Schon beeindruckend. Wie ich mich so sehr in meine Rolle hineinversetzen kann.
Ich habe es in meiner Fantasie sogar gespürt. Die weiche Haut, als ich ihr meine spitzen Zähne in ihr Fleisch bohrte; die warme Flüssigkeit, die wie Samt meinen Rachen hinunterfloss – noch immer kann ich das alles irgendwie fühlen. Fast so, als seien dies keine Dinge meiner Einbildung, sondern echte Erinnerungen.
Ja, es wird mir nicht schwerfallen, als jüngster Spross der Adelsfamilie Martinelli aufzutreten.
Woher weiß ich das eigentlich?
Muss wohl der Alte erwähnt haben.
Aber um in diese Rolle glaubhaft spielen zu können, sollte ich mich wohl endlich umziehen.
Rasch greife ich daher nach der Unterwäsche.
Ja, das Material ist einfach göttlich. Ich freue mich wie ein kleines Kind in der Vorfreude auf Weihnachten. Gleich wird mich dieser Traum von einem Stoff wieder umschmeicheln und mir ein herrlich kühles Gefühl geben.
Das Anziehen der Verkleidung gestaltet sich gleich wie beim ersten Mal.
Überraschend leicht und schnell geht das vonstatten. Wieder habe ich den Eindruck, das Kostüm ‚helfe‘ mir sogar dabei. Schon nach kurzer Zeit stehe ich komplett umgezogen in meinem Schlafzimmer.
Naja, nicht ganz. In meine Schuhe werde ich hier in der Wohnung natürlich noch nicht hineinschlupfen. Auch das Säckchen mit den Zähnen und die Handschuhe liegen noch auf meinem Bett.
Es ist so wunderbar. Endlich ist die verhasste Wärme weg und die Kühle hat mich wieder.
Auf die Zähne bin ich besonders neugierig. Wie sie wohl aussehen werden?
Vorsichtig öffne ich den Beutel.
Darin befinden sich drei weitere Beutel – kleiner natürlich, und aus weißem Leder - mit verschiedenen Beschriftungen. Zwei mit „Zähne oben“ bzw. „Zähne unten“ und dem Zusatz „Achtung spitz“. Auf der dritten steht „Optional, wenn gewünscht“.
Das hat der Verkäufer nicht erwähnt. Wohl vergessen, wie es aussieht.
Weshalb dieser Aufwand? Da hätte man doch einfach Plastiktüten oder Tupper nehmen können. Auf jeden Fall wäre das einfacher und billiger gewesen.
Obwohl ich sehr neugierig auf meine ‚neuen‘ Zähne bin, drängt mich etwas, das dritte zuerst zu öffnen. Eine Überzeugung, dass ich mich vorher entscheiden muss, was diesen zusätzlichen Inhalt angeht.
Vorsichtig löse ich die dünne Kordel, die das Ganze zusammenholt und greife hinein. Ich ziehe etwas Kleines heraus, eingewickelt in einem schwarzen Tuch aus Samt.
Ich schüttle verwundert den Kopf. Was mag da drin sein, wenn man sich solche Mühe gemacht hat, es schützend zu lagern? Vor allem, wenn das nicht zwingend für die Verkleidung notwendig sein soll?
Auf jeden Fall etwas Empfindliches oder Wertvolles. Oder sogar beides.
Weshalb nur hat man da keine einfachere Verpackung gewählt?
Vorsichtig und behutsam öffne ich das Tuch. Hervor kommt eine kleine durchsichtige, gefüllte Plastiktüte.
Und bin mehr als verblüfft, als offenbar wird, was da so geschützt werden sollte.
Deshalb hat man jetzt so ein Zauber gemacht?
Wenn ich das richtig sehe, sind das einfach farbige Kontaktlinsen, oder?
Solche 0-8-15 Dinger, die man für ein paar Euro bestellen kann? In allen möglichen und unmöglichen Farben und Ausführungen? Einfach, um an Fasching oder auch – wie jetzt – etwas grusliger auszusehen?
