Es war wie erwartet und seitens Goram vorzeitig prophezeit. Der Schnee fiel in dichten Flocken und wurde von Tageswende zu Tageswende stetiger. Auch die bereits vorab niedrigen Temperaturen fielen weiter und so mussten mehr als angenommen, die Zeltstadt räumen und das Angebot der Naïns annehmen. Jene, die noch auf den zugänglichen Baustellen arbeiteten, hatten sich in unmittelbarer Nähe zu diesen einquartiert.
Die Jahreswende neigte sich dem Ende und seit beinahe sechs Monden durften die Menschen endlich in Frieden leben, trotz ansträngender zu verrichtender Tätigkeiten. Ausschließlich ihrem Ehrgeiz und den handwerklich begabten Naïns wie deren Baukunst, war es zu verdanken, dass sie überhaupt so weit gekommen waren. In Verbundenheit mit ihren neuen alten Bündnispartnern, die sie infolge ihrer steten Zusammenarbeit und Zusammenlebens allgemein als Freunde bezeichneten, durften und konnten sie so mehrere anstrengende Jahreswenden des Bauens einsparen.
Im Inneren der Burganlage wanderte ein Mann, neben dem zugeschneiten Brunnen, wiederholt und einsam auf und ab. Er ruderte mit den Armen und umschlang immer wieder seinen Oberkörper, um sich ansatzweise warmzuhalten. Es war weit nach Sonnenhoch und die fleißigen Männer, die selbst zu diesen widrigen Temperaturen und Witterungsumständen ihrem Bauhandwerk nachgingen, saßen im Warmen und bedienten sich gereichten Mahles – Kräuteraufguss und fettiges Fleisch.
»Ben, da unten schlendert seit einiger Zeit jemand umher. Erwartest du Besuch?«
Angesprochener sah mit erhobener linker Braue, von seinen Notizen auf. Er legte die Schreibfeder achselzuckend neben dem Farbfässchen ab. »Kannst du erkennen, wer es ist?«
»Nein, so klar diese, wie nannte Goram dieses durchsichtige Ding ... Kristallscheibe? ... auch sein mögen, die frostige Luft draußen zaubert immer wieder Eisblumen darauf.«
Lerina führte ihren ausgestreckten Zeigefinger an die große Scheibe, die ihnen ein kundiger Naïnmeister geschliffen hatte, und rieb ein Loch frei. »So kalt es auch ist, diese Eisblumen sind wunderschön.«
Ben grummelte und erhob sich von seinem, mit Schnitzereien verschönerten, Stuhl. Er begab sich zu Lerina, legte ihr liebevoll die Hände an die Hüften und schob sie sanft zur Seite. »Darf ich mal sehen, gute Frau?«
Sie quiekte gespielt empört auf. »Oh. Aber selbstverständlich der Herr.«
Beide blickten sich vergnügt an. »Auch wenn die Freundschaft zwischen meinem Vater und dir uns gewissermaßen bindet, sind wir dennoch nicht verbunden. Also Vorsicht mein Herr.«
»Verzeiht, wenn ich euch zu nahe getreten bin«, erwiderte Ben grinsend mit förmlichem Kopfnicken und versuchte einen Blick aus dem Fenster zu erhaschen. Da er wie zuvor Lerina auch, nichts Genaueres zu erkennen vermochte, öffnete er dies kurzerhand. Er schob seinen Kopf hinaus, um festzustellen, ob er den Wanderer kannte. Es klopfte an der Tür und einer der stehenden Wacht erschien in dem sich öffnendem Türspalt.
»Mein Fürst. Der gute Herr Halis bittet um ein Gespräch. Darf er vortreten?«
»Ist er das dort unten? Der, der dort unten seit einiger Zeit schlottert vor Kälte?«
»Ja, Herr. Er traut sich nicht ohne Erlaubnis vor.«
»Sein Gewissen nagt tief in ihm«, warf Lerina ein.
»Er soll eintreten«, ordnete Ben an.
»Ich bin gespannt, was er vorzutragen hat«, wandte er sich an Lerina.
