nimm das Schwert. Es bleibt keine Zeit deines heraus zu wühlen. Sobald Yaeko zurück ist und sich ein Überfall lohnt, bekommen diese Bestien, was sie verdienen. Wir versuchen sie mit der ersten Salve zu erlegen. Sollte dennoch einer durchkommen, bist du am Zuge. Geh!«, drängte Jarik und schob ihn voran.
Albtraumhafte Viecher und ausgerechnet ich soll mit einem dieser kämpfen? Verflucht, wo bin ich nur rein geraten.
Die genannte Klinge war schnell gefunden und ähnelte allem anderen als einem natürlichen. Ben war zwar reichlich mit der Fantasiewelt vertraut, aber ein derartiges Schwert hatte er weder gesehen noch kannte er derlei Art. Ein Einhänder in geschwungener Form, ähnlich einem seichten ›S‹. Der Griff nahm etwa die Hälfte der gesamten Waffe ein, sodass wuchtige Schläge auch mit beiden Händen geführt werden konnten, und endete vor der eigentlichen Klinge in einem rückführenden Dorn. Der Sinn und Zweck dessen blieb ihm vornehmlich verborgen. Die Klinge, schlank und einseitig geschliffen schien mit flüchtigem Blick rasiermesserscharf. Bei näherer Betrachtung ließen sich auf der Schneide verschiedene unleserliche Zeichen sowie geschwungene Formen erkennen, sodass diese in der Gesamtheit einer Wellenführung glich. Die Waffe lag zudem angenehm in der Hand, wurde fantastisch ausbalanciert und wog nur einen Bruchteil seines Breitschwertes. Ben vollführte mit der Klinge kurzerhand das Zeichen der Unendlichkeit in der Luft und schwang es aus dem Handgelenk im Kreis.
Hoffentlich taugt es was – wenn auch nur, um meine eigene Haut zu retten.
Jarik deutete den Blick wohl korrekt und flüsterte eine passende Erklärung. »Dieses Schwert wird Mithrodin genannt und wird schneiden, was andere nicht zu schneiden vermögen. Mach dir darüber keine unbegründeten Sorgen. Und ja, es wird halten.«
Fendrik klopfte seinem Bruder auf die Schulter, um seine Aufmerksamkeit gewahr zu werden. »Da, Yaeko kommt zurück.«
Beflissen sprang dieser in die Deckung und stützte sich beim Hinhocken auf seine linke Hand. »Ich zähle Fünf. Sie lagern mit Beutegut und zwei Gefangenen um ein Lagerfeuer herum. Was machen wir? Fünf weniger, die uns Ärger bereiten könnten«, erklärte er mit einem verschmitzten Lächeln und zustimmenden Gemurmel der anderen, das unmissverständlich zum Ausdruck brachte, dass die neuen Kameraden Blut sehen wollten. Blut dieser Brut, was sich auch immer dahinter verbarg.
»Auf Eure Posten. Benjamin bleibt an meiner Seite.« Als sich die Übrigen anschickten zu gehen, wandte sich Jarik an Ben. »Ich weiß nicht, ob du in deiner Welt jemals zu töten brauchtest, um dich oder deine Lieben zu schützen. In unserer jedoch, nutzen wir jede Chance, um eben dies zu tun.«
Eindringende Blicke richteten sich auf ihn, als er widerwillig mit einem wiederstrebenden »Verstanden« antwortete. Insgeheim wünschte er sich sofort aufzuwachen und schluckte den schweren Kloß, der sich ihm im Halse bildete hinunter. Nur Augenblicke später verteilte sich die Gruppe und nährte sich dem erspähten Lager. Wie beschrieben hockten dort fünf dieser abscheulichen Wesen. Grobschlächtig, mit verabscheuungswürdigen eingefallenen fahlen Köpfen, bei denen eine flache Schweinsnase das Zentrum formte. Aus ihren Mäulern wuchsen Hauer und blutunterlaufene Augen blickten gierig drein. Mit angewinkelten Beinen saßen sie wie übergroße Hunde da und ihre Arme endeten in krallenbewehrte Pranken.