Hastig reiße ich die Folie auf, packe sie aus und halte sie vorsichtig ins Licht. Sie sind dunkelbraun, allerdings meine ich auch so etwas wie einen schwarzen Nebel oder Rauch darin zu erkennen. Es könnte aber auch eine Täuschung sein oder das Plastik ist besonders gefertigt, so dass diese Effekte immer wieder zu sehen sind.
Dieses Braun würde zweifellos besser zu der Perücke passen als meine grünen Augen.
Trotzdem meine ich zu spüren, dass mehr dahintersteckt. Diese Linsen wirken seltsam auf mich. Es handelt sich hier um mehr als nur eine Entscheidung über eine Augenfarbe.
Wenn ich mich für sie entscheide, verschwindet Daniel Schmidt noch ein wenig mehr und mein Auftreten wird noch mehr zu Signore Martinelli. Das ist nicht zwingend notwendig – ich bin auch schon verändert genug. Es wirkt viel mehr wie das i-Tüpfelchen am Ende einer Entwicklung.
Während ich darüber nachdenke, spüre ich diese Schalen in der Hand. Auch sie sind eher kühl, allerdings lange nicht so sehr wie die Kleidung sich anfühlte. So kalt direkt auf die Pupillen wäre auch sicher nicht gut.
Etwas Verlockendes geht von ihnen aus; fast wie eine Frauenstimme, die mich verführen möchte. Mir wunderbare Komplimente macht, mich umgarnt, mir den Himmel auf Erden verspricht. Alles wird noch perfekter sein, wenn ich diese Linsen zusätzlich trage. Aber es ist mir überlassen – meine Entscheidung.
Vorsichtig berühre ich die Haftschalen. Sie sind ungewöhnlich weich und dünn.
Ich kenne mich damit jetzt nicht so aus aber sind diese normalerweise nicht härter? Ja, ich weiß, dass es da Unterschiede gibt, auch wenn ich glücklicherweise keine brauche.
Aber so zart? Oder liegt das daran, dass es sich dabei nicht um individuell angepasste mit Sehschärfenkorrektur handelt? Vielleicht sind die anders, wenn es nur um die Farbe geht.
Weiter wundert mich, dass sie sich irgendwie seltsam anfühlen. Wobei ich keine Vergleichsmöglichkeiten habe. Auch weiß ich gar nicht, aus was sie normalerweise hergestellt werden.
Abermals betrachte ich sie. Dieses dunkle Braun mit dem Schleier. Irgendwie eine unheimliche Kombination, da sich dieser bewegt, manchmal sogar ganz verschwindet. Wie macht man so etwas? Es wirkt ja fast wie etwas, das hier drin eingesperrt ist und hinaus möchte.
Diese Eingebung sollte mich eigentlich davon abhalten, sie zu tragen, bewirkt aber seltsamerweise genau das Gegenteil. Wenn sie schon ohne Träger unheimlich wirken, wie wird es erst sein, wenn ich sie mir aufsetze?
Ja, ich gebe zu, dass mir diese Vorstellung sehr gefällt – der Gedanke, dass mich die Gäste auch ein wenig fürchten, wenn ich erscheinen werde, hat etwas tief Befriedigendes an sich.
Ja, sie sollen mich fürchten. Sie sollen die Gefahr spüren, die von einem Vampir ausgeht. Keine dieser dummen Partys, bei denen sich jeder verkleidet, aber kein besonderes Ambiente aufkommt. Halloween ist doch die Zeit der bösen Geister, der dunklen Mächte, oder?
Dann sollen sie sich auch ein wenig gruseln und ängstigen.
Ich muss leicht kichern.
Verdammt, jetzt höre ich mich schon fast wie der verrückte Ladenbesitzer an. Aber dieses Bild, wie sie mich verwirrt anstarren und sich fragen werden, was aus diesem netten und braven Daniel geworden ist, hat einfach etwas Köstliches an sich.
So ist es also entschieden.
Ich gehe rüber ins Bad, damit ich genügend Licht habe, um mir die Haftschalen aufzusetzen.