»Sei nicht zu streng mit ihm.« Sie streichelte mit ihrer Hand seine Wange entlang, schenkte ihm einen liebreizenden Liedaufschlag, einen gehauchten Kuss und verließ die Amtsstube durch die hintere Tür, die in Privatgemächer führte und von dort hinterrücks in hinterliegende Burgbereiche. Ben sperrte das Fenster zu und lehnte sich rücklings an. Er grinste und sah ihren anmutigen Bewegungen hinterher, bis die sich schließende Tür den Blick versperrte. Kurz darauf klopfte es erneut und die Wache meldete den Gesuchenden. Dieser trat hinter dem Posten ein und verneigte sich.
»Danke das ihr mich empfangt, Herr.«
»Guter Herr Halis.« Ben nickte seinem eigennützigen Hofschmied kurz angebunden zu und bedeutete ihm, auf einem, der vor dem Tisch platzierten Stühle Platz zu nehmen. Der Ton wie auch die förmliche Anrede vielen dem Schmied sofort auf, hütet sich jedoch jeglichen Kommentars.
»Was verschafft mir die Ehre?«
»Herr, ich möchte mich nochmals untertänig für mein schuldhaftes Verhalten entschuldigen. Ich habe die Palisade ausbessern lassen und die Posten vor Ort erhalten aus meinen Lagern Verpflegung und wärmenden Brennstein.«
»So verspracht ihr«, bestätigte Ben und sah seinen Gegenüber gleichgültig, mit über der Tischplatte eingeschlagene Hände entgegen. »Weiter.«
»Herr, der Weiler, an dem meine Männer bauen und in kurzer Sichtweite zu jener Palisade steht, ist nahezu fertig. Aufgrund des anhaltend schlechten Wetters kommen wir leider nicht zügiger voran.«
Ben hob den Blick und setzte sich aufrecht, sein Blick einen Deut interessierter. »Wie weit seid ihr, Halis?«
»Es fehlen lediglich noch ein Material- und Werkzeuglager sowie zwei geplante Wach- oder Wehrtürme.« Der Schmied änderte seine steife Sitzhaltung. »Herr, wir können endlich den Posten der Palisade ein festes Dach und solide Wände bieten. Weiterhin haben wir genügend Wohnraum, um einigen des Volkes künftig das triste kalte Zelt zu ersparen.«
Ben erwog die Lage und schürzte die Lippen. Er beobachtete den Schmied mit verengten Augen absichtlich lange und bemerkte dessen wachsende Unruhe. Letzten Endes entspannte er sich und stand auf. Er trat um den großen Tisch herum und streckte die Hand vor. Halis sah die ihm gereichte verunsichert an, griff jedoch beim Aufstehen zu.
»Trotz eures geleisteten Eigennutz habt ihr die Lage befriedigend gemeistert. Wie ihr auf eurer Anreise unschwer bemerkt haben solltet, hat die Zeltstadt bereits ihren Bestand verloren.«
»Aber ...«
Noch bevor Halis weitersprechen konnte, hob Ben die Hand und unterband jeglichen Einwand.
»Sendet einen Boten, hinauf zur Naïnstadt und teilt den dort zurzeit wohnenden unseres Volkes mit, dass euer Weiler Unterkunft bietet.«
Halis nickte und schaute erwartungsvoll drein.
»Ihr seid entlassen Hofschmied. Reist zurück zu eurem Weiler, rafft euren Krempel zusammen und bezieht endlich eure Unterkunft in der Burg und befeuert die Schmiede«, gab Ben ihm zu verstehen und begab sich zurück an seinem Platz. Er griff zur Schreibfeder und beugte sich zu seinen Notizen, um diese erneut aufzunehmen. Bevor Halis, der seine Stellung als Hofschmied soeben zurück erhielt, die Tür erreichte, blickte Ben nochmals auf. »Auf eurer Werkbank liegen Anweisungen, die auf Erledigung warten.«
»Ich werde, noch vor ende der Tageswende damit begonnen haben, Herr. Danke.«