Nachdem der alte Mann bemerkt, dass ich nun auch mit in den Keller hinuntersteige, dreht er sich wieder um und setzt seinen Weg fortsetzt. Mit etwas Abstand folge ich ihm.
Die Stufen machen eine Kurve, dann nur zehn weitere, und ich bin endlich unten. Der Ladenbesitzer wartet bereits ungeduldig und winkt mir, ihm zu folgen.
Was für ein Chaos. Wie kann man sich hier nur zurechtfinden?
Wenigstens hat er sich mittlerweile angewöhnt, die Lichtschalter zu betätigen. Ansonsten hätte ich mir wohl schon lange einen Bruch geholt, bei den vielen Kartons, Werkzeugen und sonstiges Gerümpel, welche hier überall kreuz und quer im Weg stehen. Auch mit Beleuchtung muss ich höllisch aufpassen, nicht darüberzustolpern oder mich zu verletzen.
Schließlich hält der Alte an und beugt sich nach unten. Er greift unter ein Regal und zieht eine große massive Truhe hervor. Staub wirbelt hervor – ohne Zweifel liegt dieses Teil schon sehr lange hier unten.
Fasziniert betrachte ich die eleganten Silberverzierungen, die darauf angebracht wurden. Trotz des Drecks, der darauf liegt, sieht die Truhe sehr wertvoll aus und ist ohne Zweifel ein Einzelstück.
„Berühren Sie sie ruhig, wenn Sie möchten“, schlägt der Verkäufer mit ungewöhnlicher Freundlichkeit vor.
Ich wundere mich nur kurz über sein Verhalten. Wie magisch angezogen streiche ich fast ehrfürchtig über den Deckel und störe mich dabei nicht im Geringsten, dass meine Hände dabei voller Staub und dreckig werden.
„Sie ist wunderschön“, staune ich.
„Ja, das ist sie“, bestätigt er.
„Und fühlt sich seltsam an“. Eine eigenartige Kälte geht von ihr aus. Muss vom Keller kommen.
Obwohl – eigentlich fühlt sie sich sogar noch kühler an, als die Umgebung hier.
Seltsam.
„Nur am Anfang“, ist seine kryptische Antwort. „Helfen Sie mir jetzt damit?“
Ich sehe ihn fragend an.
„Die Truhe. Sie muss nach oben.“
So massiv sie aussieht, dürfte sie nicht gerade leicht sein. Und es wird schwer werden, sie die Treppe hochzutragen, so groß wie sie ist.
Aber zu zweit dürfte das machbar sein.
Trotzdem darf ich mein Ziel nicht aus den Augen verlieren.
„Wenn ich Ihnen helfe, zeigen Sie mir danach dann mein Kostüm?“, erkundige ich mich vorsichtig.
„Darin“, antwortet er und fängt mal wieder mit seinem eigenartigen Kichern an, „ist Ihr Kostüm.“
„Wie?“, frage ich ihn begriffsstutzig.
„Sie gehen hinten“‘, erklärt er statt einer direkten Antwort.
Ich habe nichts dagegen, diesen kleinen Schatz nach oben zu bringen. Ganz im Gegenteil.
So wunderschön.
Gedankenverloren streiche ich über die Silberbeschläge.
Nur wie sollen wir bis zur Treppe kommen, bei all dem Chaos, ohne zu stürzen? Wäre es nicht sinnvoller, erst den Weg freizuräumen?
Der Mann hat die Truhe bereits an einer Seite angehoben. Praktischerweise sind an allen vier Seiten Griffe angebracht.
„Los jetzt!“, grummelt er, nun wieder schlecht gelaunt.
Ich umfasse den Griff gegenüber. Kühl liegt das Metall – ist das Messing? – in meiner Hand. Trotzdem fühlt es sich nicht unangenehm an.
Fast so, als gehöre er genau dahin. Hier, zu mir.
Was für ein blöder Gedanke!
Ich komme aber auch nicht mehr dazu, weiter nachzugrübeln. Der Alte marschiert bereits los und mir bleibt nichts anderes übrig, ihm zu folgen, möchte ich die Truhe nicht loslassen.
Und das werde ich nicht.
Der Typ läuft erstaunlich schnell, trotz seiner Behinderung. Dazu kommt, dass unsere Last nicht gerade leicht ist.
Dies scheint dem alten Herrn jedoch nichts auszumachen. Erstaunlich, wie leicht und behände er sie durch diese Unordnung trägt, so dass ich Mühe habe, ihm zu folgen.
Wie kann er so leichtfüßig laufen? Das Teil ist schwer, da muss ich schon laut schnaufen.
Weshalb höre ich von ihm nichts? Kein Laut der Anstrengung? Das gibt es doch nicht.
Weiter erstaunt es mich, dass uns nichts passiert. Obwohl ja genug hier auf dem Boden liegt und die Sicht durch die Kiste eingeschränkt wird, kommen wir wie ein Wunder ohne Blessuren an der Treppe an. Fast als beinhalte dieser Schatz eine Magie, die dafür sorge, ihn heil aus dem Keller nach oben zu bringen.
Diese Kiste – ich muss sie haben. Ich werde versuchen, dies nicht allzu offensichtlich zu zeigen, aber ich habe ein seltsames Gefühl, was sie betrifft. So, als habe ich etwas lang Vermisstes wiedergefunden.
Zuerst aber muss sie nach oben. Raus aus diesem dunklen Gefängnis.
„Eine kurze Pause, bevor es nach oben geht“, schlägt der Mann vor, als wir die Treppe unten erreicht haben. Er ist nicht im mindesten außer Atem. Im Gegensatz zu mir. Es scheint, als machen wir diese kurze Rast, weil ICH sie brauche.
Nur sehr widerwillig lasse ich den Griff los und habe sofort das Bedürfnis, die Truhe wieder anfassen. Noch immer fühle ich den Griff in meiner Handinnenfläche; als hätte er dort für immer seinem Abdruck hinterlassen.
Mein Blick fällt auf das Gesicht des Ladenbetreibers und ich meine, ein wissendes Lächeln darin zu erkennen. Oder was auch immer.
Ich bin hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis einer Pause und dem Wunsch, den Gegenstand wieder zu berühren und nach oben zu bringen.
So bin ich gar nicht unglücklich, als sein „Weiter!“ das Ende der Pause einläutet und wir uns anschicken, die letzte Etappe anzugehen.