Rund um ein unordentlich geschichtetes Feuer hockten und rissen diese Wesen ekelerregend an einem ausgeweideten Tier. Die Innereien und abgenagten Überreste dessen lagen überall verstreut umher. Heerscharen von Schmeißfliegen summten drum herum.
Sie schoben sich bluttriefende Stücke in ihre gierigen Mäuler und gaben kehliges Gemurmel von sich, welche sich als gesprochene Worte herausstellten.
Jarik rutschte dicht an Ben heran, der angewidert die Szene beobachtete und anfing zu schwitzen. »Widerwärtig diese Gouwors nicht?«
»Gouwors? Nicht Brut?«, fragte Ben flüsternd mit belegter Stimme. Der Anblick ging ihm sichtlich nahe.
»Ja, wir nennen sie Brut, weil sie nicht geboren werden. Ich erklär‘s dir später.«
Hinter jenen Wesen verharrten zwei Gefesselte und starrten unentwegt zu den fressenden Bestien hinüber. Bis auf die von den besagten hervorgerufenen Geräuschen blieb der Wald beängstigend still, bis urplötzlich pfeifende Geschosse auf die grunzenden Biester niedergingen. Jarik gab das Zeichen und nun zählte es. Ben war mittendrin und weigerte sich zu glauben, was er sah. Sechs Jäger, sechs abgeschossene Pfeile auf fünf lagernde Kreaturen. Drei von ihnen erlagen prompt durch saubere Treffer in die Zentren ihrer hässlichen Schädel. Ein weiterer wurde von hinten im Nacken getroffen, dieser Pfeil sollte demnach sein Genick durchtrennen. Brüllend vor Wut versuchte dieser, das noch vibrierende Geschoss aus seinem Hals zu zerren, bis ihn ein weiteres, getroffen mittig zwischen die Augen, von den klobigen Füßen warf. Die zuvor panisch zerrende Hand erschlaffte und viel leblos zu Boden.
Der Fünfte von ihnen blieb jedoch verschont und rannte direkt auf Jarik und Bens Deckung zu. Beim Vorbeilaufen seiner bereits gefallenen Kumpane schmiss dieser sein noch in den Pranken haltendes Stück Fleisch achtlos zur Seite. Es hob und senkte seine überproportional muskulösen Arme wiederholt kreuzweise vor der Brust.
Nicht nur die mörderischen Klauen, mit diesen verflucht scharf aussehenden Krallen erschraken Ben, es waren mehr dessen Unterarme. Auf der gesamten Länge quälte sich ein längliches Etwas durch die fahle Haut und endet in einem äußerst spitzen Dorn. Eine Art Knochen, geformt und zulaufend wie eine einseitig geschliffene Klinge.
Der Ablauf, beginnend mit dem Pfeifen des ersten abgeschossenen Pfeiles und dem ihm zueilenden Monster verlief seines Erachtens in Zeitlupe. Donnernde Befehle, umhersirrende Geschosse und ein Jarik, dessen Augen sich erschrocken weiteten und wild mit den Händen gestikulierte. Ben überkam, so abwegig dies Erscheinen mag, eine innere Ruhe, obwohl ihm die Gestiken Jariks eindeutig vom Gegenteil überzeugen wollten. Es war schier seltsam aber stets so gewesen. Immer dann, wenn es darauf ankam, übernahm sein Innerstes. Gefühl, Instinkt sogar seine antrainierten Abläufe.
Aus dem Augenwinkel erregten Bens Aufmerksamkeit zweierlei Bewegungen aus unterschiedlicher Richtung stammend. Diese konnten aufgrund der springenden Art und Weise sich fortzubewegen nicht von denen seiner Begleiter stammen. Von vorn und nun auch seitlich wurde er bedrängt.